Imaginierte Gemeinschaften: Metaphern und Narrative
„Die Nation, wenn sie entsteht, bestimmt selbst die Merkmale, die sie bestimmen.“ Ivan Katsarskis Diktum macht das historisch Bedingte und sozial Konstruierte dieser zentralen geschichtlichen und soziologischen Größe deutlich.
Moderne Gesellschaften sind komplexe Gebilde. Dies gilt insbesondere für den demokratischen Rechtsstaat. Hierin mag eine Erklärung dafür liegen, dass es in Krisenzeiten weniger das politische System mit seinen unterschiedlichen Instanzen ist, welches die kollektive Selbstwahrnehmung seiner Bürgerinnen und Bürger prägt, als vielmehr ein Netz von allgemeinen Vorstellungen und Erzählungen, die im kulturellen Gedächtnis gespeichert sind und nicht selten in vordemokratische Zeiten zurückreichen. Zu politischen Einflussgrößen wurden diese Vorstellungen und Erzählungen vor allem im 19. Jahrhundert. Auch der sich zu dieser Zeit in ganz Europa ausbreitende Nationalismus verdankt ihnen in besonderem Maße seinen Einfluss. Was man als das Wesen der eigenen Nation bzw. des eigenen Volkes bezeichnete, wurde häufig in Form von Symbolen und Mythen gefasst. Seit der Romantik galten Sagen und Lieder als Ausdruck des „Volksgeistes“ bzw. der „Volksseele“. Zu ihnen gesellten sich Erzählungen über herausragende Persönlichkeiten, denen man eine besondere Bedeutung für die Gegenwart zusprach. Wie der britische Historiker Eric Hobsbawm herausstellte, halten einige dieser Erzählungen einer historischen Überprüfung jedoch kaum stand. Er sprach von „erfundenen Traditionen“, deren Funktion es sei, den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb von politischen Gebilden zu festigen, die häufig deutlich jüngeren Ursprungs waren als die von ihnen beschworene Geschichte. Der von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgeschlagene Begriff des Verfassungspatriotismus stellt vor diesem Hintergrund einen Versuch dar, dem vorwiegend mythisch geprägten Nationalismus des 19. Jahrhunderts ein demokratisches Identifikationsmodell entgegenzusetzen.
Seit einer einflussreichen Publikation Benedict Andersons aus dem Jahr 1983 sind Nationen auch als „imaginierte Gemeinschaften“ beschrieben worden.
In seinem Buch Die Erfindung der Nation legte Anderson dar, dass Nationen von ihren Angehörigen häufig nicht nur als sehr alte, sondern auch als natürliche Gebilde wahrgenommen werden. Um imaginierte Gemeinschaften handelt es sich, weil deren Mitglieder sich nicht alle persönlich kennen können. Während Anderson herausstellte, welche Bedeutung der Buchdruck und das sich ihm verdankende Zeitungswesen für die Herausbildung eines Gefühls nationaler Zugehörigkeit besaßen, ging er auf die genauere Beschaffenheit der Imaginationen jedoch nicht näher ein. Will man diese in den Blick nehmen, so bietet sich ein Rückgriff auf sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze an, welche die Bedeutung konzeptueller Metaphern und kultureller Narrative für die kollektive Wahrnehmung betonen. Mit Bezug auf die ersteren wiesen George Lakoff und Mark Johnson in ihrem 1980 erschienenen Buch Leben in Metaphern darauf hin, dass man diese nicht mit rhetorischen Figuren im klassischen Sinne verwechseln sollte. Vielmehr bilden sie Denkmuster, auf die sich von standardisierten Redewendungen zurückschließen lässt. Nicht selten verbinden sich mit solchen Mustern, derer sich Sprecherinnen und Sprecher oft gar nicht bewusst sind, auch unausgesprochene Werturteile. So wird beispielsweise Helligkeit in der Regel als etwas Positives, Dunkelheit dagegen als etwas Negatives wahrgenommen. Schon der biblische Schöpfungsbericht setzt dem ursprünglich herrschenden kosmischen Chaos das Licht als ordnende Kraft entgegen. Um eine alltagssprachliche Wendung wie „Mir geht ein Licht auf“ zu verstehen, bedarf es jedoch keines religiösen Bewusstseins. Im 18. Jahrhundert etwa, das seit Immanuel Kant nicht zufällig als Epoche der „Aufklärung“ metaphorisiert wird, stellte das „Licht der Erkenntnis“ etwas Säkulares dar. Welchen Einfluss solche Wertvorstellungen, die Lakoff und Johnson als „Orientierungsmetaphern“ bezeichnen, im politischen Bereich gewinnen können, zeigt sich in der im 19. Jahrhundert verbreiteten Wahrnehmung Afrikas als „dunklem Kontinent“. So empfanden es im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert europäische Autoren offenbar nicht als problematisch, von der Hautfarbe der indigenen Bevölkerung auf deren vermeintliche intellektuelle Rückständigkeit zu schließen. Was hier für die konzeptuellen Metaphern gesagt wurde, gilt im Wesentlichen auch für die mit ihnen verbundenen kulturellen Narrative. Wenn etwa der britische Schriftsteller Rudyard Kipling die territoriale Ausdehnung des europäischen Herrschaftsgebiets am Ende des 19. Jahrhunderts als selbstauferlegte „Bürde des weißen Mannes“ beschrieb, dann ließ er damit eine rücksichtlos betriebene Kolonialpolitik wie eine fromme Legende erscheinen.
