Der Autor

Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling lehrt Politik und Wirtschaft/Politische Ökonomie an der Eberhard Karls Universität in Tübingen und ist Mitherausgeber von POLITIKUM.

Kapitalismus – Konstellationen und Konjunkturen der Kritik

Wie der Kapitalismus, so haben sich auch die Kapitalismuskritik und ihre Akteure wiederholt gewandelt. Einige Entwicklungslinien lassen sich rekonstruieren. Insgesamt jedoch stellt sich die Konstellation heute eher unübersichtlich dar.

Die Rückkehr der Kapitalismus-Diskussion
Im Unterschied zu vielen anderen Ländern – etwa Großbritannien oder die USA – war es in der Bundesrepublik Deutschland lange unüblich, vielfach verpönt, vom Kapitalismus zu sprechen. Im Kontext des Kalten Kriegs und der Systemkonkurrenz sahen viele in dem Begriff bereits den Ausdruck einer übermäßigen Politisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Stattdessen setzte sich die Rede von der „Marktwirtschaft“ oder „sozialen Marktwirtschaft“ durch. Diese Sprachverwendung war nicht einfach falsch, aber doch verengt und oberflächlich. Sie lenkte die Aufmerksamkeit auf den Tausch von Gütern und Dienstleistungen, blendete die Formen der Produktion und Reproduktion und die sozialen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die in diesen Sphären konstituiert wurden, analytisch jedoch weitgehend aus. Trotz dieser Oberflächlichkeit war die Konzeption der Marktwirtschaft sehr erfolgreich. Den Höhepunkt dieser Perspektive bildete vermutlich die von Francis Fukuyama (1989) vorgebrachte These vom „Ende der Geschichte“, gemäß der sich das westliche Modell der liberalen Demokratie und Marktwirtschaft – gleichsam alternativlos – weltweit durchsetzen werde.

Tatsächlich war diese Euphorie aber nur von kurzer Dauer. Schon bald wurde die harmonische Weltsicht des ökonomischen und politischen Liberalismus wieder fragwürdig. Die wohlfahrtsstaatlich abgeschwächten Spannungen im Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie traten im Zeichen verschärfter sozialer Ungleichheiten erneut hervor. So kehrte auch der Kapitalismus-Begriff nachdrücklich in die wissenschaftliche und öffentliche Debatte zurück. Ein wichtiger Impuls kam aus der vergleichenden Kapitalismus-Forschung. So hatte Michel Albert (1992) mit seiner Studie „Kapitalismus contra Kapitalismus“ darauf hingewiesen, dass sich die normativen Orientierungen, Organisationsformen und sozialen Implikationen des „rheinischen“ und „neo-amerikanischen“ Kapitalismusmodells deutlich unterschieden. Peter Hall und David Soskice (2001) griffen diese Differenzierung mit ihrem „Varieties of Capitalism“-Ansatz einige Zeit später auf. Sie identifizierten „liberale“ und „koordinierte“ Marktwirtschaften und verwiesen ebenfalls darauf, dass Wirtschaftssysteme nicht nur auf Marktprozessen basieren, sondern grundsätzlich immer auch auf formelle und informelle institutionelle Koordinationsmechanismen angewiesen sind, die den Typus, Charakter und auch die komparative – durch spezifische Stärken und Schwächen gekennzeichnete – Leistungsfähigkeit des jeweiligen Kapitalismusmodells bestimmen.

Ein anderer Impuls kam aus der Internationalen Politischen Ökonomie. Diese hatte sich als eine Art interdisziplinäre Integrationswissenschaft in Reaktion auf die globalen Umbrüche der 1970er und 1980er Jahre etabliert (Bieling 2011, 10 ff.). Zunächst war es darum gegangen, die wachsende Bedeutung der transnationalen Konzerne, den ökonomischen Aufholprozess Japans und Westeuropas, den mutmaßlichen Abstieg der USA und den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems sowie die Auseinandersetzungen um eine Neue Internatio­nale Arbeitsteilung zu analysieren. Dann rückten verstärkt die Prozesse der Globalisierung, der Bedeutungsgewinn der BRICS-Staaten, die spezifische Rolle der internationalisierten Finanzmärkte und die mit diesen verbundenen Krisendynamiken in den Blick. Auch in den öffentlichen Diskussionen wurden wiederholt die überhöhten Profiterwartungen, die Gier der Manager, die fortbestehende Unterentwicklung einiger Länder und Regionen sowie die verstärkte soziale Polarisierung und Prekarisierung kritisiert.

