Alter Nationalismus auf dem Balkan neu entfacht
In diesem Sommer jährt sich der Ausbruch des Ersten
Weltkriegs zum 110. Mal. Anlass (nicht Grund) dieses
als „Urkatastrophe der Menschheit“ in die Geschichtsbücher
eingegangenen ersten industriell geführten
Krieges war das Attentat des serbischen Nationalisten
Gavrilo Princip auf den österreichischen Thronfolger
Franz Ferdinand in Sarajevo. Kurz zuvor hatten sich
Serbien, Bulgarien, Griechenland, Montenegro und
Rumänien in zwei Balkankriegen (1912/13) um die
Gebiete des früheren Osmanischen Reichs bekämpft,
das über Jahrhunderte diese Region beherrscht hatte.
Damals galt der Balkan als „Pulverfass Europas“, das
später auch eine wichtige Rolle im Zweiten Weltkrieg
spielte. Blutiger Schlusspunkt bisher waren die Kriege
beim Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates Jugoslawien
(1991–1999).
Nachdem aus diesem südslawischen Gebilde nicht
weniger als sieben neue Staaten hervorgegangen waren
(Kroatien, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien,
Slowenien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina), sollte eigentlich eine friedlichere Zukunft starten. Slowenien
und Kroatien traten der EU und der NATO bei, Montenegro
und Nordmazedonien wurden ebenfalls Mitglieder
dieses Verteidigungsbündnisses und begannen Beitrittsverhandlungen
mit Brüssel. Serbien, größtes und
geografisch zentralstes Land des Westlichen Balkans,
verhandelt seit 2014 über seinen EU-Beitritt. Auch die
Nachbarn dieser Region – Ungarn, Bulgarien, Rumänien
und Griechenland – sind inzwischen fest in euroatlantischen
Strukturen verankert. Alles sah danach aus, dass
der alte Nationalismus als Motor vieler Konflikte in dieser
Region endgültig der Vergangenheit angehören würde.
Ein Trugschluss, wie sich heute rückblickend zeigt.
Der alte speist den neuen Nationalismus
Aktuell ist der Dreiklang Extremismus, Populismus
und Nationalismus wieder für viele der größten Probleme
der Region verantwortlich (Auswahl):
- Der ungarische Regierungschef Viktor Orban erhebt unter Verweis auf ein angeblich historisches „Großungarn“ in seinen Reden unverblümt Ansprüche auf Teile der Slowakei, Rumäniens, der Ukraine, Serbiens und sogar Kroatiens. Er lässt sich gern vor einer großungarischen Landkarte oder bei Sportveranstaltungen mit einem Schal mit dieser Karte fotografieren.
- In Rumänien verzeichnet die rechtsextreme nationalistische Partei AUR einen kometenhaften Aufstieg unter den Wählerinnen und Wählern. Sie schickt sich an, nach den Parlamentswahlen in diesem Jahr die Regierung zu erobern. Die AUR verteufelt die EU und vergleicht sie mit der einstigen Sowjetunion.
- In Bulgarien hat die Sozialdemokratische Partei BSP noch für dieses Jahr den Zusammenschluss von 16 Parteien zu einem nationalistischen Block angekündigt. Mit von der Partie ist die radikal antieuropäische und pro-russische Partei Ataka. Außenpolitisch blockiert das EU-Mitglied Bulgarien echte Beitrittsverhandlungen seines Nachbarn Nordmazedonien mit Brüssel. Zuerst müsse der Nachbar seine Sprache aufgeben, die angeblich nur ein bulgarischer Dialekt sei, und seine Geschichte im Sinne bulgarischer Lesart umschreiben. Schließlich müsse die nur etwa 3.000 Menschen zählende bulgarische Minderheit in Nordmazedonien als „staatsbildende Nation“ in der Verfassung verankert werden. Im Gegenzug wird aber die Existenz jeder mazedonischen Minderheit in Bulgarien bestritten.