Ambivalenzen
Im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Wirkung erscheinen konzeptuelle Metaphern und kulturelle Narrative grundsätzlich ambivalent. Ihr hauptsächlicher Vorteil besteht darin, dass sie den Mitgliedern einer Gesellschaft einen gemeinsamen Referenzrahmen zur Verfügung stellen, über den sich diese nicht erst verständigen müssen, um erfolgreich miteinander kommunizieren zu können. Indem Metaphern und Narrative die vielfältigen Eindrücke, mit denen Menschen in ihrem Alltagsleben konfrontiert sind, strukturieren und für die gemeinsame Erinnerung verfügbar machen, bieten sie eine Orientierungshilfe und wirken sinnstiftend. Einer Bewusstwerdung über ihre häufig biblischen oder antiken Vorbilder bedarf es dazu nicht. So steht die im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten populär gewordene Vorstellung, die Eroberung des nordamerikanischen Kontinents durch europäische Einwanderer sei ein gottgewollter Prozess („manifest destiny“), zwar in enger Verbindung mit der im Alten Testament geschilderten Landnahme durch das Volk Israel, doch war für die Verfestigung des kollektiven Selbstbildes der USA als „God’s own country“ ein expliziter Bezug auf das biblische Geschehen keineswegs erforderlich.
Konzeptuelle Metaphern und kulturelle Narrative sind vor allem durch eine Komplexitätsreduktion wirksam (Koschorke 2012). Die gesellschaftliche Wirklichkeit erscheint in ihnen einfacher, als sie ist. In dieser Vereinfachung liegt nicht nur ein Vorzug, sondern auch eine Gefahr. Indem Metaphern und Erzählungen sich auf das vermeintlich Wesentliche konzentrieren, erleichtern sie die alltägliche Kommunikation, fördern den gesellschaftlichen Zusammenhalt und besitzen eine identitätsstiftende bzw. -verstärkende Wirkung. Diese wird jedoch regelmäßig um den Preis einer Vernachlässigung bzw. Ausblendung anderer Wirklichkeitsaspekte erzielt (Lakoff/Johnson 2004, 187). So mag der „manifest destiny“-Gedanke für die euroamerikanische Bevölkerung zwar eine identitätsstiftende Funktion besessen haben, doch blendete er kollektive Erfahrungen der indigenen Bevölkerung, wie auch der afroamerikanischen Bevölkerung, nahezu vollständig aus. Erst im Zuge gesellschaftlicher Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre begann sich das tradierte Geschichtsbild allmählich zu wandeln. Das bis dahin gepflegte nationalgeschichtliche Narrativ büßte seine Vormachtstellung zunehmend ein und erfuhr eine Ergänzung durch Darstellungen anderer ethnischer Gruppen.
Das Beispiel der USA macht deutlich, dass kulturelle Metaphern und Narrative auch zur Verfestigung kultureller Vorurteile beitragen können. Nicht selten verbindet sich mit ihnen eine Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen.
