Der Autor

Dr. Leonid Luks ist Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine in vergleichender Perspektive

Mehrere Analytiker gehen davon aus, dass der von Putin angezettelte Angriffskrieg gegen die Ukraine, unabhängig von seinem Ausgang, auch das Ende seines Regimes einleiten werde. Die Geschichte Russlands verläuft nicht selten zyklisch. Welche innenpolitischen Folgen hatten andere vergleichbare Kriege, die Russland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geführt hat?


Der Krimkrieg als Folge von Fehlkalkulationen 
Dem 1853 ausgebrochenen Krimkrieg ging, ähnlich wie dem heutigen Putinschen Angriffskrieg gegen die Ukraine, eine Reihe von Fehlkalkulationen voraus. Sie bezogen sich in erster Linie auf die Unterschätzung des Westens durch die russische Führung. Die These von der westlichen Dekadenz, die zurzeit von Putin und seiner Entourage wiederholt vertreten wird, war auch im Petersburger Russland um die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet. Dies insbesondere nach der Revolution von 1848/49, die den westlichen Teil des europäischen Kontinents außerordentlich stark erschütterte. Zar Nikolaus I. (1825–1855), dessen Herrschaft immer despotischere Züge angenommen hatte, war davon überzeugt, dass die Westmächte nicht imstande sein würden, solidarisch auf seine Annexionspläne in Bezug auf das Osmanische Reich zu reagieren. Die Warnungen seiner zur Vorsicht neigenden Berater, z. B. des Außenministers Nesselrode, ließ Nikolaus I. nicht gelten (vgl. Rich 1985, 16 f.; 23 f.). Da der Zar das Habsburger Reich durch die Unterdrückung der ungarischen Revolution von 1848/49 vor einem Zusammenbruch praktisch bewahrt hatte, wurde er von den westlichen und den russischen Konservativen als Retter Europas umschmeichelt. Und so glaubte er in einem immer stärkeren Ausmaß an seine Unfehlbarkeit. Zweifel an seiner Politik habe er nun nicht mehr zugelassen, so der russische Historiker Evgenij Tarle. Daher sei es ihm kaum möglich gewesen, Fehler bei der Beurteilung der damaligen internationalen Lage zu erkennen (Tarle 1941, Bd. 1, 76 ff.; 140–143). So war er davon überzeugt, dass Preußen, vor allem aber Österreich, sich als legitimistische Mächte mit Russland bei allen seinen außenpolitischen Vorhaben solidarisieren würden (Simpson 1966, 249 ff.). An das solidarische Vorgehen der Westmächte hingegen glaubte er nicht. Dies insbesondere nach der Krönung Louis Bonapartes – des Neffen Napoleons I. – zum Kaiser von Frankreich im Dezember 1852. Ein Bündnis Großbritanniens mit einem bonapartistischen Frankreich hielt Nikolaus I. angesichts der traumatischen Erinnerungen der Briten an die Auseinandersetzung mit dem Onkel Napoleons III. für ausgeschlossen. Die Ausgangsposition für die endgültige Lösung der „orientalischen Frage“ schien ihm optimal zu sein. Deshalb fühlte er sich relativ sicher, als er zu Beginn des Jahres 1853 seinen politischen Kurs gegenüber dem Osmanischen Reich verschärfte. Dieses Vorgehen rief allerdings einen für den Zaren unerwarteten Solidarisierungseffekt bei den wichtigsten europäischen Regierungen…

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