Der Autor

Prof. Dr. Fabian Kessl lehrt an der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt sozialpolitische Grundlagen.

Im Schatten des Wohlfahrtsstaates

Eine Gabe zu bekommen, bedeutet Abhängigkeit von den Gebenden. Tafeln, Suppenküchen oder Kleiderkammern gehören inzwischen scheinbar selbstverständlich zur Unterstützungsstruktur im Fall von Armut oder Überschuldung in Deutschland. Diesen Sachverhalt unhinterfragt stehen zu lassen, würde bedeuten, hinzunehmen, dass ein Teil der wohlfahrtsstaatlichen Armutsbekämpfung durch solche Angebote ersetzt wird. Denn tatsächlich gedeiht im Schatten des bestehenden Wohlfahrtsstaats eine eigene Form der Armutslinderung, die als „neue Mitleidsökonomie“ beschrieben werden kann: Mitleid und Gabe ersetzen den sozialrechtlichen Anspruch auf Hilfe im Notfall.

Ein wachsendes Segment der Armutslinderung „Das eigentliche Ziel der Tafelbewegung müsste die Selbstabschaffung der Tafeln sein“, so resümierte Stefan Selke bereits 2008 (2008, 216). Vier Jahre vorher, im Herbst des Jahres 2004, hatte der Soziologe damit begonnen, Tafelmitarbeiter*innen bei ihrer Arbeit zu begleiten. Tafeln, das sind Orte, an denen übrig gebliebene und gespendete Lebensmittel an Menschen in Not weitergegeben werden – unter dem Einsatz ehrenamtlich Engagierter. Die aus seinen Beobachtungen entstandene dichte Erzählung betitelte Selke, in Anlehnung an Günter Wallraffs berühmte Sozialstudie aus den 1980er Jahren, mit „Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird“. Der Autor Selke gewährt den Leser*innen in seiner Sozialreportage einen differenzierten Einblick in eine Praxis der Armutslinderung, die mit den Tafeln mitten im deutschen Wohlfahrtsstaat neu etabliert wurde.

Knapp 20 Jahre später hat sich diese Praxis weiter ausgebreitet. Zwar gibt es auch im Jahr 2023 noch keine offizielle Zählung der Angebote von Tafeln und keine offiziellen Informationen zur Zahl der bundesdeutschen Suppenküchen, Kleiderkammern oder Sozialkaufhäuser. Doch schon vor knapp zehn Jahren war klar, wie Melanie Oechler und Tina Schröder (2015) nachgewiesen haben, dass bundesweit viele Tausend solcher Angebote der Armutslinderung existieren und diese für viele Menschen längst eine alltägliche Überlebenshilfe darstellen. Erste bundesweite Analysen zeigen inzwischen, dass allein die Tafeln 2020 von über einer Million Personen genutzt wurden, also von mehr als einem Prozent der Menschen in deutschen Privathaushalten. Das ist der Befund einer Auswertung von Daten aus dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) durch Markus Grabka und Jürgen Schupp (2022). Nutzer*innen der Tafeln sind überdurchschnittlich von Armut betroffen und beziehen sehr viel häufiger Grundsicherung als der Durchschnitt der Bundesbürger*innen. Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern und viele Sozialkaufhäuser stellen eben Angebote für Menschen in Not dar. 

Warum sich diese Angebote dennoch selbst abschaffen sollten, macht Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in einem Tweet am 16. November 2022…

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