Defekte Debatten
Wie Streit nicht zum Dauerstress wird
Funktionierende Demokratien brauchen den fruchtbaren Streit darum, worauf wir uns als Gesellschaft verständigen wollen.
Doch nicht nur das schleichende Gift des Populismus macht unsere öffentliche Kommunikation kaputt. Auch in der politischen Mitte führen Absolutheitsansprüche, Bekenntnisbedürfnisse und Empörungsspiralen zu defekten Debatten. Kompromisse als Teil einer neuen demokratischen Demut sind vor diesem Hintergrund nicht eine verwässerte Fassung der wahren Lösung,
sondern ein Gewinn – auch wenn wichtig bleibt, die Sichtbarkeit der eigenen Position nicht aufzugeben.
Es liegt eine bange Frage über der Republik. Verlieren wir uns weiter im Hickhack des politischen Streits, einem Hin und Her, das nicht als konstruktiv wahrgenommen wird, sondern das Vertrauen in die gestaltende Kraft der politischen Mitte weiter unterminiert? Oder um es knapp zu formulieren: Setzt sich das Ampel-Drama fort, nur mit anderen Farben? Der Zweifel, dass nach dem holprigen Start der neuen CDU/CSU-SPD-Bundesregierung ein politischer Neuanfang gelingen kann, ist mindestens genauso groß wie die fast schon verzweifelte Hoffnung, dass er gelingen muss. Von der „letzten Patrone der Demokratie“ spricht CSU-Chef Markus Söder. Und auch Friedrich Merz hat bereits im Wahlkampf angesichts des wachsenden Populismus gewarnt, dass es bereits 2029 „keinen normalen Regierungswechsel“ mehr geben könnte. Selten also war der selbstgesetzte, aber auch von der Öffentlichkeit aufgebaute Druck so groß, jetzt alles „richtig“ zu machen. Zu liefern. Schluss mit dem Streit, stattdessen – um es mit den Worten des CDU-Generalsekretärs Carsten Linnemann zu sagen – „einfach mal machen“. Nur – was ist das „Richtige“? Welche Prioritäten setzen wir? Wie jede Regierung hat Schwarz-Rot versucht, eine vier Jahre gültige Antwort auf vielen Seiten Koalitionsvertrag aufzuschreiben. Ob sich die Realitäten bis zum Jahre 2029 daran halten werden? Schon die ersten Gehversuche der schwarz-roten Koalition zeigen, dass es eine Illusion wäre zu glauben, dass wir über Herausforderungen und Lösungen nicht weiter intensiv streiten müssten.
So sehr dieses Land konkrete Ergebnisse von Politik braucht – pünktliche Bahnen, tragfähige Brücken, gute Schulen –, so sehr brauchen wir dringender denn je einen guten Modus, wie wir uns auf diese Ergebnisse verständigen. Je weniger es eindeutige politische Mehrheiten gibt, je größer die gesellschaftliche Diversität ist, desto klarer ist, dass wir uns verstärkt Gedanken darüber machen müssen, wie wir eine Debattenkultur etablieren, die Gräben nicht weiter vertieft, sondern lösungsorientiert ist. Es geht um die Herausbildung einer Debattenfähigkeit als Mittel gegen die demokratische Depression, die um sich greift. Debattenfähigkeit heißt, dass wir miteinander sprechen, um andere Perspektiven kennenzulernen. Dass wir debattieren mit dem echten Ziel, andere zu überzeugen. Mit der Bereitschaft, uns überzeugen zu lassen (siehe auch den Beitrag von Ingo Pies in diesem Heft).
Zugegeben, wenn wir all dies täten und beherzigten, wären wir einer Debatten-Utopie sehr nahe. Demokratischen Streit ohne die Möglichkeit von Frustration und Enttäuschung zu denken, wäre sträflich naiv. Oder um es diskurstheoretisch einzurahmen: Jürgen Habermas’ Vorstellung vom „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ funktioniert unter den Laborbedingungen des Universitätsseminars offensichtlich besser als im Deutschen Bundestag, den Talkshows der Republik und erst recht als auf den Kanälen der Sozialen Medien. Und doch sollten wir nichts Geringeres als diesen Maßstab ansetzen: die Idee einer öffentlichen Debatte, die im besten Sinne konstruktiv und integrierend wirkt als Ideal einer Debattenkultur, wie wir sie so dringend bräuchten (siehe auch den Beitrag von Claudia Wittig in diesem Heft).