So begriff sich etwa das deutsche Kaiserreich nach seiner Gründung im Jahr 1871 als protestantisch geprägt. Im Kontext des von Otto von Bismarck geführten „Kulturkampfes“ erschien der frühneuzeitliche Reformer Martin Luther vielen Deutschen wie ein Nationalheld; katholische Traditionen drohten in der öffentlichen Wahrnehmung dagegen ins Abseits zu geraten. Verallgemeinerungen dieser Art prägten auch viele völkerpsychologische Traktate des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dass Stereotype vom ordnungsliebenden Deutschen, vom pragmatischen Briten, vom genießerischen Franzosen oder vom heißblütigen Italiener heute allenfalls noch als harmlose Folklore wahrgenommen werden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie noch im frühen 20. Jahrhundert einen festen Bestandteil landeskundlicher Darstellungen bildeten. Nicht auszuschließen ist, dass sie sich in Zeiten gesellschaftlicher Krisen oder politischer Konflikte schnell wiederbeleben lassen.
Als sich das im 19. Jahrhundert vielerorts entstandene Nationalbewusstsein gegen Ende des Jahrhunderts zu einem aggressiven Nationalismus steigerte, dienten kulturelle Metaphern und Erzählungen nicht selten als Rechtfertigung für die Durchsetzung innen- und außenpolitischer Ziele. So etablierte sich im Nachgang der Befreiungskriege in Deutschland die Vorstellung vom „Erbfeind“ Frankreich. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte Johann Gottlieb Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation (1808) die These aufgestellt, die Franzosen seien den Deutschen kulturell unterlegen, weil sie zur Zeit der römischen Besatzung ihre angestammte germanische Sprache aufgegeben hätten. Dahinter stand die fragwürdige Annahme, dass zwischen Volk und Sprache eine die Zeiten überdauernde, natürliche Beziehung bestünde. Mit der Preisgabe der ihnen angestammten Sprache, so schrieb Fichte, hätten die Franzosen gleichsam sich selbst aufgegeben. Nur der Deutsche, so heißt es in Abgrenzung gegenüber den Franzosen, besitze „wahrhaft ein Volk“, und nur er sei der „eigentlichen und vernunftgemäßen Liebe zu seiner Nation fähig“ (Fichte 1978, 125). In Zeiten außenpolitischer Bedrohung war es offenkundig Fichtes Bestreben, bei seinen Landsleuten ein Gefühl der kulturellen Überlegenheit hervorzurufen und damit deren Widerstandswillen zu wecken. Verallgemeinernde Vorstellungen über die eigene wie über die fremde Kultur verstärken sich in seinem Text gegenseitig. Während Fichte den Franzosen attestierte, seit der Französischen Revolution „in einer willkürlichen Satzung erstorben“ zu sein (Fichte 1978, 125), und damit den Verfassungsgedanken zugleich als etwas Fremdländisches hinstellte, sprach er der imaginierten Gemeinschaft der Deutschen ein natürliches Volksempfinden zu (siehe den Beitrag von Jansen in diesem Heft).
Von Volkskörpern und Heldentaten
Hinter Fichtes Erzählung vom kulturellen „Absterben“ der Franzosen verbirgt sich eine Vorstellung, die im europäischen Denken eine lange Tradition besitzt. Gemeint ist das Bild vom politischen Gemeinwesen als Körper. Wenn Thomas Hobbes in seinem Buch Leviathan 1651 den modernen Staat als einen künstlichen „body politic“ charakterisierte, dann behielt er dieses traditionelle Bild zwar bei, deutete es aber in seinem Sinne um. Hobbes hing einem mechanistischen Weltbild an und beschrieb den politischen Körper nicht als ein natürliches, sondern als ein künstliches Wesen. Nach seiner Vorstellung sollte das noch zu bildende Gemeinwesen „ein Kunstwerk oder ein künstlicher Mensch“ sein, der den natürlichen Menschen an Umfang und Kraft bei weitem übertraf (Hobbes 1980, 5). Die oberste Gewalt im Staate verglich Hobbes mit der Seele des Menschen, die Beamten mit den Gliedmaßen, die Gesetze mit den Nerven usw.