Was heißt Kapitalismus?
Nicht immer lassen sich die Formen der Kritik gut einordnen. Mal werden nur bestimmte Aspekte oder Auswüchse des Kapitalismus kritisiert, mal adressiert die Kritik die substanzielle Operationsweise des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Diese zweite Form der Kritik lässt sich zweifelsohne als kapitalismuskritisch bezeichnen. Aber auch die erstgenannte ist dann als kapitalismuskritisch einzuordnen, wenn sie davon ausgeht, dass die zu kritisierenden Aspekte oder Auswüchse nicht zufällig, sondern dem Kapitalismus inhärent sind oder durch ihn systematisch hervorgebracht werden.

Um derartige Zusammenhänge zu klären, ist es zunächst allerdings notwendig, sich der Konzeptionalisierung des Kapitalismus zuzuwenden (zum Überblick vgl. Bieling et al. 2021). Der Kapitalismus-Begriff wird zumeist mit Karl Marx in Verbindung gebracht. Allerdings ist diese Zuordnung insofern nicht ganz zutreffend, als Marx den Begriff nur sehr selten verwendete. Er sprach in der Regel von der „kapitalistischen Produktionsweise“, wenn er die Organisation der Mehrwert- bzw. Profitproduktion untersuchte und das Privateigentum an Produktionsmitteln, das System der Lohnarbeit, das Geld- und Kreditsystem und den Warentausch in den Blick nahm, und von „bürgerlicher Gesellschaft“, wenn er die über die Produktion hinausgreifenden sozialen Verkehrsformen, also auch die rechtlichen, institutionellen und ideologischen Verhältnisse, betrachtete (Marx 1985 [1859], 8 f.). Der Kapitalismus-Begriff umspannt letztlich beide Komponenten. Er verweist in der von Marx entwickelten Perspektive zudem auf wichtige Strukturelemente einer klassengespaltenen, durch zahlreiche Widersprüche und Konflikte gekennzeichneten Gesellschaft.

Dies gilt grundsätzlich auch für die Perspektive Werner Sombarts (1987 [1916/1927]), der den Kapitalismus-Begriff in die universitäre Diskussion hineingetragen hat. Sombart sieht die konkreten Organisationsformen des Kapitalismus durch die Trias von Ordnung, Geist und Technik bestimmt. Die Ordnung bezieht sich vor allem auf die marktvermittelte Klassenspaltung zwischen Produktionsmittelbesitzer*innen und Lohnarbeiter*innen; die Technik ist Medium und Ausdruck der hohen Produktivität der kapitalistischen Produktions- und Arbeitsorganisation; und der Geist des Kapitalismus oder die Wirtschaftsgesinnung kommt – im Kontrast zum vorkapitalistischen Prinzip der Bedarfsdeckung und dem nachkapitalistischen Prinzip der Versorgung – im Erwerbsprinzip, Konkurrenzprinzip und ökonomischen Rationalismus zum Tragen. Der spezifische Geist treibt – ähnlich wie bei Max Weber (2002 [1904/05]) – die kapitalistische Entwicklung maßgeblich voran. Das Erlahmen des kapitalistischen Geistes ist infolge der Verselbstständigung ökonomisch-administrativer Prozesse und der damit verbundenen Entfremdung der bürgerlichen Wirtschaftssubjekte aber auch für die nachlassende Entwicklungsdynamik verantwortlich. Zeitdiagnostisch verdichten sich die Überlegungen Sombarts in einer kulturpessimistischen Kapitalismuskritik, die später antisemitische und reaktionär-völkische Züge annimmt.