- Bosnien-Herzegowina gilt heute trotz eines Heers westlicher Diplomaten und Experten sowie vieler Milliarden Euro Finanzhilfen als gescheiterter Staat (failed state). Auch hier liegt der Grund im Nationalismus. Die muslimischen Bosniaken, die knapp die Hälfte der gut drei Millionen Einwohner stellen, streben den Aufbau eines Zentralstaates an. Die orthodoxen Serben, die mit ihrem Bevölkerungsdrittel eine Landeshälfte kontrollieren, arbeiten an dessen Abspaltung. Das gilt auch für die katholischen Kroaten, die ungefähr 15 Prozent aller Bürger ausmachen. Und weil niemand die Oberhand gewinnt, blockieren sich diese drei Völker nach Kräften, so dass zentrale politische Institutionen und Führungsämter immer wieder über mehrere Jahre unbesetzt sind bzw. kommissarisch verwaltet werden.
- Auch das kleine Adrialand Montenegro blockiert sich seit vielen Jahren selbst, weil die Serben im Land die 2006 in einem Referendum beschlossene Abspaltung vom Nachbarn Serbien nicht akzeptieren und sie rückgängig machen wollen.
- Der neue Nationalismus in Serbien kommt in Gestalt der seit Sommer 2020 propagierten „Serbischen Welt“ (Srpski svet) daher: Alle Serben in den Nachbarländern sollen mit dem „Mutterland Serbien“ vereinigt werden. Es genügt offensichtlich nicht, dass dieses Projekt eines Großserbien in den Kriegen beim Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates Jugoslawien (1991–1999) dramatisch gescheitert ist. Millionen Vertriebene, mehr als 100.000 Tote und die Verwüstung ganzer Landstriche waren der Preis. Die „Serbische Welt“ orientiert sich am ideologischen Modell der „Russischen Welt“ (Russkij mir). Auch hier soll das angeblich geteilte russische Volk wieder in einem Staat vereinigt werden. Ein Gedanke, der vom Kreml auch im aktuellen Angriffskrieg gegen die Ukraine ins Feld geführt wird.
- Der neuen Blüte des Nationalismus können sich auch die EU-Mitglieder Slowenien und Kroatien nicht entziehen. Sie streiten sich an zahlreichen Stellen ihrer gemeinsamen Grenze um deren Verlauf. Besonders gerungen wird um die Abgrenzung zwischen den beiden eigentlich befreundeten Staaten in der Bucht von Piran auf der Halbinsel Istrien an der nördlichen Adria. Selbst ein EU-Schiedsverfahren ging schief. Zeitweilig gingen die Kontrahenten gar mit Polizei gegen Boote der anderen Seite vor, die angeblich in verbotenen Gewässern fischten. Folgerichtig blockierte Slowenien (das schon seit 2004 EU-Mitglied war) immer wieder die kroatische Annäherung an Brüssel, die schließlich 2013 doch geschafft wurde.
- Diese Auswahl könnte leicht verlängert werden um Beispiele wie Griechenland (das zwei Jahrzehnte Nordmazedonien blockierte, um eine Namensänderung dieses kleinen Staates zu erzwingen), Albanien (das seine Landsleute im benachbarten Kosovo gegen Serbien unterstützt) oder die Slowakei nach dem Wahlsieg des heutigen Premiers Robert Fico. Der baut sein Land von Grund auf um nach der Blaupause Ungarns. Medien sollen an die Leine gelegt, die Opposition drangsaliert und die Justiz willfährig gemacht werden. Selbst Österreich, das Tor zum Westbalkan, ist nicht mehr immun. Der rechtspopulistische Herbert Kickl, dessen FPÖ in allen Umfragen klar auf dem ersten Platz liegt, könnte nach der Wahl in diesem Jahr „Volkskanzler“ (eigene Zielbeschreibung) werden.
