Der Autor

Prof. Dr. Christian von Scheve lehrt Soziologie an der FU Berlin. Er ist Mitglied des Vorstands des Sonderforschungs­bereichs „Affective Societies“ sowie Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschafts­forschung (DIW) Berlin.

Emotionen in der Politik

Wie werden kollektive Emotionen zum Gegenstand und Instrument politischer Aushandlungsprozesse und Konflikte der Gegenwart? Welche Strategien der normativen Absicherung kollektiver Emotionen und der öffentlichkeitswirksamen (Be-)Wertung solcher Emotionen gibt es in einem sozialwissenschaftlichen Verständnis von Emotionen? Und wie konstruiert Sprache kollektive Emotionen und lässt sie zum Gegenstand aktueller politischer Konflikte werden?

Denkt man über die Konjunktur von Emotionen in der Politik nach, kommen vor allem effektvolle oder skandalträchtige Episoden in den Sinn, historische wie gegenwärtige: Willy Brandts Kniefall als Geste der Demut, Greta Thunbergs Wutrede vor den UN oder Donald Trumps Repertoire der Hassreden. Die Spannbreite dieser Beispiele deutet bereits an, dass Emotionen auf die eine oder andere Art stets Konjunktur in der Politik haben. Manche würden sagen, sie gehören zum Politischen wie das Denken in Freund-Feind-Schemas oder der Kampf um Interessen. Politik ist seit jeher versucht, Emotionen auf unterschiedliche Weise für sich nutzbar zu machen: die Emotionen der Wählerschaft als Voraussetzung und Garant des Wahlerfolgs; die eigenen Emotionen als rhetorische Elemente der Überzeugung in der politischen Rede; oder Strategien der Emotionalisierung als Mittel zur Mobilisierung von Unterstützung, innerhalb wie außerhalb des politischen Felds. 

In jüngster Zeit ist verstärkt eine politische Perspektive auf Emotionen in den Vordergrund gerückt, die lange Zeit eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat: nämlich Politik nicht nur als Ringen um das bessere Argument oder die resonanzfähigere Ideologie zu begreifen, sondern als einen Kampf um die Gefühle und Emotionen der Bürgerinnen und Bürger. Das ist an sich nichts Neues, gilt doch ein Sensorium für die in einer Gesellschaft – vermeintlich – vorherrschenden Stimmungen und Gefühle als wichtige Voraussetzung für politischen Erfolg. Gleiches gilt für die Fähigkeit, auf diese Gefühle einzuwirken, sie zu bewerten, zu lenken, zu kontrollieren und zu regieren. Die Deutungshoheit oder gar Vorherrschaft über die Emotionen der Wählerschaft bzw. Teile der Wählerschaft zu gewinnen, erscheint vielversprechend: sie dienen als soziales Klassifikations- und Distinktionsmerkmal, erzeugen Zugehörigkeit und Abgrenzung, motivieren Widerstand und den Wunsch nach Veränderung, treiben zu Aufruhr und Umsturz an, sichern aber ebenso Ruhe und Gelassenheit sowie Gehorsam und Untertänigkeit. 