Idealen kann man sich nähern. Aber leider bewegen wir uns seit geraumer Zeit immer weiter davon weg. Und zwar in der „großen Politik“ wie auch in der Gesellschaft insgesamt. Durch hausgemachte Fehler, aber auch als Folge globaler Entwicklungen, auf die wir kaum Einfluss haben.
„Immer ist irgendwas“:
Verlust der Verschnaufpausen
Polykrise ist der Begriff, mit dem der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze eine zentrale Herausforderung unserer Zeit beschrieben hat, Krisen, die sich nicht einfach nur ablösen, sondern überlagern: Krieg und Klima, Banken-, Euro- und Flüchtlingskrise – nicht zu vergessen die weltweite Coronapandemie. Krisen, die nicht nur die Lösungskapazitäten von Politik an Grenzen geführt haben, sondern teils sehr widersprüchliche Antworten verlangen. Der Krieg gegen die Ukraine stellte uns vor die drängende Aufgabe, russisches Gas und Öl zu ersetzen – im Zweifel mit schmutzigem Fracking-Gas, dessen Nutzung im eklatanten Widerspruch steht zu den notwendigen Antworten auf die Erderwärmung. Es sind Widersprüche, die die Kohärenz von Politik – wenn nicht in ausreichender Komplexität erklärt – in Frage stellen. Insgesamt erleben wir hier aber so etwas wie einen gesamtgesellschaftlichen Dauerstresstest, oder um es mit den Worten von König Charles zu sagen: „Immer ist irgendwas“. Das macht dünnhäutig und sorgt für weniger Resilienz. Es nimmt uns als Gesellschaft den Raum für nötige Reflexionen und Aufarbeitungen. Auch jenseits der großen Krisen sehen wir das aktuell in Deutschland: eine politische Wende, wie sie die Union in der Frage der Schuldenpolitik vollzogen hat, bräuchte innerparteilich wie auch gesamtgesellschaftlich eine Phase der Reflexion, für die schlicht kaum Zeit war. Das stille Achselzucken, mit dem die Öffentlichkeit dies zu begleiten scheint, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass darin die Gefahr eines erst kaum sichtbaren, aber schleichenden und damit tiefgreifenden Vertrauensverlustes einhergeht.
Es liegt jenseits der Gestaltungskraft von Politik, Krisen – zumal globale – per Knopfdruck zu lösen. Darin liegt vielleicht eine erste Antwort, wie wir auf diese Herausforderung reagieren können: mit einer rhetorischen Demut, die keine Handlungsfähigkeit simuliert, wo sie nicht besteht. Eine politische Sprache, die Widersprüche offen ausspricht statt versucht sie zu kaschieren; verkürzt könnte man sagen: den Habeck machen. Gerade für den neuen Kanzler Friedrich Merz liegt hier eine Chance, sich von dem früheren Ich seiner ostentativ zur Schau gestellten Entschlossenheit, aber auch von seinem Vorgänger zu unterscheiden. Olaf Scholz wollte kein „John Wayne“ sein und wirkte doch häufig wie ein einsamer Cowboy – allzu selbstsicher und unfähig, seine Politik als einen Prozess zu beschreiben. Er wirkte stattdessen oft so, als hätte er schon immer alles (besser) gewusst.