Funktion des neuen Nationalismus
im politischen System
Der neue Nationalismus dient heute wie der alte vor
Jahrzehnten im Kern zur Machtsicherung der politischen
Eliten. Ausgangspunkt ist die Behauptung, die
Existenz der eigenen Nation sei bedroht (1). Zweiter
Baustein in diesem ideologischen Gebäude ist die angebliche
eigene Opferrolle in der Geschichte (Experten
sprechen von „self-victimization“), selbst wenn
– wie zum Beispiel in den Jugoslawienkriegen – mein
Volk der eigentliche Aggressor war (2). Jahrzehntealte
Feindbilder, nach denen der Nachbarstaat/die Nachbarstaaten
Aggressionen gegen mein Land planen,
werden befeuert (3). Daraus wird die angebliche Notwendigkeit
abgeleitet, dass sich die gesamte Nation
um einen starken „Führer“ scharen muss, um geeint
dieses drohende Ungemach für das eigene Land/das
eigene Volk abzuwehren (4). Reformen und Demokratisierungen
werden gestoppt oder zurückgestellt für
die Zeit nach der Abwehr der behaupteten Bedrohung
von außen (5). Ein wichtiger Kern dieses populistischnationalistischen
Gebäudes ist der Aufbau eines klientelistischen
Systems in Politik, Gesellschaft und
Wirtschaft: Der alles bestimmende Spitzenpolitiker setzt seine Gefolgsleute an die Schaltstellen der
Macht (top-down-Modell). Sie sichern ihrem Ziehvater
die Loyalität ihrer Mitarbeiter. Im Gegenzug wird
ihnen erlaubt, unbehelligt von den Behörden private
Geschäfte zu machen oder staatliche Gelder in eigene
Taschen abzuzweigen (6). Die Medien werden zentralisiert
und zensiert, um die Völker nationalistisch aufzurüsten
und den „Führer“ zu glorifizieren (7).
Durch
die Zerstörung unabhängiger Institutionen wie der
Justiz wird Sorge getragen, dass dieser Klientelismus
ungehindert funktioniert (8). Alle staatlichen, gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Institutionen werden
durch die herrschende Partei durchdrungen. Das
ist möglich, weil – wie zum Beispiel in Serbien – zehn
Prozent der Bevölkerung dieser Partei angehören (9).
Auf dieser Machtbasis werden Wahlen manipuliert
oder massiv gefälscht. Die Parteimitglieder werden
verpflichtet, „sichere Stimmen“ von ihren Familienmitgliedern
oder Arbeitskollegen zu organisieren.
Teilweise wird mit Handys in der Wahlkabine dokumentiert,
dass das Kreuzchen an der richtigen Stelle
auf dem Wahlzettel steht (10). Die Opposition wird im
Parlament und außerhalb weitgehend ausgeschaltet.
Das geschieht durch behördliche Schikanen, mediale
Pranger, den Kauf von Politikern oder durch geheimdienstliche
Drangsalierung (11). Minderheiten
der eigenen Nation in den Nachbarländern sind von
Assimilation oder Vertreibung bedroht und müssen
vom „Mutterland“ geschützt werden, wird behauptet
(12). Durch außenpolitische Abenteuer wollen die politischen
Eliten vom eigenen Unvermögen ablenken,
ihren Landsleuten auch nur bescheidenen Wohlstand
zu bringen (13).