Seit Kurzem ist dabei vor allem eine in besonderem Maße konflikthafte Strategie in den Vordergrund getreten, nämlich Emotionen öffentlichkeitswirksam anhand politischer Kriterien zu bewerten, sie normativ abzusichern und zu sanktionieren und sie zu – oft antagonistischen – Emotionsregimes zu verdichten. Damit vollzieht sich zumeist auch ein besonders für sozialwissenschaftliche Erkenntnisinteressen relevanter Perspektivwechsel. Emotionen werden nicht mehr nur als individuelle, sondern vor allem auch als kollektive Phänomene relevant. Es geht nicht mehr nur um die Emotionen Einzelner, sondern einerseits darum, wie Emotionen überhaupt in sozialen und politischen Kontexten entstehen, welche sozialen Regelmäßigkeiten sie aufweisen, und andererseits darum, wie sie zu kollektiven Emotionen werden, zu Emotionen also, die wir Gruppen, Gemeinschaften und ganzen Gesellschaften – zumeist in wertender Absicht – zuschreiben. Auf diese beiden Merkmale von Emotionen in politischen Kontexten konzentriert sich dieser Beitrag. Ich werde zunächst einige Vorbemerkungen zum Emotionsbegriff machen und dann näher die Besonderheiten von kollektiven Emotionen diskutieren und wie diese in politischen Kontexten Bedeutung erlangen. Anschließend werde ich kurz auf Fragen eingehen, wie Emotionen in solchen Kontexten normativ abgesichert werden, welche Kriterien für die Angemessenheit oder Unangemessenheit von Emotionen dabei ins Feld geführt werden und welche politischen Konfliktlinien damit verbunden sind. 

Was sind Emotionen? 
Obgleich Emotionen in der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung ein umstrittenes Konzept bleiben, lassen sich trotz aller Differenzen einige Kriterien benennen, über die weitgehend Einigkeit herrscht (vgl. von Scheve/Slaby 2019). Emotionen können als körperlich-affektive Regungen oder Bewegtheiten verstanden werden, die intentional auf bestimmte Objekte oder Situationen gerichtet sind. Im Fall von Emotionen sind solche Bewegtheiten entlang kultureller Klassifikationsweisen verortet, linguistisch kategorisiert sowie mit entsprechenden Emotionswörtern versehen, zum Beispiel Furcht, Ärger, Zorn, Freude oder Angst. Emotionen als auf diese Weise kategorisierte affektive Bewegtheiten spiegeln somit kulturell und historisch spezifische, prototypische evaluative Weltbezüge wider: etwa den Bezug einer Gefahr im Fall von Furcht, der sozialen Herabsetzung im Fall von Empörung oder des Verlusts im Fall von Trauer. Wichtig ist, dass solche sprachlich-kulturellen Verortungen nicht lediglich einer Emotion „nachgelagerte“ Benennungen sind, sondern zentral für das Empfinden einer Emotion selbst. Das Gefühl, das wir in einer Situation der Ungewissheit erleben, fühlt sich unter anderem deshalb auf eine bestimmte Art und Weise an, weil wir es mit dem Begriff der „Angst“ benennen und so mit einer spezifischen kulturellen Bedeutung versehen. Sprachliche Klassifikationsweisen verbinden die gesamte Bandbreite der historisch-kulturellen Bedeutung spezifischer Emotionen mit dem Erleben einer Emotion. 

Damit sind Emotionen als genuin relationale Phänomene zu verstehen. Sie sind nicht einfach idiosynkratische psychische Regungen im „Innern“ eines Menschen, sondern kognitive und affektive Vorgänge, die eine Relation herstellen (bzw. sie anzeigen) zwischen Personen und dem, was für Personen bedeutsam ist. Furcht ist eine affektive Bewegtheit im Zusammenspiel mit einer Einschätzung der Gefährdung von Dingen, die für eine Person von Bedeutung sind. Ärger ist ein Beispiel für eine Relation, die aus der Verletzung oder Herabsetzung relevanter Größen resultiert. Solche kognitiven Einschätzungen lassen sich in ihrem Zusammenspiel mit Emotionen noch deutlich umfassender spezifizieren, etwa hinsichtlich der Wahrnehmung des eigenen Handlungsspielraums oder der Neuheit eines Ereignisses. 