Hobbes’ politischer Körper sah zwar keine demokratische Kontrolle vor, doch begründete der Autor mit der Idee eines abzuschließenden Gesellschaftsvertrags immerhin den modernen Verfassungsgedanken. In späteren Jahrhunderten verbanden sich mit dem politischen Körper, anders als bei Hobbes, wieder Bilder des Natürlichen. In seiner während des deutschen Vormärz verfassten Schrift Der hessische Landbote (1834) versah Georg Büchner das Bild zudem mit biblischen Konnotationen. In Büchners Text ist der Fürst kein integraler Bestandteil des politischen Körpers, sondern ein diesen bedrohender Parasit. Er erscheint als monsterhafter „Blutigel“ mit satanischen Zügen, der dem Volk seine Kraft entzieht. Wenn Büchner das Volk als einen „Scheinleichnam“ charakterisierte, dessen „Auferstehung“ kurz bevorstünde, dann verbarg sich darin zudem eine Anspielung auf das im Neuen Testament geschilderte Ostergeschehen. Der Zweck solcher Metaphorisierungen scheint klar: die erwartete politische Umwälzung gewinnt den Charakter eines sakralen Ereignisses.
Um sich als effektvoll zu erweisen, müssen solche rhetorischen Strategien von den Rezipienten freilich nicht durchschaut werden.
Ganz im Gegenteil verdankt sich ihre Suggestivität gerade einem impliziten Bezug zu den im kollektiven Bewusstsein gespeicherten Bildern und Erzählungen. Diese können bei Bedarf auch ausgewechselt werden. Um ein Gemeinwesen und seine Bedrohungen zu illustrieren, ist neben der Körpermetapher seit langem etwa auch das Bild des Gartens beliebt. Schon in Shakespeares Drama Richard II. erklärt ein Gärtner seinem Gehilfen, das gegenwärtige Königreich England sei ein „See-umzäunter Garten“, der drohe, von allerlei Unkraut und Ungeziefer überwuchert zu werden. Gemeint ist damit die Verschwendungssucht höfischer Günstlinge. In enger Beziehung zum Bild des Gartens steht auch die Metapher der kulturellen Verwurzelung. Hier besteht die reduktive Funktion darin, historische Prozesse wie einen botanischen Vorgang erscheinen zu lassen. Das menschliche Gemeinwesen wird letztlich mit einer Pflanze verglichen. Eine neue suggestive Kraft gewannen die traditionellen Naturmetaphern im 19. Jahrhundert. Angeregt durch Erkenntnisse im Bereich der Mikrobiologie wurden vermeintliche gesellschaftliche Bedrohungen nun als Bakterien und Viren dargestellt, die deshalb besonders gefährlich erschienen, weil sie im Verborgenen wirkten. Was alle diese Vorstellungen miteinander verbindet, ist eine Konzeptualisierung von sozialen und politischen Entwicklungen als Naturereignissen.
Wie bereits angedeutet, verstärken sich konzeptuelle Metaphern und kulturelle Narrative häufig wechselseitig. So verknüpfen sich etwa mit der Vorstellung, eine Nation verhalte sich wie ein Lebewesen, häufig narrative Muster, in denen Geburt, Wachstum, Blütezeit, Reifestadium und Verfall die zentralen Motive bilden. Inspiriert durch die Evolutionstheorie gesellten sich im späten 19. Jahrhundert noch Erzählungen von kollektiven Existenzkämpfen und drohender Degeneration hinzu. Weitere Motive wie Sieg und Niederlage oder Schuld sind auch aus der literarischen Tradition bekannt. Im Hinblick auf die kollektive Selbst- und Fremdwahrnehmung wirken solche Erzählungen zumeist homogenisierend (Koschorke 2012). Identitätsstiftung nach innen und Abgrenzung nach außen verhalten sich dabei wie die zwei Seiten einer Münze.
So wie literarische Erzählungen besitzen auch kulturelle Narrative ihre Protagonisten. Deren Vorbilder finden sich in antiken Epen oder auch in christlichen Legenden. Besonders im 19. Jahrhundert bildete sich die Tendenz heraus, politische Entwicklungen als das Ergebnis von Handlungen herausragender Persönlichkeiten zu deuten, wobei der Geniekult des späten 18. Jahrhunderts und der politische Aufstieg Napoleon Bonapartes daran nicht unschuldig gewesen sein dürften.