Geschichtswissenschaft und Kirchen
„legitimieren“ Nationalismus
Die nationalistischen Spitzenpolitiker und ihre Entourage
missbrauchen die Geschichtswissenschaft,
um eine nationale Geschichte zu kreieren, die heroische
Taten, glorreiche Schlachten und geniale Könige,
Herzöge oder Zaren als Beweis für die Einzigartigkeit
und der Ewigkeit der eigenen Nation hervorgebracht
hat. Diese irreale Weltsicht wird den Kindern in den
Schulbüchern vermittelt, nachdem die wichtigsten
nationalistischen Weichen bereits im Elternhaus gestellt
wurden. Schulbuchanalysen belegen, dass hier
die eigene Geschichte dargestellt wird als „ewiger
Kampf“ gegen den böswilligen Nachbarn. Aggressionen
und Grausamkeiten des eigenen Volkes werden als notwendige Übel dargestellt, eigene Opfer werden
dramatisch erhöht und als Beweis notwendiger Verteidigung
angeführt. So „bewiesen“ griechische Historiker, dass der
Nachbar Nordmazedonien eigentlich ein Teil Griechenlands
sein sollte. Zurzeit behauptet die bulgarische
Historiografie, die in Nordmazedonien verehrten
nationalen Helden in der Geschichte seien in
Wirklichkeit Bulgaren. Schon Mitte der 80er Jahre des
letzten Jahrhunderts hatte die Serbische Akademie
der Wissenschaften mit ihrem berühmt-berüchtigten
„Memorandum“ nachweisen wollen, dass Serbien das
Recht habe, sich große Teile seiner Nachbarstaaten
einzuverleiben. Das „Memorandum“ avancierte zur
ideologischen Basis serbischer Aggressionen in den
90er Jahren gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina.
In Serbien predigen Historiker seit Jahrzehnten
den Mythos der „Schlacht auf dem Amselfeld“ (Kosovo
polje) 1389, über die eigentlich nur dürftigste
gesicherte Erkenntnisse vorliegen.
Mit diesem Narrativ
wird der Anspruch Serbiens auf seine fast nur noch
von Albanern bewohnte ehemalige Provinz Kosovo
„begründet“. Das 2008 von Serbien offiziell abgefallene
Kosovo sei das „Herz Serbiens“ und das „Serbische
Jerusalem“, das ohne Wenn und Aber wieder in den
Staatsverband zurückkehren müsse.
In Ungarn spielt die Katholische Kirche eine zentrale
Rolle im Gedankengebäude von Regierungschef Viktor Orban. Der sieht sich und sein Land als Bewahrer
und Verteidiger des christlichen Europas, das
in Westeuropa durch moderne Lebensalternativen
schon längst verraten worden sei. Folgerichtig lehnt
Ungarn jede Einwanderung ab und hat gegen den ersten
Flüchtlingsansturm 2015 auch die ersten Grenzzäune
zu Serbien errichtet. Die Katholische Kirche
in Ungarn wird großzügig aus dem Staatshaushalt
unterstützt, obwohl wie in anderen Staaten Europas
die Zahl der Gläubigen drastisch zurückgeht. Ihr werden
Schulen und Kindergärten übertragen, die aber
weiter vom Staat finanziert werden. Seinen stärksten
Bündnispartner hat Orban im neuen slowakischen
Regierungschef Robert Fico erhalten, mit dem er sich in diesem Januar ganz offiziell verbündet hat – gegen
die Migration und gegen die EU.
Auch in Bosnien-Herzegowina spielen die Religionen
eine unrühmliche Rolle bei der Vertiefung der
nationalen Gegensätze. Die nationalistischen Spitzenpolitiker
können sich jederzeit auf die Schützenhilfe
der kroatischen Katholischen Kirche oder der
serbischen Orthodoxie verlassen. Schließlich bildet
die Serbisch Orthodoxe Kirche in Serbien einen Pfeiler
des Herrschaftssystems des autokratisch regierenden
Präsidenten Aleksandar Vučić. Er räumt dieser
Religionsgemeinschaft Privilegien ein und erhält im
Gegenzug die religiöse Rechtfertigung seiner nationalistischen
Außenpolitik.