Dieses Verständnis impliziert eine Reihe weiterer Annahmen über die Qualität von Emotionen. In aller Regel gehen sie mit einem bestimmten phänomenalen Gefühlsempfinden einher. Ärgerlich zu sein fühlt sich auf eine bestimmte Art und Weise an, die sich eben unterscheidet von der Art und Weise, wie sich Trauer oder Freude anfühlen. Ob und inwiefern Gefühle als notwendige Elemente einer Emotion anzusehen sind (schließlich geht auch der in der Tür eingeklemmte Finger mit einem Gefühl einher), ist Gegenstand anhaltender Diskussionen. Ein solches Emotionsverständnis impliziert ebenfalls ihren episodischen Charakter, im Gegensatz etwa zu Stimmungen, die auf länger andauernde Gefühlslagen verweisen. Emotionen sprechen wir zumeist eine Dauer von Minuten oder Stunden, selten von Tagen zu. Zum Verständnis von Emotionen in politischen Kontexten ist zudem ihre motivationale Tendenz ausschlaggebend. Obgleich man nicht davon ausgehen kann, dass bestimmte Emotionen stets mit sehr spezifischen Handlungstendenzen einhergehen, finden sich in der Literatur gleichwohl Hinweise auf gröbere Zusammenhänge, etwa im Sinne einer Annäherungs- und Vermeidungsmotivation bei als positiv oder negativ empfundenen Emotionen. 

Emotionen lassen sich zweifelsohne bereits aus dieser individuellen Perspektive als politisch relevante Phänomene verstehen: als Elemente politischen Entscheidungshandelns, als Reaktion auf politische Programme oder als Bezugnahme auf eine politische Gemeinschaft. Für den im Folgenden näher zu diskutierenden politischen Kampf um die Emotionen der Bürgerinnen und Bürger ist jedoch eine ergänzende Sichtweise von Bedeutung, die Emotionen nicht nur als individuelle, sondern als kollektive Phänomene versteht. 

Kollektive Emotionen
Die Kollektivität von Emotionen wird in der einschlägigen Literatur unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert, wobei der „Gemeinsamkeit“ und der „körperlichen Kopräsenz“ besondere Bedeutung zukommt. In einer vergleichsweise einfachen, aber sozial doch überaus wirksamen Weise erlangen Emotionen eine kollektive Dimension aufgrund von ähnlichen und gesellschaftlich weit verbreiteten Relevanzkriterien. Menschen lassen umfassende Gemeinsamkeiten mit Blick auf diejenigen Dinge erkennen, die ihnen im Leben wichtig sind und die damit regelmäßig zum Bezugspunkt kognitiver Einschätzungen und Deutungen werden. Dazu zählen zum Beispiel Werte und Überzeugungen, Wünsche nach materiellem Wohlstand und nach psychischem Wohlergehen, ebenso wie der Erfolg des favorisierten Fußballvereins, die Wertschätzung niedriger Steuern oder die Sauberkeit des nahegelegenen Parks. Sofern Ereignisse diese weit verbreiteten Relevanzkriterien auf die eine oder andere Art berühren, lassen sich damit verbundene Emotionen als schwache Form kollektiver Emotionen verstehen. Schwach deshalb, weil die Kollektivität hier über die Gleichzeitigkeit und Gleichartigkeit der Emotionen kaum hinausgeht; oft haben Personen nicht einmal Kenntnis von den gleichartigen und gleichzeitigen Emotionen Anderer. Starke Formen kollektiver Emotionalität entstehen vor allem dann, wenn die gemeinsamen Relevanzkriterien einer sozialen Gruppe oder Gemeinschaft berührt sind. Das können gemeinsame Ziele und Handlungen sein, etwa bei einer Sportmannschaft oder einem Theaterensemble, geteilte Ansprüche und Güter, etwa innerhalb einer Familie oder eines Vereins, oder die sozialen Bande selbst, beispielsweise wenn die Existenz einer Gruppe bedroht scheint.