Kettensäge statt Kompromiss: das schleichende Gift der Polarisierungen
Wir befinden uns in einer widersprüchlichen Situation. Sowohl gesellschaftlich als auch sehr konkret parlamentarisch gilt, dass wir meist starke Minderheiten-Positionen, aber nur noch sehr selten klare Mehrheits-Positionen haben. Parteien stellen heute mit teils weniger als 30 Prozent der Wählerstimmen Kanzler oder Ministerpräsidenten. Anders gesagt, in der ursprünglichen Präferenz haben sich 70 Prozent gegen sie ausgesprochen. Allein diese Erkenntnis sollte politisch Handelnden (aber auch ihrer Anhängerschaft) eine gewisse Zurückhaltung gebieten. Stattdessen erleben wir eine zunehmende Verhärtung, eine neue Kompromisslosigkeit bis hin zu Absolutheitsansprüchen eigener Programmatik. Es ist eigentlich der Sound der Populisten – die für sich seit jeher in Anspruch nehmen, anders als alle anderen für das „Volk“ zu sprechen und eine „schweigende Mehrheit“ zu vertreten, ohne dass ihre Wahlergebnisse einen solchen Anspruch rechtfertigen würden –,
der auch die politische Mitte erfasst zu haben scheint.
Wie ein schleichendes Gift macht sich ein Politikansatz breit, wie er auf internationaler Bühne symbolträchtig von einem Donald Trump oder einem Javier Milei verkörpert wird: auf die Unsicherheiten unserer Zeit mit Signalen der Stärke, der Klarheit und der Entschlossenheit zu reagieren. Es mag sein, dass die Kettensägen-Rhetorik, das Versprechen also, schnell und im Zweifel per Dekret die Dinge zu regeln, manchen deutschen Protagonisten im Wahlkampf verleitet hat, ähnliche Angebote zu machen. Dem steht allerdings nicht nur die deutsche Verfassung entgegen, die eine solche Machtfülle nicht vorsieht. Es widerspricht auch der politischen Kultur dieses Landes, „durchzuregieren“, wie es sich Angela Merkel in ihrer ersten Bundestagswahl 2005 noch zum Ziel setzte. Die Langzeit-Kanzlerin hat es genauso lernen müssen wie ihr Nach-Nachfolger Friedrich Merz, letzterer allerdings im Crashkurs. Fraglich ist, wie beständig diese Erkenntnis ist. Auf europäischer Ebene gibt es gerade im Spektrum der christdemokratisch-konservativen Parteien zahlreiche Beispiele, in denen die Kräfte der Mitte die Polarisierungslogiken ihrer rechtspopulistischen Konkurrenz kopiert haben – mit Strohfeuererfolgen, die selten lange Bestand hatten.
Problematisch daran ist vor allem die Verächtlichmachung des Kompromisses. Er gilt in dieser Logik per se als faul. Mehr noch, politische Konkurrenten erwachsen in einer solchen Logik zu Gegnern oder schlimmer noch zu Feinden, mit denen eine Zusammenarbeit per se ausgeschlossen wird. Deutlich wurde dies etwa in der Zuspitzung insbesondere zwischen Union und Grünen im jüngsten Bundestagswahlkampf, die einer Union in einer zur Kooperation verdammten deutschen Politlandschaft so oder so auf die Füße fallen musste.
Entschlossenheit wirkt dann, wenn sie hinterlegt ist durch reale Handlungsoptionen. Sie schadet, wenn sie ein leeres Versprechen bleibt – und zwar unabhängig davon, ob bewusst irreführend oder aus politischer Naivität heraus. Die bessere Antwort auf die Krisenhaftigkeit unserer Zeit und die damit einhergehenden Unsicherheiten ist Verlässlichkeit. Anders gesagt, politisch Handelnde werden Vertrauen in die Demokratie eher stärken, wenn sie sich nicht ständig selbst korrigieren (müssen), weil Antworten und Versprechungen aus der Stimmung heraus nicht haltbar sind.
Es sollte Teil einer neuen demokratischen Demut sein, sich dessen bewusst zu sein. Kompromisse sind vor diesem Hintergrund nicht eine verwässerte Fassung der wahren Lösung, sondern ein Gewinn. Wichtig ist dabei, die Sichtbarkeit der eigenen Position nicht aufzugeben. Viel zu oft wurde auch in der Politik, gerade in Koalitionen, eine falsche Harmonie vorgegaukelt. Es wäre mitunter ehrlicher, wenn beispielsweise eine Partei in einer Koalition offen benennt, dass sie einer Lösung auch mal aus höheren Stabilitätserwägungen zustimmt, ohne vollends im Einzelnen überzeugt zu sein. Es ist ohne Frage ein Drahtseilakt: In einer Demokratie müssen unter-schiedliche Programmatiken erkennbar sein, gleichzeitig muss deutlich werden, dass Unterschiede nicht unüberbrückbar sind. Mit anderen Worten, gerade politische Parteien sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass sie alleine keine Mehrheiten hinter sich versammelt bekommen. Gleichzeitig müssen sie bereit sein, politische Mehrheiten und damit gesellschaftliche Allianzen zu schmieden.