Der britische Autor Thomas Carlyle führte in seinem Buch Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte (1841) die gesamte Menschheitsgeschichte auf die Taten „großer Männer“ zurück. Weil er der Auffassung war, dass nur individueller Heldenmut geschichtliche Prozesse in Gang setze, charakterisierte Carlyle die Nationalgeschichte als ein „heroisches Epos“. Dass der Autor den modernen Verfassungsgedanken als totes Regelwerk ablehnte, verwundert dabei nicht. Tatsächlich erscheint der Weg vom Carlyle’schen Heldenbegriff zu den Führerkulten des 20. Jahrhunderts nicht allzu weit.
Wie sehr sich Carlyle mit seinem Heldenbegriff im Einklang mit seiner Zeit befand, zeigt sich unter anderem in der Art und Weise, auf die man sich im Deutschen Kaiserreich an die Varusschlacht des Jahres 9 n. Chr. erinnerte. Schon Martin Luther hatte den Namen des germanischen Heerführers Arminius, der seine Karriere eigentlich dem Römischen Reich verdankte, in „Hermann“ eingedeutscht. Eingedenk seines Sieges über den römischen Feldherrn Varus errichtete man diesem „Hermann“ im 19. Jahrhundert ein monumentales Denkmal im Teutoburger Wald. Dass er dabei zugleich zum Begründer der deutschen Nation stilisiert wurde, ist ein Beispiel für eine „erfundene Tradition“ im Sinne Hobsbawms. Deren Instrumentalisierung für aktuelle politische Anliegen zeigt sich darin, dass die Figur ihr Schwert nicht nach Süden, sondern nach Westen gerichtet hält, wo man zu dieser Zeit den Feind Deutschlands wähnte. Dass Stilisierungen wie diese im nationalistisch geprägten 19. Jahrhundert nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern an der Tagesordnung waren, sei hier nur am Rande erwähnt (Näheres dazu in Flacke 2001 und Hinz 2023).
Befeuert wurde das epische Geschichtsverständnis nicht zuletzt durch Historiker. Für den deutschsprachigen Bereich lässt sich Heinrich von Treitschke anführen, in dessen Werk Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert (1879–1894) die von Thomas Carlyle beschworenen „großen Männer“ tatsächlich den Ton angeben. Einer von ihnen war der schon erwähnte Johann Gottlieb Fichte. Mit seinen Reden an die deutsche Nation, so Treitschke, habe Fichte die durch Napoleon Gedemütigten „emporgerissen“. „So groß, so kühn, so selbstbewusst“ wie lange zuvor niemand habe er seinen Lesern die „unverwüstliche Kraft und Majestät des deutschen Wesens“ vor Augen geführt (Treitschke 1934, I, 239). In solchen Sätzen erscheint Fichte weniger als Philosoph denn als „Tatmensch“.
Dabei dient das gezeichnete Heldenporträt auch dazu, der Idee des Weltbürgertums, wie Immanuel Kant und Friedrich Schiller sie im 18. Jahrhundert noch vertreten hatten, eine Absage zu erteilen.
Wie leicht sich eine heroisierende Geschichtsschreibung für politische Zwecke instrumentalisieren ließ, kann ein Zitat Wilhelms II. verdeutlichen. In einer Präambel zu dem 1905 erschienenen populärgeschichtlichen Kompendium Deutschlands Ruhmeshalle schrieb der deutsche Kaiser: „Je mehr und eifriger und eingehender die Geschichte dem Volke eingeprägt wird, desto sicherer wird es Verständnis für seine Lage gewinnen und dadurch in einheitlicher Weise zu großartigem Handeln und Denken erzogen werden.“ (Wilhelm II. 1905) Die propagandistische Funktion zeitgenössischer Nationalgeschichtsschreibung wird hier bezeichnenderweise nicht einmal geleugnet. Was aus heutiger Sicht wie ein Aufruf zur politischen Manipulation erscheinen mag, wird vom Kaiser als „Prägung“ des nationalen Bewusstseins explizit begrüßt.