Neben einer solchen Unterscheidung von schwacher und starker Kollektivität kann die Kollektivität von Emotionen auch anhand des Kriteriums der physischen oder mediatisierten Kopräsenz bemessen werden, so bei Demonstrationen, politischen Kundgebungen, im Fußballstadion oder beim Musikkonzert. Nicht nur wird in diesen Situationen die Gleichzeitigkeit und Gleichartigkeit der Emotionen der Beteiligten offenbar, sondern die gemeinsame Situativität wird hier zu einem wesentlichen Element des Erlebens dieser Emotionen. Es macht einen Unterschied, ob ich mich alleine zu Hause über eine politische Entscheidung empöre – wohlwissend, dass es vielen anderen ebenso geht – oder ob ich mich gemeinsam mit vielen anderen bspw. als Teilnehmerin einer Demonstration empöre. Dies gilt gleichermaßen für schwache wie starke Formen von Kollektivität und es ist anzunehmen, dass die gemeinsam erlebte Situativität bzw. die physische oder mediatisierte Kopräsenz auch zur Bildung geteilter Relevanzkriterien beitragen und somit Übergänge von schwachen zu starken Formen emotionaler Kollektivität befördern. 

An dieser Stelle zeigt sich zudem eine wesentliche Konsequenz kollektiver Emotionen, nämlich ihre Fähigkeit, Zugehörigkeit und kollektive Identität zu stiften. So haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Demonstration nicht nur bestimmte (politische) Einstellungen und Überzeugungen gemeinsam, sondern sie ärgern, freuen oder empören sich gemeinsam, sie werden zum Teil einer „Emotionsgemeinschaft“. Kollektive Emotionen tragen folglich dazu bei, soziale Gruppen und Gemeinschaften entstehen zu lassen, bestehende soziale Formationen zu festigen und sie gegenüber anderen abzugrenzen. Das Erleben bzw. die Artikulation geteilter Emotionen wird zum Referenzpunkt kollektiver Identitäten, stiftet Zugehörigkeit und Wir-Gefühle: Wir sind die Empörten, die Ängstlichen, die Zornigen. Und wer nicht so fühlt wie wir, gehört im Zweifel nicht dazu. Damit sind Emotio­nen, und insbesondere kollektive Emotionen, in ihrem Kern politisch. Bemerkenswert dabei ist, dass der Ausdruck von Emotionen – der sich oft unwillkürlich vollzieht – sowie ihre sprachliche Artikulation dazu beitragen, dass sich Personen nicht nur der Emotionen der Anderen vergewissern, sondern mittels dieser Emotionen auch Rückschlüsse auf damit verbundene Relevanzkriterien wie bspw. Werte und Überzeugungen ziehen können. Frei nach dem Motto: „Wer so fühlt wie ich, sieht die Welt auch so wie ich.“

Kollektive Emotionen werden auf diese Weise zu wesentlichen Bezugspunkten politischer Gruppierungen und Gemeinschaften und politische Akteure haben ein Interesse daran, kollektive Emotionen entstehen oder vergehen zu lassen, sie zu lenken und zu regulieren. Einerseits ist dies erstrebenswert, weil Emotionen an und für sich handlungswirksam sind und das politische Einwirken auf Emotionen zugleich ein Einwirken auf das Handlungspotenzial einer Wählerschaft sein kann. Andererseits sind sie für politische Akteure interessant, weil sie ein soziales Distinktionsinstrument sind, sie dienen der sozialen In- wie Exklusion, sie unterscheiden zwischen Freund und Feind. Politische Akteure – dies ist in jüngster Zeit vor allem bei populistischen Parteien und Bewegungen zu beobachten – machen sich durch den Ausdruck und die Artikulation eigener Emotionen zum Teil politischer Emotionsgemeinschaften, solcher, die bereits existieren und solcher, die sich durch solche Sprechakte erst konstituieren. Das tut Angela Merkel, wenn sie ihre Freude über einen Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft kundtut, das tut der Regierende Bürgermeister Berlins, wenn er seine Bestürzung und Trauer über den Anschlag vom Breitscheidplatz äußert, und das tut PEGIDA-Gründer Lutz Bachmann, wenn er Angst vor der „Islamisierung des Abendlands“ ins Feld führt. 