Liegt den Schriften von Marx oder Sombart ein kritisches Verständnis des Kapitalismus zugrunde, so ist der Kapitalismusbegriff bei Schumpeter (2020 [1942]) durchgreifend positiv konnotiert. Der Kapitalismus bildet für ihn ein Wirtschaftssystem, das aus sich heraus – vermittelt über die Initiative des Unternehmers und die Realisierung neuer Produkte, Produktionsmethoden, Absatzmärkte, Bezugsquellen oder Marktstrukturen – systematisch Innovationen generiert, sich gemäß dem Prinzip der „schöpferischen Zerstörung“ also permanent revolutioniert. Die revolutionäre Kraft des Kapitalismus ist auch für Marx und Sombart bedeutsam. Sie wird bei diesen – auch beim frühen Sombart – jedoch in Beziehung gesetzt zur Klassenspaltung und politischen Relevanz der „sozialen Frage“, während Schumpeter dazu neigt, das Prinzip der (unternehmerischen) Führung als quasi-natürlich anzunehmen und auf alle Gesellschaftsbereiche anzuwenden, bis hin zum elitentheoretischen Demokratieverständnis. Dies macht deutlich: Soll der Weg von der Kapitalismusanalyse zur Kapitalismuskritik beschritten werden, erfolgt dies maßgeblich durch die Thematisierung und Problematisierung kapitalistischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse, also von Formen sozialer Ungleichheit, Ausbeutung, Unterdrückung, Entmündigung und Entfremdung.

Dynamiken und Konflikte im Kapitalismus
Die kapitalistischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse haben sich historisch wiederholt gewandelt. Unterschiedliche Theoretiker*innen haben versucht, spezifische Phasen oder Stadien des Kapitalismus zu identifizieren. Stadienmodelle, die etwa mit Blick auf die Verallgemeinerung des Erwerbsprinzips im Verhältnis zum Bedarfsdeckungsprinzip oder Versorgungsprinzip – so z. B. Sombart – zwischen einem Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus differenzieren, sind geläufig, aber auch recht schematisch angelegt. Um die Besonderheiten der historischen Kapitalismuskritik zu erfassen, ist es vermutlich aufschlussreicher, sich von derartigen Stadienmodellen zu lösen und den Fokus auf die besonderen Dynamiken der kapitalistischen Akkumulation und die durch diese erzeugten Widersprüche und Konflikte zu lenken.

Was dies bedeutet, hat Kees van der Pijl (1998, 36 ff.) mit Hilfe einer sich auf Marx beziehenden Heuristik skizziert, derzufolge sich drei Dynamiken unterscheiden lassen. Die erste Dynamik ist durch die Durchsetzung und Verallgemeinerung kapitalistischer Organisationsformen charakterisiert. Maßgeblich sind die Prozesse der „ursprünglichen Akkumulation“, d. h. die Etablierung privatkapitalistischer Produktionsformen und die damit verbundene formelle Subsumption der Arbeitskraft unter das Kapital. Historisch geht es um die Prozesse der Kommerzialisierung des Wirtschaftslebens und der Proletarisierung, die auf vielfältige Widerstände stoßen. Vormals selbstständige Handwerker, Bauern und große Teile der nicht-erwerbstätigen Bevölkerung – viele Frauen und Kinder – werden der Mittel ihrer Subsistenzproduktion beraubt und aus ihren traditionellen Sozialbeziehungen herausgerissen. Die Unterwerfung unter das kapitalistische Kontrollregime kollidiert mit den gewohnten, eingeübten Rhythmen der Arbeits- und Lebensgestaltung und generiert hierdurch – etwa in Form von Sabotage, Absentismus oder Maschinenstürmerei – soziale Konflikte, die in der Verteidigung vorkapitalistischer Lebensformen oft gewaltsam ausgefochten werden. 