Nur neun Jahre später sollte den Soldaten des Ersten Weltkriegs das in der kaiserlichen Präambel beschworene „großartige Handeln“ tatsächlich abverlangt werden. In seinem Aufruf „An das deutsche Volk“ vom 6. August 1914 stellte Wilhelm II. lapidar fest: „So muss denn das Schwert entscheiden.“ Die bereits entwickelten, industriell gefertigten Waffensysteme ausblendend, beschwor der Kaiser mit dieser Wortwahl eine von tapferen Recken bevölkerte, mittelalterliche Welt. Vieles spricht dafür, dass es solche anachronistischen Bilder waren, die sich hinter dem sprichwörtlichen „Geist von 1914“ verbargen. Mit der Wirklichkeit des nachfolgenden Krieges hatten sie wenig zu tun.
Dass heroisierende Geschichtserzählungen in Krisenzeiten nicht nur in autoritären, sondern auch in demokratischen Gesellschaften einflussreich werden können, zeigt die Wirkungsgeschichte von James Truslow Adams’ 1931 veröffentlichtem Buch The Epic of America. Darin beschrieb der Autor die Geschichte seines Landes als eine Abfolge großer Taten des „common man“, womit in diesem Fall vor allem die Nachkommen europäischer Einwanderer gemeint waren. Dass Adams mit seinem Buch zur Zeit der Wirtschaftskrise ganz offensichtlich einen Beitrag zur nationalen Identitätsfindung leisten wollte, lässt unter anderem die im Text fast durchgängig verwendete erste Person Plural erkennen. Wie erfolgreich der Autor mit seiner Schilderung der amerikanischen Geschichte als nationalem Epos war, zeigt sich darin, dass die von ihm geprägte Metapher des „American Dream“ noch heute als überzeitliches Charakteristikum der US-amerikanischen Gesellschaft wahrgenommen wird. Tatsächlich dürfte ihr ursprünglicher Entstehungskontext heute nur noch wenigen Menschen bekannt sein.
Fazit
Auch wenn konzeptuelle Metaphern und kulturelle Narrative aus dem gesellschaftlichen Leben nicht wegzudenken sind, können ihre Wirkungen sehr unterschiedlich sein. Mit ihrer identitätsstiftenden Funktion vermögen sie den Zusammenhalt innerhalb einer sozialen Gruppe zu fördern, wirken aber häufig auch ausgrenzend im Hinblick auf gesellschaftliche Minderheiten oder tragen zur Festigung von Feindbildern bei. Als außerordentlich wirkmächtig erweisen sie sich in Krisenzeiten, wenn der Bedarf an einfachen Erklärungsmustern besonders groß ist.
Wie leicht sich in Zeiten politischer Krisen komplexe politische Entwicklungen etwa auf das einfache Erklärungsschema von Schuldigen und Opfern reduzieren lassen, zeigt das Beispiel der Weimarer Republik. In einer Gesellschaft, die mit Erscheinungen wie galoppierender Inflation und hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte, fielen Verschwörungserzählungen wie die auf der Nibelungensage basierende Dolchstoßlegende oder der Mythos von einer jüdischen Weltverschwörung auf fruchtbaren Boden. Dass die Basis des letzteren – die erstmals 1903 in Russland erschienenen Protokolle der Weisen von Zion – schnell als Fälschung entlarvt wurde, konnte den fatalen Einfluss des Mythos nicht verhindern. Ebenfalls in den 1920er Jahren verbreitete sich im transatlantischen Raum die Mär von einem „Untermenschentypus“, der angeblich die Zersetzung und Zerstörung der europäischen Zivilisation im Schilde führe.
So absurd solche Erzählungen aus heutiger Perspektive auch erscheinen mögen, zeigten sie in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik doch ihr zerstörerisches Potenzial. Verschwörungserzählungen profitieren von der besonderen Suggestivität, die kollektive Vorstellungen in Krisenzeiten entfalten. Auch in Beispielen aus jüngerer Zeit paart sich darin regelmäßig eine pauschale Verunglimpfung des politischen Gegners mit einer Glorifizierung dessen, was als die eigene Gemeinschaft imaginiert wird.