Russland nimmt Balkan-Nationalismus als
Blaupause für seinen Angriff auf die Ukraine
Man könnte auf den ersten Blick vermuten, die nationalistischen
Strukturen Südosteuropas seien eine
Randerscheinung der europäischen Politiklandschaft
und daher ohne größere Bedeutung. Doch seit der
russische Präsident Wladimir Putin den Nationalismus
dort als Blaupause für seinen Angriffskrieg gegen die
Ukraine genutzt hat, werden die dramatischen Auswirkungen
deutlich. Schon bei der Annexion der Krim
hatte Putin, der sowohl von Serbiens Vučić wie auch
von Ungarns Orban glühend verehrt und als Idealtypus
eines Politikers betrachtet wird, die Abspaltung
des Kosovos von Serbien als Vorbild bezeichnet. Wie
der Westen die Abspaltung der fast nur noch von Albanern bewohnten Region Kosovo von Serbien erzwungen
habe, habe er die „russische Krim“ wieder
nach Hause geholt. Folgerichtig erschienen in ganz
Serbien an Hauswänden Landkarten der Krim und
des Kosovos mit der Parole „Krim ist Russland und
Kosovo ist Serbien“. Putin und sein Außenminister
Sergej Lawrow wurden nicht müde, auch nach dem
Angriff auf die Ukraine auf das angebliche Beispiel
Kosovo hinzuweisen.
Umgekehrt dient Putins Konzept von „Russkij mir“
(Russische Welt) Vučić als Vorbild für seine seit Sommer
2020 öffentlich formulierte „Srpski svet“ (Serbische
Welt).
Verkürzt und vereinfacht ausgedrückt
zielen beide ideologische Gedankengebäude auf die
Landsleute außerhalb des eigenen Nationalstaates,
die wieder mit diesem vereint werden müssten.
Obwohl Serbien als EU-Beitrittskandidat wirtschaftlich
massiv vom Westen und dessen Investitionen,
Experten und Finanzhilfen abhängig ist, gilt das Land
als engster Verbündeter Russlands in Europa. Russland
verfestigt diese enge Partnerschaft mit Belgrad
mit einer einzigartigen Medienoffensive. Seit 2015
arbeitet die russische Staatsagentur Sputnik mit einer
großen Redaktion in Belgrad, die im Jahr 2022 durch
die Agentur RT (einst Russia Today) verstärkt wurde,
die ebenfalls zu 100 Prozent vom Kreml finanziert und
kontrolliert wird. Beide Propaganda-Outlets liefern
tagtäglich kostenlose „Informationen“ in serbischer
Sprache, die auch in den Nachbarländern Serbiens
von den Regierungsmedien eins zu eins übernommen werden. Tag für Tag werden die Bürger in den Balkanländern
mit einseitig russischen Sichtweisen auf die
Welt bombardiert, die schließlich als Realität wahrgenommen
werden, obwohl sie dramatisch konstruiert
und wirklichkeitsfremd daherkommen (siehe die Analyse
des Autors „Russische Medien auf dem Balkan“:
https://shop.freiheit.org/#!/Publikation/1503). So
glauben die meisten Menschen der Region, dass Russland
und China die wahren Freunde und größten Geldgeber
ihrer Länder sind, obwohl überall die EU und die
USA die bestimmenden Partner sind. Gegen dieses
mediale Trommelfeuer steht westliche Politik auf verlorenem
Posten, weil Russland mit seiner Propaganda
die Herzen der Menschen in Südosteuropa erreicht.
Der Westen verliert die Balkanländer
Stück für Stück
Der blühende Nationalismus in Südosteuropa verringert
den Einfluss des Westens, dessen Wertesystem
in der Region mehr und mehr ins Hintertreffen gerät
– zu Gunsten autoritärer Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle.
Russland und China, das sich hier
trotz ungünstiger Kredite mit Großprojekten wie dem
Bau von Autobahnen und Kraftwerken einen Namen
gemacht hat, setzen sich als Vorbilder für die kleinen
Staaten auf der Balkanhalbinsel durch. Wie Brüssel
selbst dazu beiträgt, dieses virtuelle Narrativ zu verfestigen,
zeigt dieses fragwürdige Beispiel: Obwohl
die EU 85 Prozent der Baukosten von 420 Millionen Euro für die strategische Brücke auf die kroatische
Halbinsel Pelješac zahlte, die im Juli 2022 eröffnet
wurde, ging der Auftrag an die Staatsfirma „China
Road and Bridge Corporation“. Alle EU-Bewerberfirmen
gingen leer aus. Das chinesische Unternehmen
importierte nicht nur die Baumaterialien, sondern
auch die Arbeitskräfte aus seiner Heimat, so dass diese
Investition nicht einmal indirekt EU-Ländern oder
deren Unternehmen zugute kam.