Die zweite Dynamik ist durch eine Intensivierung der Akkumulation gekennzeichnet. Die Arbeitskraft wird nicht mehr nur formell, sondern real dem Kapital subsumiert. Ausdruck dieser Tendenz ist eine fortwährende Optimierung der Produktion, d. h. die Entwicklung und der Einsatz immer neuer Maschinen und Techniken der Produktions- und Arbeitsorganisation. Das Kapital ist darauf bedacht, die Arbeitsproduktivität, den Profit und die Ausbeutung zu steigern, während die Beschäftigten sich in Parteien und Gewerkschaften organisieren, um verbesserte Arbeitsbedingungen – arbeits- und sozialpolitische Mindeststandards, mehr Urlaub, kürzere Arbeitszeiten und höhere Löhne – zu erkämpfen. Die sozialen Konflikte verlagern sich damit in die Fabrik. Vermittelt über diese Konflikte wird die Fabrik mehr und mehr zu einer Arena der politischen Sozialisation. Die Beschäftigten formieren sich als soziale Klasse. In den fordistisch geprägten, auf Massenproduktion und Massenkonsum basierenden Kapitalismusmodellen nach dem Zweiten Weltkrieg, gewinnen sie auch gesellschaftspolitisch an Bedeutung. 

Die dritte Dynamik besteht in einer erneut extensiven Akkumulation, d. h. der kapitalistischen Erschließung und Durchdringung der Reproduktionssphäre in Form einer „neuen“, häufig finanzkapitalistisch geprägten „Landnahme“ (Dörre 2009). Diese Dynamik hat zur Folge, dass der relative Machtgewinn der Beschäftigten wieder infrage gestellt wird. So sind mit ihr häufig eine Absenkung sozialer Schutzstandards und die Ausweitung atypischer, oftmals prekärer Beschäftigungsverhältnisse in großen Bereichen des Dienstleistungssektors verbunden. Zum anderen entstehen zugleich neue Konflikte und Formen der Politisierung, die vermehrt die Reproduktionssphäre betreffen: Durch die Liberalisierung und Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur und der sozialen Sicherungsleistungen (Post, Telekommunikation, Energieversorgung, Personenverkehr, Kindergärten, Teile des Bildungssystems, Wohnraumversorgung, medizinische Versorgung, Alterssicherung etc.) rückt die Organisation des – familiären, gemeinschaftlichen oder individuellen – Alltagslebens verstärkt ins Zen­trum politischer Auseinandersetzungen. Ähnliches gilt für die natürliche Umwelt, die eine besondere Sphäre der Reproduktion darstellt, die sich unter den Bedingungen globalisierter Wertschöpfungsketten und einer umfassenden Kommerzialisierung nur schwerlich behaupten kann. 

Die angeführten Dynamiken der Akkumulation sind nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern überlagern und verstärken sich. In bestimmten Phasen oder Konstellationen der kapitalistischen Entwicklung kommt ihnen jeweils eine unterschiedlich große Bedeutung zu. Sie bringen auch spezifische Themen, Sphären und Akteure der Kapitalismuskritik hervor. So sind die Widerstände gegen die formelle und reale Subsumption der Arbeitskraft unter das Kapital unmittelbar mit der Entstehung der Arbeiterbewegung als einer gesellschaftspolitisch einflussreichen Kraft verbunden. Die jüngeren Prozesse der internen und externen Landnahme, also der Privatisierung und Globalisierung, haben hingegen dazu geführt, dass vermehrt Fragen der gesellschaftlichen Reproduktion politisiert worden sind. Dies zeigt sich auch in neuen politischen Akteuren, vor allem den Neuen Sozialen Bewegungen, die mit ihren umwelt-, frauen-, friedens-, entwicklungs- und demokratiepolitischen Themen seit den 1970er Jahren unverkennbar an Relevanz gewonnen haben. 