Dabei ist es, zumindest vordergründig, unerheblich, ob ein Akteur oder eine soziale Gruppe besagte Emotionen tatsächlich empfindet. Die Macht der sprachlichen Benennung und die Fähigkeit, für solche Benennungen eine politische Öffentlichkeit zu erzeugen oder zu gewinnen, vermag es, vergleichsweise diffuse affektive Regungen in spezifische Emotionen zu transformieren, sie dadurch mit kultureller Bedeutung zu versehen und sie politisch aufzuladen. Sprache und Diskurs sind somit geeignet, kollektive Emotionen nicht nur zu benennen, sondern sie zu konstituieren und sozial zu konstruieren. Ob ein Ereignis Trauer und Entsetzen oder Zorn und Wut hervorruft, ist daher nicht lediglich eine Frage der Beschaffenheit des Ereignisses und der berührten Relevanzkriterien, sondern ebenso der diskursiven Benennung affektiver Bewegtheiten. Zudem zielen politische Diskurse auch darauf ab, angesichts eines Ereignisses bestimmte Relevanzkriterien erst zu erzeugen oder zumindest in besonderer Weise augenfällig zu machen. Dass der Konsum von Schweinefleisch in Kindertagesstätten plötzlich zur Frage kultureller Identität wird und der Verzicht darauf Empörung auslöst, ist sicherlich nicht dem hohen Stellenwert des Schweinefleischs im Leben zahlloser Kinder geschuldet, sondern der diskursiven Konstruktion dieser Relevanz durch politische und mediale Akteure. 

Normen, Wertungen, Diskurse
Nun sind kollektive Emotionen und die Emotionsgemeinschaften, die sie zu stiften vermögen, aus mindestens zwei weiteren Gründen politisch relevant. Zum einen werden sie, wie auch individuelle Emotionen, zum Bezugspunkt sozialer Normsetzungsprozesse. Politische Akteure sind bestrebt, kollektiven Emotionen und damit bestimmten Emotionsgemeinschaften normative Geltung zu verschaffen. So geht es nicht nur um das Empfinden bestimmter Emotionen, sondern um das Empfinden sollen dieser Emotionen und damit um die Zugehörigkeit zu Emotionsgemeinschaften. Arlie Hochschild (1984) hat hierfür im Kontext Erwerbsarbeit und Entfremdung den Begriff der „Emotionsnormen“ geprägt. Wer welche Emotionen angesichts welcher Ereignisse empfinden und artikulieren soll, ist Gegenstand politischer Machtkonstellationen und Konflikte sowie gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Politische Akteure versuchen dabei nicht nur, bestimmten Emotionen normative Geltung zu verschaffen, sondern auch, sie zu „Emotionsregimes“ (Reddy 2001) zu verdichten, also zu Strukturen von Emotionsnormen, die etabliert werden, um eigene Macht- und Herrschaftsansprüche durchzusetzen. Mit Blick auf kollektive Emotionen lassen sich als Beispiele Diskussionen um eine kollektive Schuld am Holocaust, Debatten um Nationalstolz oder jüngst die Angst vor Zuwanderung und Furcht vor „Überfremdung“ anführen. Die Parole „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“ (www.zeit.de/politik/deutschland/2015-11/gauland-trittin-gegendarstellung), die auf Demonstrationen neurechter bzw. rechtsextremer Bewegungen zu hören ist, kann als illustres Beispiel gelten, beinhaltet sie doch zugleich den Aspekt der Sanktionierung. 

