Der Rezensent

Dr. Peter Massing, Prof. (em.) für Sozial- kunde/Didak­tik der Politik an der FU Berlin und Heraus­geber von POLITIKUM.

Das besondere Buch 3/2022

  • Joachim Raschke: Die Erfindung der modernen Demokratie. Innovationen, Irrwege, Konsequenzen. Springer VS: Wiesbaden 2020, 678 S.

Joachim Raschke, der renommierte Parteien- und Bewegungsforscher, der auch durch vielfältige publizistische Aktivitäten öffentliche Aufmerksamkeit erzielte, hat mit diesem umfangreichen Werk das Ergebnis seines Nachdenkens über die Demokratie vorgelegt. „Die Erfindung der Demokratie“ ist vor allem ein historisch-politikwissenschaftlicher Essay, aber auch eine systematische Analyse zu der Frage, wie die moderne Demokratie „erfunden“ wurde. Sein analytischer Ansatz aus der Perspektive einer historisch informierten Politikwissenschaft nimmt drei Ebenen der Geschichte moderner Demokratie in den Blick: „Die Innovation einzelner Formelemente, wann und wo auch immer, aus denen Bausteine moderner Demokratie werden. Die Pfade insbesondere von Pionierstaaten, bei denen sich landesspezifische Innovationen mit anderen Institutionen zu einem charakteristischen Entwicklungsmuster verknüpfen. Das System moderner Demokratie, in dem sich nicht zuletzt Institutionen aus Einzelerfindungen und Erfahrungen aus landesspezifischen Pfaden durchgesetzt haben, ein System mit einem festen Kern und erheblichen Variationen“ (S. 4). Eine weitere Strukturierung, die die gesamte Arbeit durchzieht, betrifft die Bauweise moderner Demokratie aus Werten, Prinzipien und Institutionen. Im Zentrum der Studie stehen die „Fälle“ institutioneller Innovationen. Allerdings geht es nicht nur um Innovationen, sondern auch um Irrwege und Konsequenzen, die auf verschlungenen Pfaden und mit allen Brüchen und Verwerfungen zur Herausbildung der Form parlamentarischer, repräsentativer oder direkter Demokratie der Moderne führten. 

Nach der Einleitung (Teil I) präsentiert Raschke die Grundlagen der Demokratiegeschichte (Teil II) (Athenische Demokratie, Demokratiebegriff, moderne Demokratie) sowie sein Verständnis von Innovationen, Entwicklungspfaden und von Demokratie als System. Der Hauptteil des Buches (Teil III) wird durch die von ihm identifizierten „Bausteine“ moderner Demokratie strukturiert: Parlament, politische Vereinigungen, Regierung und Opposition, soziale Bewegungen, Links/Rechts-Einteilung, Parteien, Wahlen und Wahlrecht und Volksabstimmungen. Sie werden historisch minuziös nachgezeichnet. Die daraus resultierenden Fallanalysen zeigen ein Muster, bei dem die Innovationen, die die Großstaatenpioniere Großbritannien, USA, Frankreich zu Erfindung moderner Demokratie beigetragen haben, auch Grundbausteine ihrer Entwicklungswege waren. Diese Pfadabhängigkeit zeige letztlich nichts als Sonderwege, die zwar zu „einer Demokratie“, allerdings mit „vielen Gesichtern“ führten. Im abschließenden Kapitel „Die Vergangenheit auf dem Prüfstand“ resümiert Raschke, dass sich die Erfindung der modernen Demokratie aus unterschiedlichen Logiken erklärt: Situations-, Pfad- und Systemlogik. Situationslogik leite die Akteure bei der Entstehung einzelner Innovationen. Pfadlogik bezeichne die Handlungslogik nationaler Entwicklungswege, die stark von der Startkonstellation bestimmt sei und über Anschlusshandlungen vorankomme. Systemlogik sei eine systemische Handlungslogik, die aus nationalen Erfahrungen und übernationalen Einflussfaktoren fortschreitend ein Bild und eine Praxis von Demokratie entwickele, wie sie unter den Bedingungen moderner Gesellschaft funktionsfähig sei (vgl. S. 501). Diese Pfad­abhängigkeit – „Pfad“ ist für ihn eine sehr offene Kategorie mit vielen Variationen und Abweichungsmöglichkeiten – exemplifiziert er am Beispiel des Entwicklungspfades von England, Frankreich und der Schweiz (514 ff.). Zusammenfassend (Teil IV) kommt Raschke zu dem Ergebnis, dass moderne Demokratie ein Gleichgewichtssystem ist, kein System der Maximierung nur eines Wertes, eines Prinzips, oder einer Institution (S. 617). 

Das Buch Joachim Raschkes ist eine Mischung aus Essay und höchst umfangreicher systematischer Studie. Bei diesem ambitionierten Vorhaben und einem Umfang von fast 700 Seiten sowie der Detailpräzision des Werkes ist die Gefahr groß, die Übersicht zu verlieren. Von Leserinnen und Lesern wird neben Durchhaltevermögen auch höchste Aufmerksamkeit verlangt. Wer diese Disziplin aber aufbringt, findet ein spannendes und lehrreiches Buch, das neue Sichtweisen und durchaus überraschende Erkenntnisse zur Demokratie liefert.

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