Der Rezensent

Prof. Dr. Stefan Schieren, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt und Mitherausgeber von POLITIKUM.

Das streitbare Buch 4/2022

  • Dieter Grimm: Die Historiker und die Verfassung. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes. C. H. Beck: München 2022, 358 Seiten
 
Keine Darstellung zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland kann das Bundesverfassungsgericht auslassen. Sein Platz im Gefüge des Staates wie als Akteur der Politik ist ebenso unbestritten wie bedeutsam. Ohne seine Rechtsprechung wäre die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ohne Zweifel anders verlaufen. Doch die historische Zunft hat der Verfassung und der Verfassungsrechtsprechung nicht die ihrer Bedeutung entsprechende Aufmerksamkeit zukommen lassen. In den Büchern zur Geschichte der Bundesrepublik hätten „das Grundgesetz und seine Auslegung und Anwendung … eine vergleichsweise unbedeutende Rolle“ gespielt. Daran etwas zu ändern, ist Grimms ausdrückliches Anliegen (7 f.).

Die Grundlage für Grimms Analyse sind vierzehn Bücher in der jeweils aktuellen Auflage, die er in vier Gruppen einteilt: Große Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Görtemaker, Wolfrum, Conze von 1999 bis 2009), große Gesamtdarstellungen in einem umfassenderen Werk (Winkler, Wehler, U. Herbert von 2000 bis 2014), Studienliteratur (Wengst und die Neuauflage von Birke, Rödder, Heinrich-Franke von 1997 bis 2019) und Kurzdarstellungen (Recker, Wirsching, Geppert 2009 bis 2021). Die meisten Bücher enden mit der Wiedervereinigung 1990.

Die Historiker begnügten sich, so Grimm, mit dem allgemeinen Hinweis, dass das Grundgesetz eine geglückte Verfassung sei und das Bundesverfassungsgericht dabei eine wichtige und segensreiche Rolle gespielt habe. Differenzierungen und Konkretisierungen suche man vergebens (13 f.). „Da keine der Gesamtdarstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte der Bedeutung von Verfassung und Verfassungsrechtsprechung gerecht wird, muss man annehmen, dass es sich nicht um ein Problem einzelner Historiker, sondern um ein Problem der Disziplin Zeitgeschichte handelt.“ (324)

Unbestritten stellt die Verfassung eine zentrale Grundlage für das politische Leben dar. Sie weist Macht zu und begrenzt sie, regelt Machtbeziehungen und Verfahren, ist eine Verständigung darüber, wie wir in Deutschland (zusammen)leben wollen. Diese Grundlage hat sich im Verlauf der Jahrzehnte geändert, durch den Verfassungsgesetzgeber und das Verfassungsgericht. Dementsprechend sind beide selbst Gegenstand historischer Betrachtung, wie Grimm in den Kapiteln II bis VI zeigt.

Doch nicht alles, was laut Verfassung gelten sollte, hat auch gewirkt. Und was gilt, entscheidet zumeist das Bundesverfassungsgericht. Die hohe Anerkennung des Gerichts in der Öffentlichkeit und die ihm gegebene „Macht des letzten Wortes“ sichern ihm einen hohen Einfluss auf Staat und Politik. Für neun Bereiche – Medien, die sozialliberalen Reformen 1969–1982, Parteienstaat,…

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