Bestrebungen zur sozialen Normierung von Emotionen implizieren in aller Regel auch die Wertung und Bewertung von (kollektiven) Emotionen. Der Wunsch nach normativer Absicherung bestimmter Emotionen beinhaltet zumeist auch die Wertung dieser Emotionen als angemessen oder unangemessen, wichtig oder unwichtig, als moralisch richtig oder falsch. Die wissenschaftliche, vor allem philosophische Debatte um die Bestimmbarkeit der Angemessenheit von Emotionen ist vielstimmig, hier sei daher nur kurz darauf verwiesen: Im Grunde geht es um die Frage, welche Kriterien sich anführen lassen, um die Angemessenheit oder die situative Passung einer Emotion zu bestimmen. Als Standardbeispiel muss oft der „zahnlose Hund“ herhalten, vor dem sich zu fürchten unangemessen und irrational sei (Tappolet 2016). 

Vielfach lassen sich Angemessenheitskriterien aber nicht ohne Weiteres bestimmen und Einschätzungen darüber, was gesellschaftlich bzw. politisch als bedrohlich, was als gefahrlos, hilfreich oder förderlich gilt, gehen weit auseinander und sind Gegenstand lebhafter Debatten. So wird die Angemessenheit bestimmter Emotionen im öffentlichen Diskurs regelmäßig in Frage gestellt, Emotionen und Emotionsgemeinschaften von politischen Akteuren anerkannt oder diskreditiert. Die Angst vor den Folgen des Klimawandels, die Furcht vor Zuwanderung und dem Verlust von Identität oder das Mitgefühl für Geflüchtete und Schutzsuchende sind Beispiele für kollektive Emotionen, deren Angemessenheit regelmäßig diskutiert und in Frage gestellt wird. Solche Debatten sind als politischer Kampf nicht nur um das emotionale Erleben der Bürgerinnen und Bürger zu verstehen, sondern immer auch als Kampf um Werte und Überzeugungen, um Zugehörigkeit und Abgrenzung, um kollektive Identitäten und Selbstverständnisse. 

Dabei sind es nicht nur politische Akteure, die sich an der Zuschreibung und Konstruktion sowie an der Normierung und Bewertung kollektiver Emotionen beteiligen. Auch die mediale Berichterstattung und die Wissenschaften leisten – oft leichtfertig – einen Beitrag dazu, etwa wenn ganzen Gesellschaften eine emotionale „Lage“ unterstellt wird (zum Beispiel Angst), ohne dass dafür stichhaltige Belege vorhanden wären (Lübke/Delhey 2019), oder wenn Bevölkerungsgruppen Emotionen zugeschrieben werden, deren Existenz kaum empirisch nachvollziehbar ist (zum Beispiel der „Wutbürger“). Nicht nur wird auf diese Weise mitunter politisch kalkulierten Strategien der Konstruktion kollektiver Emotionen Vorschub geleistet, sondern solche Zuschreibungen bedingen auch maßgeblich, wie Bürgerinnen und Bürger einander sehen und miteinander umgehen. Die sozialen und sprachlich-diskursiven Grundlagen politisch relevanter Emotionen weiter zu ergründen und offenzulegen, ist folglich eine der drängendsten Aufgaben gegenwärtiger sozialwissenschaftlicher Forschung.



Literatur
Hochschild, A. R. 1990: Das gekaufte Herz: die Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt/M. 

Lübke, C./Delhey, J. (Hg.) 2019: Diagnose Angstgesell­schaft? Was wir wirklich über die Gefühlslage der Menschen wissen. Bielefeld. 

Reddy, W. M. 2001: The Navigation of Feeling: A Framework for the History of Emotions. New York: Cambridge University Press. 

Tappolet, C. 2016: Emotions, Values, and Agency. New York: Oxford University Press. 

von Scheve, C./Slaby, J. 2019: Emotion, emotion concept. In: Slaby, J./von Scheve, C. (Hg.): Affective Societies – Key Concepts. New York: Routledge, S. 42 – 51.


Zitation:
von Scheve, Christian (2020). Emotionen in der Politik. Kollektivität, Normativität und Diskurs, in: POLITIKUM 1/2020, S. 4-11.

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