Auffächerung und Transnationalisierung der Kapitalismuskritik 
Die unterschiedlichen, sich überlagernden Dynamiken der Akkumulation bringen eine Auffächerung der Kapitalismus- und Gesellschaftskritik mit sich. Dies gilt umso mehr, als die Probleme und Krisen, die durch die kapitalistische Entwicklung generiert werden, in der Öffentlichkeit unterschiedlich interpretiert und politisiert werden. Das Spektrum der sozialen Gruppen und Akteure hat sich seit den 1970er Jahren deutlich erweitert. Es ist bunter und vielfältiger geworden. Wie der Kapitalismus, so haben sich auch zahlreiche Bewegungen und NGOs globalisiert. Sie bilden diskursive Allianzen, die sich grenzüberschreitend vernetzen und in ihren Aktivitäten wechselseitig aufeinander beziehen und verstärken. Häufig geschieht dies durch öffentlichkeitswirksame Aktionen – Proteste, Demonstrationen, Streiks, Tribunale oder Foren und Konferenzen –, die anlässlich internationaler Gipfeltreffen initiiert werden: etwa der G7 oder G20, des IWF oder der Weltbank, des Europäischen Rats oder wegweisender Klimakonferenzen. 

Die globalisierungskritische Bewegung bringt die Auffächerung und Transnationalisierung der Kapitalismuskritik sehr gut zum Ausdruck. Sie stellt eine Sammelbewegung unterschiedlicher Bewegungen dar, die zum Teil stark divergierende Perspektiven, Interessen und Strategien haben. So folgen die arbeits-, umwelt-, gender-, entwicklungs- oder demokratiepolitischen Konflikte oft ganz eigenen Logiken, zu denen sich kapitalismuskritische Kräfte recht unterschiedlich verhalten können. Die Unterschiede werden dadurch verstärkt, dass einige Kräfte ihre Kritik eher reformpolitisch wenden, um den Kapitalismus sozial, ökologisch und demokratisch stärker einzuhegen, andere hingegen einen revolutionären Ansatz verfolgen und Kompromissen skeptisch gegenüberstehen. Wieder andere entziehen sich dieser Zuordnung und orientieren sich an Vorstellungen der zivilgesellschaftlichen Autonomie. Nicht zu unterschätzen sind zudem die besonderen örtlichen Kontextbedingungen und Traditionen, infolge derer sich die Problemwahrnehmungen, Kritikformen und politischen Strategien zwischen einzelnen Ländern oder Weltregionen oft erheblich unterscheiden. 

All diese Aspekte verweisen auf eine inzwischen recht ausgeprägte Heterogenität der Kapitalismuskritik (Rucht 2016, 126 ff.). Diese Heterogenität bedingt auch, dass sich viele kapitalismuskritische Akteure von einem klar fassbaren Leitbild verabschiedet haben. Um einen offenen und inklusiven Charakter sicherzustellen, ist der Slogan der globalisierungskritischen Bewegung „Eine andere Welt ist möglich“ inhaltlich unterbestimmt. Mutmaßlich liegen die Gründe für diese Offenheit oder Vagheit aber auch tiefer. Schließlich war die „alte“ Kapitalismuskritik – ungeachtet einiger Elemente der Selbstkritik – weitgehend fortschrittsoptimistisch. Sie war davon überzeugt, dass das politische Ausfechten der kapitalistisch induzierten Widersprüche und Konflikte den Weg in eine bessere Zukunft ebnet. Dieser Optimismus ist den jüngeren Formen der Kapitalismuskritik abhanden gekommen. Trotz aller Kritik ist das Vertrauen in die Bewältigung drängender politischer Zukunftsaufgaben – Friedenssicherung, sozialökologische Transformation, Demokratisierung, soziale Teilhabe etc. – nicht besonders ausgeprägt. 

Perspektiven der Kapitalismuskritik 
Vor dem Hintergrund der skizzierten Merkmale – der Heterogenität, den konkurrierenden Prioritäten oder der diffusen Zielperspektive – sind im heutigen Netzwerk kapitalismuskritischer Bewegungen gemeinsame Konzepte oder Strategien schwer identifizierbar. Jeder Versuch, übergreifende Diskussionen zu initiieren oder gar Organisationsstrukturen aufzubauen, gerät rasch in Verdacht, andere Gruppen dominieren oder vereinnahmen zu wollen. In den kapitalismuskritischen Milieus geht es entsprechend immer wieder auch darum, die Spannungen, die zwischen unterschiedlichen kapitalismuskritischen Akteuren bestehen – vor allem zwischen der sozialistisch orientierten Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung auf der einen und dem bunten Ensemble globalisierungskritischer Gruppen auf der anderen Seite –, im Sinne der wechselseitigen Reflexion und eines Lernprozesses produktiv nutzbar zu machen. Nicht wenige beziehen sich dabei auf das Konzept der „Mosaik-Linken“ (Urban 2009), das das Prinzip der Eigenständigkeit und autonomen Kooperation der Akteure anerkennt, zugleich aber auch bestrebt ist, gemeinsam Projekte zu entwickeln. 