Es wäre allerdings verkürzt, diese Aufgabe nur im Feld der (Partei-)Politik zu sehen. Politische Eliten haben zwar ohne Frage eine prägende Rolle, den Debattenton in diesem Sinne deeskalierend zu setzen. Nicht selten sind es aber öffentliche Stimmungslagen, ein Naserümpfen über den „kleinsten gemeinsamen Nenner“, das die Politik zu Gesten der Stärke verleitet, die sie nicht mehr hat. Das gilt für die Medien, aber auch letztlich für alle in Demokratie. Man könnte den Spieß auch umdrehen: Wenn wir eine kohärentere Politik wollten, könnten wir sie wählen und Parteien, die sich programmatisch nahestehen, eindeutige Mehrheiten verschaffen. Wobei die Erinnerung an die letzte, in diesem Sinne kohärente schwarz-gelbe Koalition auf Bundesebene (2009 bis 2013) deutlich macht, dass auch das keine Garantie für eine Politik aus einem Guss sein muss.
Unter Niveau: Scheindebatten führen zu gefährlichen Vereinfachungen
Die Komplexität vieler (gesellschafts-)politischer Debatten steht in keinem guten Verhältnis zur Komplexität der Dinge.
Beispiele finden sich wiederholt in der Migrationsdebatte, die auf oft polarisierende Einzelfragen reduziert wird. Während es mal die Einführung einer Bezahlkarte statt direkter Geldzahlungen war, wurde im jüngsten Wahlkampf vor allem die Haltung zur Zurückweisung Geflüchteter an den deutschen Grenzen so geführt wurde, als würde darüber das Schicksal der insgesamt sehr vielschichtigen Thematik abschließend entschieden. Besonders die Union hatte sich entlang dieser Frage vorgenommen, Entschlossenheit zu demonstrieren.
Ressentiment und Zuspitzung haben zuvor auch die Debatte um das Bürgergeld geprägt. Ein Thema, bei dem sich viele Fragen stellen könnten: Was braucht es, um Menschen wieder dauerhaft in Arbeit zu bringen? Warum müssen so viele, die doch eigentlich arbeiten, aufstocken? Was hat das beispielsweise mit Kinderbetreuungsangeboten für Alleinerziehende zu tun? Man könnte in diesem Zusammenhang sogar sinnvoll darüber nachdenken, was man mit jenen tut, die gar nicht kooperieren. Letztlich wurde die Debatte weitgehend auf diese einzelne Frage der so genannten „Totalverweigerer“ reduziert und polarisiert. Nach Zählung der Bundesagentur für Arbeit sind das etwa 14.000 – im Gegenzug zu über fünf Millionen Empfängern insgesamt.
Es ist ein wiederkehrendes Merkmal defekter Debatten: Auseinandersetzungen, die hochsymbolisch aufgeladen werden, statt sich an die komplizierten Fragen heranzuwagen. Die sich dadurch auszeichnen, dass sie sehr klar ein „Dagegen“ ausdrücken, aber selten Lösungen anbieten. Stimmungsmache, in der auch etablierte politische Akteure sich die Frage gefallen lassen müssen: Verfolgen sie eigentlich noch das Ziel, Lösungen zu entwickeln? Oder geht es um den schnellen politischen Geländegewinn? Die Zunahme einer affektiven Polarisierung, also der grundsätzlichen Ablehnung anderer Sichtweisen, hängt auch hiermit zusammen.
