Imaginierte Gemeinschaften: Metaphern und Narrative
„Die Nation, wenn sie entsteht, bestimmt selbst die Merkmale, die sie bestimmen.“ Ivan Katsarskis Diktum macht das historisch Bedingte und sozial Konstruierte dieser zentralen geschichtlichen und soziologischen Größe deutlich.
Moderne Gesellschaften sind komplexe Gebilde. Dies gilt insbesondere für den demokratischen Rechtsstaat. Hierin mag eine Erklärung dafür liegen, dass es in Krisenzeiten weniger das politische System mit seinen unterschiedlichen Instanzen ist, welches die kollektive Selbstwahrnehmung seiner Bürgerinnen und Bürger prägt, als vielmehr ein Netz von allgemeinen Vorstellungen und Erzählungen, die im kulturellen Gedächtnis gespeichert sind und nicht selten in vordemokratische Zeiten zurückreichen. Zu politischen Einflussgrößen wurden diese Vorstellungen und Erzählungen vor allem im 19. Jahrhundert. Auch der sich zu dieser Zeit in ganz Europa ausbreitende Nationalismus verdankt ihnen in besonderem Maße seinen Einfluss. Was man als das Wesen der eigenen Nation bzw. des eigenen Volkes bezeichnete, wurde häufig in Form von Symbolen und Mythen gefasst. Seit der Romantik galten Sagen und Lieder als Ausdruck des „Volksgeistes“ bzw. der „Volksseele“. Zu ihnen gesellten sich Erzählungen über herausragende Persönlichkeiten, denen man eine besondere Bedeutung für die Gegenwart zusprach. Wie der britische Historiker Eric Hobsbawm herausstellte, halten einige dieser Erzählungen einer historischen Überprüfung jedoch kaum stand. Er sprach von „erfundenen Traditionen“, deren Funktion es sei, den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb von politischen Gebilden zu festigen, die häufig deutlich jüngeren Ursprungs waren als die von ihnen beschworene Geschichte. Der von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgeschlagene Begriff des Verfassungspatriotismus stellt vor diesem Hintergrund einen Versuch dar, dem vorwiegend mythisch geprägten Nationalismus des 19. Jahrhunderts ein demokratisches Identifikationsmodell entgegenzusetzen.
Seit einer einflussreichen Publikation Benedict Andersons aus dem Jahr 1983 sind Nationen auch als „imaginierte Gemeinschaften“ beschrieben worden.
In seinem Buch Die Erfindung der Nation legte Anderson dar, dass Nationen von ihren Angehörigen häufig nicht nur als sehr alte, sondern auch als natürliche Gebilde wahrgenommen werden. Um imaginierte Gemeinschaften handelt es sich, weil deren Mitglieder sich nicht alle persönlich kennen können. Während Anderson herausstellte, welche Bedeutung der Buchdruck und das sich ihm verdankende Zeitungswesen für die Herausbildung eines Gefühls nationaler Zugehörigkeit besaßen, ging er auf die genauere Beschaffenheit der Imaginationen jedoch nicht näher ein. Will man diese in den Blick nehmen, so bietet sich ein Rückgriff auf sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze an, welche die Bedeutung konzeptueller Metaphern und kultureller Narrative für die kollektive Wahrnehmung betonen. Mit…
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