Kraftvolle kapitalismuskritische Diskurse bilden eher die Ausnahme. Vielleicht liegt dies daran, dass das reflexive Bewusstsein der „Mosaik-Linken“ nicht ausgereift genug ist. Eine andere Erklärung wäre, dass die relativ dichte und umfassende Kontrolle des – medial strukturierten – öffentlichen Diskursraumes durch prokapitalistische Kräfte derartige Optionen nicht oder nur sehr begrenzt zulässt. Nicht zu unterschätzen ist aber auch, dass die Kapitalismuskritik in der Vergangenheit erfolgreicher war, als dies heute vielen bewusst ist. Tatsächlich sind dem Kapitalismus auf dem Wege der Kritik zahlreiche systemfremde Elemente implementiert worden – von den sozialen Infrastrukturen über die wohlfahrtsstaatlichen Systeme bis hin zu den demokratischen Mitsprache- und Kontrollmöglichkeiten –, die ihn, allerdings keineswegs für alle, erträglich oder sogar lebenswert machen. Solche Prozesse werden häufig als Beleg für die Wandelbarkeit und Absorptionsfähigkeit des Kapitalismus betrachtet; eine Interpretation, die keineswegs falsch ist. Eine kapitalismuskritische Perspektive setzt jedoch insofern andere Akzente, als sie auch die Ursachen, Quellen und sozialen Kämpfe im Blick behält, ohne die eine soziale, demokratische und kulturelle – und ebenso ökologische – Transformation chancenlos ist.


Literatur
Albert, Michel 1992: Kapitalismus contra Kapitalismus. Frankfurt/M./New York.

Bieling, Hans-Jürgen 22011: Internationale Politische Ökonomie. Eine Einführung. Wiesbaden.

Bieling, Hans-Jürgen/Coburger, Carla/Klösel, Patrick 2021: Kapitalismusanalysen. Klassische und neue Konzeptionen der Politischen Ökonomie. Frankfurt/M.

Dörre, Klaus 2009: Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus. In: Ders./Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte. Frankfurt/M., S. 32–87. 

Fukuyama, Francis 1989: Das Ende der Geschichte? In: Europäische Rundschau 17(4), S. 3–25. 

Hall, Peter A./Soskice, David (Hg.) 2001: Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford. 

Marx, Karl 1985 [1859]: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Marx-Engels Werke, Bd. 13, Berlin, S. 3–167. 

van der Pijl, Kees 1998: Transnational Classes and International Relations. London/New York. 

Rucht, Dieter 2016: Neuere kapitalismuskritische und antikapitalistische Bewegungen. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 29(3), S. 121–134. 

Schumpeter, Joseph A. 2020 [1942]: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 10. Aufl., Tübingen. 

Sombart, Werner 1987 [1916/1927]: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Drei Bände. Erstfassung der ersten beiden Bände 1902, München und Leipzig. 

Urban, Hans-Jürgen 2009: Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung. In: Blätter f. deutsche u. internat. Politik 54(5), S. 71–78. 

Weber, Max 2002 [1904/05]: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. In: Weber, Max: Schriften 1894-1922. Ausgewählt von Dirk Kaesler, Stuttgart, S. 150–226.


Zitation
Bieling, Hans-Jürgen (2021). Kapitalismus – Konstellationen und Konjunkturen der Kritik, in: POLITIKUM 3/2021, S. 4-10, DOI https://doi.org/10.46499/1759.2076.

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