Ohne Frage brauchen breit geführte gesellschaftliche Debatten Vereinfachungen und Zuspitzungen, damit unsere Demokratie nicht zu einer Expertokratie wird. Nur tragen Politik und vor allem auch Medien eine Verantwortung, sich nicht in Scheindebatten zu verlieren. Gerade der Hauptstadtjournalismus ist nicht frei von den Verlockungen, Politik als Machtpoker und Intrigenstadel zu inszenieren. Der Fokus auf „politics“ mag unterhaltsam sein und einen nicht unwichtigen Teil dessen abbilden, was Politik ausmacht. Wenn dabei aber die „policies“, Politik in ihren Inhalten also, zu kurz kommt, wenn die K-Frage stets besser ausgeleuchtet wird als etwa die konkreten Inhalte der Krankenhausreform, fehlt die Substanz, die eine demokratische Öffentlichkeit braucht. Man fragt sich mitunter, ob Hauptstadtjournalisten vielleicht mehr Zeit mit dem Lesen von Gesetzesentwürfen verbringen sollten als mit dem Besuch von Talkshows.
Gesellschaftliche Verhärtungen:
Das Bedürfnis nach Grenzen
Wie viel Debattendefekt liegt in uns selbst? Wo sind die Phänomene, die wir eigentlich am liebsten den Rändern zuschreiben wollten, bis weit in die gesellschaftliche Mitte diffundiert? Wir alle haben den Geist der Zeit ein Stück aufgesogen, der sich durch ein wachsendes Bedürfnis nach neuen Klarheiten, Sortierungen und Grenzen auszeichnet. Parallel zur Krise des Liberalismus erleben wir eine Krise des klassischen liberalen Diskursverständnisses. Man könnte es auch so sagen: So wie als Reaktion auf offene (Wirtschafts-)Grenzen das politische Bedürfnis nach neuen Grenzen en vogue geworden ist – und zwar von rechts („America first“, Brexit) wie auch globalisierungskritisch von links, so scheint auch im Debattenraum die Grundidee des freien Austausches von Argumenten, Perspektiven und Positionen in der Krise. An ihre Stelle tritt eine neue Art des Debatten-Protektionismus, von rechts bedient durch ein Zurückwünschen in das vermeintlich gute alte „Früher“, eingezäunt in den vertrauten nationalen Grenzen, mitunter bis hin zum Völkischen. In der linken Spielart führt das Orientierungsbedürfnis eher zu subtileren Abgrenzungen. Die Schlagbäume trennen hier keine Staaten, sondern führen entlang der Grenze des Sagbaren, des im Diskursraum Akzeptablen.
Es ist hier wie dort die große Suche nach Sicherheiten in einer Welt, in der eine Krise die nächste jagt. Ein allzu verständlicher Reflex, der aber eben gerade nicht in die Vereinfachung führen darf. Im Gegenteil, angesichts einer Vielzahl von Herausforderungen, die komplexe und möglicherweise in einem Weltanschauungssinne widersprüchliche Antworten erfordern, debattieren wir oftmals schlicht unter Niveau. Da wird der Israel-Palästina-Konflikt eingepfercht in postkoloniale Theorien, um Täter und Opfer klar benennen zu können. Da werden alte Gegensätze hervorgeholt, die schon längst nicht mehr passen müssen: die Kassiererin im Discounter auf dem Land, die nichts davon habe, wenn Parteien statt klassischer Sozialpolitik urbane Lifestyle-Politik etwa für queere Menschen machten. Nur was, wenn die Kassiererin auf dem Land selbst queer ist und am liebsten beides hätte – einen höheren Mindestlohn und Minderheitenrechte?
Es sind keine guten Zeiten für Ambivalenzen. Oder um es mit den Worten des Soziologen Armin Nassehi zu sagen: „Das größte Opfer dieser Tage ist das Dritte.“ Stattdessen: „Gut oder böse, schwarz oder weiß, wahr oder falsch, wir oder sie.“ Es geht um klare Verortungen, Selbstzuordnungen und Bekenntnisse. Wie eine Hintergrundmelodie scheint fast überall die Aufforderung zu lauern: Sag mir, wo du stehst. Wie stehst du zum Krieg in Gaza? Zum Terror der Hamas? Wie klar verurteilst du den Krieg Russlands gegen die Ukraine? Waffenlieferungen – ja oder nein? Der Druck, sich in den internationalen Krisen dieser Zeit zu verorten, ist groß. Und kennt keinen Halt: Veggie-Essen, Verbrenner-Aus, Genderfragen, Klimawandel.
