Der Rezensent

Dr. Christian Zimmermann ist Studienrat im Hoch­schuldienst für Sozialwissenschaften und ihre Didaktik an der Univ. Siegen.

Bücher für den Politikunterricht: Das schwierige koloniale Erbe


  • Achour/Gill (Hg.): Politische Bildung und Flucht – ein Paradigmenwechsel?! Wochenschau Verlag: Frankfurt/M. 2020, 216 S.


Scharfes Denken ist schmerzhaft
In den Brechtschen Flüchtlingsgesprächen schließt Ziffel einen Dialog mit Kalle über Demokratie mit den Worten: „Scharfes Denken ist schmerzhaft. Der vernünftige Mensch vermeidet es, wo er kann. In Ländern, wo es in solchem Umfang nötig ist wie in den mir bekannten, kann man wirklich einfach nicht leben. Nicht, was ich leben heiße“. Die Suche nach einem Leben, das wert ist, es so zu nennen, veranlasst nicht erst seit 2015 eine Vielzahl von Menschen, ihre Heimatländer zu verlassen und in Deutschland Schutz und Auskommen zu suchen. Die Frage nach der Inte­gration dieser Menschen in den Arbeitsmarkt, nach ihrer Teilhabe an Bildung und Kultur und schließlich nach ihrer Rolle als Bürgerinnen und Bürger in der Demokratie wird politisch und gesellschaftlich kontrovers diskutiert. Mit dem von Sabine Achour und Thomas Gill herausgegebenen Band liegt nun ein Versuch vor, den mit Flucht und Migration verbundenen Fragen nach den Veränderungen in Politik und Gesellschaft nachzuspüren und sie in Fragen nach Aufgaben, Inhalten und Zielen politischer Bildung zu übersetzen. Die zentrale These des Bandes, die die konzeptionell orientierten Beiträge im ersten Teil des Bandes zusammenhält, besteht darin, dass das grundlegende theoretische Instrumentarium politischer Bildung, das zum Beispiel in der Zielperspektive der Mündigkeit zum Ausdruck kommt, vor dem Hintergrund von Flucht und Migration und nicht zuletzt aufgrund der Herausforderungen durch Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus neu bestimmt werden müsse. Der zweite Teil des Bandes gibt einen breit gefächerten Überblick über Projekte, die sich in integrativer Absicht an Geflüchtete, aber auch an die aufnehmende Gesellschaft richten. 

Der Band bietet im ersten Teil einen instruktiven Überblick über für das Thema relevante konzeptionelle Zugänge. Sabine Achour leistet zunächst eine differenzierte und informative Aufarbeitung des inte­grationspolitischen Status Quo und betont die Notwendigkeit des Spracherwerbs als grundlegend für alle weiteren Schritte gesellschaftlicher und politischer Integration. Diese Beobachtung ist zweifellos zutreffend. Ob jedoch für das geringe Sprachniveau der „Teilnehmenden des Integrationskurses“, von denen „nur etwa die Hälfte (…) das Zielniveau B1“ (20) erreicht, wirklich nur die didaktischen und methodischen Defizite der Kurse bzw. die geringe Professionalität der Dozierenden verantwortlich sind, würden viele der in diesen Sprachkursen lehrenden Personen sicherlich bezweifeln und auf die bisweilen mangelnde Lernbereitschaft der Teilnehmenden verweisen. Im Hinblick auf demokratietheoretische Fragen untersucht Peter Massing die Herausforderungen, mit denen sich liberale Demokratien im Kontext von Flucht und Migration konfrontiert sehen, und fordert mit Bezug auf kompetenzorientierte Modelle der politischen Bildung eine Ergänzung der einzelnen Kompetenzdimensionen um entsprechende Elemente der Globalisierung, der sich wandelnden Demokratie und Möglichkeiten politischer Teilhabe. Thomas Gill wendet sich in seinem Beitrag gegen ein Verständnis politischer Bildung, das sich als Extremismusprävention versteht, und plädiert für eine möglichst frühzeitige Anerkennung von Geflüchteten als politische Subjekte. Bereits in ihrem einleitenden Text weisen Achour und Gill zurecht kritisch darauf hin, dass die bisherige Praxis politischer Bildung, die sich an Geflüchtete richtet, durch den Fokus auf z. B. das Bestehen eines Einbürgerungstestes, für gelingende Integration viel zu spät kommt. Bernd Overwien zeigt in einem kurzen Aufriss, wie mit Hilfe von Ansätzen des Globalen Lernens die Themen Flucht und Asyl in einen politischen Bildungszusammenhang gebracht werden können. Für den schulischen Politikunterricht fordert Nicholas Henkel für beide Phasen der Lehramtsausbildung Konzepte, die den sich verändernden Bedürfnissen der Migrationsgesellschaft Rechnung tragen. Dazu sei eine passgenaue Kombination von menschenrechtssensibler Politikdidaktik, interkultureller Kompetenz und Spracherwerb unerlässlich.

Insgesamt leistet der Band einen informativen und konstruktiven Einblick in das Themenfeld Flucht, Migration und politische Bildung. Die einzelnen Beiträge bieten zudem zahlreiche inspirierende Perspektiven für die weitere Beschäftigung mit diesem Thema in Forschung und Lehre. Der vernünftige Mensch, gleich wo er herkommt, wird sich scharfen Denkens so lange nicht versagen können, bis er nicht nur als Adressat politischer Bildung erfährt, was Freiheit und Gleichheit bedeuten.

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