Die EU schaut – jenseits aller Sonntagsreden – ohnmächtig
zu. Das liegt an der fehlenden Strategie Brüssels
für diesen Teil Europas. Denn die EU zieht hier
nicht an einem gemeinsamen Strang – im Gegenteil.
Staaten wie Frankreich oder Deutschland verfolgen
ihre eigenen Interessen ebenso wie Großbritannien
und die USA. Diese unterschiedlichen Politiken sind
oft nicht kompatibel und blockieren sich selbst.
Noch entscheidender sind indes die Sonderinteressen
Ungarns. Regierungschef Orban verfolgt nicht
nur in seiner Russlandpolitik ganz eigene Ziele.
Er hat
seinem serbischen Freund Vučić öffentlich versichert, Budapest werde durch seine Vetomacht mögliche
Sanktionen gegen dieses Balkanland wegen dessen
nationalistischen und autokratischen Regierungsstils
verhindern. Im Gegenzug hat Serbiens alles entscheidender
Präsident sein Land nach ungarischem Vorbild
umgebaut: Justiz, Medien, Parlament, Behörden und
Kommunen sind mehr oder weniger gleichgeschaltet.
Dieses Trio – Orban bewundert Putin, Vučić bewundert
Orban – lähmt jede erfolgversprechenden EU-Reformpolitik.
Auch der nationalistische ehemalige
Regierungschef von Nordmazedonien, Nikola Gruevski,
der 2016 aus seiner Heimat floh, um Korruptionsprozessen
zuvorzukommen, findet bis heute in Ungarn
Schutz. Alle EU-Bemühungen, Gruevski an sein Heimatland
auszuliefern, wurden von Orban vereitelt. Der
langjährige slowenische Ministerpräsident Janez Jansa
hatte bereits angefangen, mit ungarischem Geld und
nach Orbans Rezept Staat und Wirtschaft umzubauen.
Nur seine Abwahl verhinderte im März 2022, dass er
dieses Vorhaben zu Ende bringen konnte.
Zahlmeister EU ohne Einfluss
Brüssel hat Milliarden Euro in die Region gepumpt und
Zehntausende Diplomaten und Experten geschickt.
Trotzdem haben die EU und die USA keine wesentlichen
Fortschritte in Richtung Reformen zustande gebracht.
Im Gegenteil. Die anfänglichen Erfolge bei der
Demokratisierung der einst kommunistischen Länder
wurden inzwischen wieder rückgängig gemacht. Der
Westen hängt trotz dutzendfacher Enttäuschung der
Illusion an, die von ihm unterstützten Nationalisten
und Autokraten in Südosteuropa würden am Ende
die verlangten Reformen und die Aussöhnung der zerstrittenen Völker in der Region „liefern“. Doch diese
Stabilokraten brauchen die nationalen Konflikte, um
sich selbst unverzichtbar zu machen und so zu überleben.
Daher ist eine Kursänderung nicht zu erwarten.
Sollte die EU wirklich an der Eindämmung von Nationalismus,
Populismus und Autokratie in Südosteuropa
interessiert sein, müsste ein breiter Jugendaustausch
zwischen den Balkanländern untereinander
organisiert werden, damit sich die Jungen mit eigenen
Erfahrungen ein Bild von den Nachbarn machen
können. Daneben wäre die „Entwaffnung“ der Schulbücher
vonnöten, um die Heranwachsenden nicht
mit Nationalismen zu munitionieren. Das Wichtigste
wäre jedoch eine wirksame Strategie gegen die toxische
mediale Propaganda – sowohl Russlands als
auch der heimischen Machthaber. Denn ohne solche
kraftvollen Initiativen hat die EU in Südosteuropa
auch in Zukunft keine Chance.