Social Media hat seinen unguten Anteil an den Polarisierungen, die weit ins Private gehen. Sind wir doch hier nicht nur Empfänger, sondern auch vielfach Sender. Der Zwang, sich zu bekennen, wächst. Und mit ihm die Gefahr, selbst für seine Haltung angegriffen zu werden. Während manche im Getöse dieser Debatten immer lauter werden, um sich Gehör zu verschaffen, verstummen andere und ziehen sich aus den Diskursen zurück. In der Folge sind gerade die noch stärker vernehmbar, die sich ihrer Sache sehr sicher sind. Die leisen, ambivalenten, vielleicht noch unsicheren Töne dringen immer weniger durch.
Wie kommen wir raus aus diesen Verhärtungen, für die eben nicht (nur) Eliten in Politik und Medien, sondern letztlich wir alle mitverantwortlich sind? Hoffnung macht, dass kaum jemand glücklich mit dem Ist-Zustand. Dass es um die Debattenkultur schlecht bestellt ist, scheint ironischerweise ein letzter breiter Konsens zu sein von links bis rechts. Und auch die Antworten und Appelle dürften die meisten unterschreiben: Einander zuhören, bereit sein, andere Perspektiven einzunehmen, Zweifel zulassen, anderen Meinungen einen legitimen Platz einräumen. Man müsste es eben einfach nur beherzigen. Doch wie schnell verfallen wir von einer verbalen Aufgeschlossenheit in der Theorie in reale Denkblockaden, wenn wir in der Praxis ganz konkret auf andere Positionen treffen? Gemäß dem Motto: Wir können offen diskutieren, aber darüber nun wirklich nicht! Wer es ernst meint mit einer offenen Debattenkultur, das ist möglicherweise der erste Lackmustest, merkt es eigentlich erst, wenn es weh tut.
Too many players?!
Der common sense wird kleiner
Und es kann sein, dass es heute eher weh tut als früher. In einer Gesellschaft, die diverser ist, sowohl was Herkünfte betrifft als auch Positionen. Eine Gesellschaft, in der Tabus in einem progressiven Sinne gefallen sind, etwa was die sexuelle Selbstbestimmung angeht. Gefallen sind aber seit Phänomenen wie Pegida und seit dem flächendeckenden Einzug der AfD in das politische Leben dieses Landes auch politische Tabus, die in den Nachkriegsjahrzehnten einen dauerhaft erfolgreichen Rechtspopulismus oder gar Rechtsextremismus verhinderten. Aber auch in der Mitte der Gesellschaft zeigt sich allein an der Tatsache, dass heute nicht mehr zweieinhalb Parteien ausreichen, sondern sechs oder mehr, um die Gesellschaft zu repräsentieren: Der wahrnehmbare Debattenraum ist breiter geworden.
Das heißt im Umkehrschluss: Was uns als Gesellschaft verbindet, wird kleiner. Diverse Gesellschaften haben naturgemäß weniger Gemeinsamkeiten. Paradoxerweise ist dieses „Problem“ Ergebnis der Erfolgsgeschichte der inneren Demokratisierung unserer Gesellschaft. Denn unsere Gesellschaft ist nicht nur diverser geworden (etwa durch Zuwanderung), die Sichtbarkeit einer schon immer vorhandenen Vielfalt ist auch größer geworden. Auf dem Spielfeld der Demokratie spielen heute viel mehr Spieler mit. Manche wollen ein Teil des Spielfelds für sich und beim großen Spiel gar nicht mitspielen, sondern unter sich bleiben. Andere treten mit dem Selbstbewusstsein auf, nicht nur Teil des Spiels zu werden, sondern die Spielregeln ändern zu wollen. Es kann dafür gute Gründe geben, etwa weil die alten Regeln nur die bisherigen Spieler begünstigen. Wir erleben aber auch zunehmend das Problem, das Mitspieler dauerhaft Foul spielen. Mit dem Ziel, die anderen vom Platz zu vertreiben.