Dass die therapeutische Funktion, welche Metaphern und Narrative in Krisenzeiten erfüllen, nicht notwendigerweise mit der Kreation äußerer Feindbilder verbunden sein muss, zeigt die Geschichte des 20. Jahrhunderts jedoch ebenso. Zur selben Zeit, als in Deutschland eine allgemeine politische Radikalisierung das Ende der Demokratie einläutete, bildete sich in den USA eine Rhetorik der kollektiven Selbstkritik heraus, die nicht zuletzt durch die prophetischen Bücher des Alten Testaments inspiriert war. Tatsächlich lesen sich einige Passagen aus dem schon erwähnten Buch von James Truslow Adams wie ein kollektives Schuldbekenntnis. Im Interesse kurzfristiger Profitmaximierung, so klagt der Autor, habe man das Prinzip wechselseitiger Verantwortung, welches die ersten Pioniergemeinden noch gepflegt hätten, sträflich vernachlässigt. Im Stil alttestamentlicher Propheten wird zu einer allgemeinen Rückbesinnung auf verlorene Werte aufgerufen. Manche der innenpolitischen Reformen, welche die Roosevelt-Administration in den Folgejahren durchführte, muten im Nachhinein tatsächlich wie eine Antwort auf solche Ermahnungen an. Zu jenen Autoren, die sich mit den innenpolitischen Zielen der Roosevelt-Administration identifizierten, gehörte auch der spätere Nobelpreisträger John Steinbeck. In seinem Roman Früchte des Zorns (1939) stehen kollektiv geteilte Erzählungen nicht im Dienst einer nationalistischen Propaganda, sondern fungieren als Trostspender für Menschen, die infolge der Wirtschaftskrise obdachlos geworden sind und am Rande der großen Landstraßen spontane Notgemeinschaften bilden. „Und die Leute hörten zu, und ihre Gesichter wurden ruhig vom Zuhören“, heißt es im Text. „Die Geschichtenerzähler, die ihre Aufmerksamkeit spürten, sprachen in großen Rhythmen, sprachen in großen Worten, weil die Geschichten groß waren, und die Zuhörer wurden groß mit ihnen.“ (Steinbeck 1996, 423)
Trotz der nicht zu unterschätzenden Wirkung, die konzeptuelle Metaphern und kulturelle Narrative auf menschliche Gemeinschaften ausüben können, wäre es falsch, anzunehmen, Menschen seien ihnen hilflos ausgesetzt. Sowohl George Lakoff und Mark Johnson wie auch Albrecht Koschorke betonen, dass eine kritische Reflexion, und ggf. auch eine Revision, tradierter Denk- und Redeweisen grundsätzlich möglich ist. Wenn etablierte metaphorische Konzepte und narrative Schemata sich als politisch problematisch herausstellen, dann lassen sie sich modifizieren oder auch ersetzen. Von welchen Metaphern und Narrativen sich eine Gesellschaft leiten lassen will, liegt letztlich also in der Verantwortung ihrer Mitglieder. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, bedarf es jedoch intensiver Bildungsanstrengungen. Deren Ziel muss die Förderung eines ebenso faktenorientierten wie kritischen Urteilsvermögens sein. Tatsächlich könnte hiervon nicht weniger abhängen als der Fortbestand unserer gegenwärtigen Demokratien.
Literatur
Anderson, Benedict 2006: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [1983]. Rev. Aufl. London/New York.
Fichte, Johann Gottlieb 1978: Reden an die deutsche Nation [1808]. Hamburg.
Flacke, Monika (Hg.) 2001: Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama. 2. Aufl. München/Berlin.
Hinz, Felix 2023: Historische Mythen im Geschichtsunterricht: Theorie und Zugriffe für die Praxis. Frankfurt/M.
Hobbes, Thomas 1980: Leviathan [1651]. Übers. Jacob Peter Mayer. Stuttgart.
Hobsbawm, Eric 1983: “Introduction: Inventing Traditions”. In: Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge, S. 1–14.
Koschorke, Albrecht 2012: Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/M.
Lakoff, George/Johnson, Mark 2004: Leben in Metaphern: Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern [1980]. Übers. Astrid Hildenbrand. 4. Aufl. Heidelberg.
Steinbeck, John 1996: Früchte des Zorns [1939]. Übers. Klaus Lambrecht. Düsseldorf/Zürich.
Treitschke, Heinrich von 1934: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert [1879–1894]. Bd. 1: Zusammenbruch und Erneuerung. Hg. v. Heinrich Heffter. Leipzig.
Wilhelm II. 1905: Präambel zu Deutschlands Ruhmeshalle: Ein Buch für Haus und Familie. Hg. v. Hermann Müller-Bohn. 2 Bde. Bd. 1. Berlin.