Insgesamt stellt sich die Frage: Haben wir mittlerweile zu viele player on the field, um die divergierenden Interessen noch auf einem Platz abbilden zu können? Ist eine Öffentlichkeit noch denkbar – oder ist unser Debattenraum schon längst in Teilöffentlichkeiten zerfallen? Einzelne Spielfelder, mit eigenen Regeln und Fans? Es gibt in der Reaktion auf diese neue Unübersichtlichkeit das starke Bedürfnis, Bekenntnisse auf Gemeinsames einzufordern, die für unabdingbar erklärt werden als Grundlage unserer Gesellschaft. Im konservativen Raum führt dies regelmäßig zu Forderungen nach einer „Leitkultur“. In der politischen Linke denkt man eher an Abgrenzungen „gegen rechts“.
Ob man so zu einem größeren Zusammenhalt in der Gesellschaft kommt, ist fraglich. Eher könnten durch den Appell und die Aufforderung zur Einigkeit Gegenreaktionen hervorgerufen werden, die die Konsense weiter erschweren dürften. Ohnehin stellt sich die Frage, ob ein entspannteres Verhältnis zu einer spannungsreichen Diversität der Gesellschaft nicht integrierender wirkt als der Wunsch nach Zusammenhalt. So wichtig es ist, Grenzen zu ziehen und damit einen demokratischen Grundkonsens zu sichern, so problematisch wird es, wenn Grenzen zu eng gezogen bzw. auch für nicht verhandelbar erklärt werden. Eine demokratische Gesellschafft muss im Prinzip bereit sein, alles zu verhandeln. Wenn wir Spaltungen und Gräben nicht vertiefen wollen, müssen wir akzeptieren, dass der Konsens manchmal bis zu einer Schmerzgrenze kleiner ist, als wir es uns aus eigener Perspektive wünschen würden.
Und doch gibt es eine Schmerzgrenze. Sie verläuft dort, wo die populistischen Systemsprenger Regeln und Institutionen derart in Frage stellen, dass das demokratische Spiel endet. Das ist eine verfassungsrechtliche Frage, aber sie stellt den gesellschaftlichen Debattenraum auch unabhängig davon vor eine Herausforderung. Denn hier erleben wir nicht etwa eine weitere pluralistische Diversifizierung, sondern den Rückfall in eine die Debatten verarmende Dichotomie. Die Trennlinie verläuft nicht entlang einer klassischen Links-Rechts-Linie. Die politische Welt teilt sich vielmehr auf in einen populistischen Block, der im Grunde alles: Fakten, Medien und schließlich auch das politische System in Frage stellt, gegen den sich ein rationaler Block mit teils enormen programmatischen Dehnungsübungen versammelt bzw. versammeln muss. Es sind hier eben nicht nur unterschiedliche Positionen, die in einen Wettstreit treten, sondern konträre Wahrnehmungen der Wirklichkeit, die affektiv aufeinandertreffen. In manchen Landtagswahlkämpfen haben wir dies bereits gesehen. Und auch der Sound des Bundestagswahlkampfs trug erste Züge einer Entwicklung, in der es schließlich nur noch um das große Ganze geht: die Rettung der Demokratie.
Für eine Demokratie ist es dauerhaft schädlich, wenn es ständig um ihre eigene Rettung geht, weil der Wettstreit um Alternativen in der Sache unweigerlich zu kurz kommt. Ihr Schutz gelingt dann am besten, wenn die nach wie vor große Mehrheit, die es gut mit ihr meint, so miteinander um Lösungen ringt, dass Streit nicht zum Dauerstress wird. Mit guten Debatten also.
Literatur
Bartels, Larry M. 2023: Democracy Erodes from the Top: Leaders, Citizens, and the Challenge of Populism in Europe. Princeton, NJ.
Levitsky, Steven/Ziblatt, Daniel 2024: Die Tyrannei der Minderheit. Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können. München.
Reuschenbach, Julia/Frenzel, Korbinian 2024: Defekte Debatten. Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen. Berlin.
Tooze, Adam 2022: Zeitenwende oder Polykrise? Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand. Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, H. 36. Berlin;
https://willy-brandt.de/wp-content/uploads/bwbs-h36-online.pdf [letzter Zugriff 19.5.2025].