Der Autor

Prof. Dr. Uwe Jun hat den Lehrstuhl für Westliche Regierungssysteme – Das politische System Deutschlands an der Universität Trier inne.

Volksparteien ohne Volk?

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland regiert eine Dreierkoalition, in der die Partei, die den Kanzler stellt, kaum 25 Prozent der Stimmen erringen konnte. Zeigt das einen Umbruch des Parteiensystems an? Oder überwiegen doch die Kontinuitäten?

Vielfältige Fragen beschäftigen derzeit die Parteiensystemforschung: Befinden wir uns spätestens nach Bildung der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP in einer grundlegenden Umbruchphase des Parteien­wettbewerbs in Deutschland? Ist das Zeitalter der Volksparteien endgültig an sein Ende gekommen? Weicht der moderate Pluralismus der bundesdeutschen Vergangenheit einem polarisierten Pluralismus, wie wir ihn in etwa in südeuropäischen Ländern deutlicher erleben? Oder sind die Veränderungen nur begrenzt und weisen nur graduelle Ausmaße auf? Zeigen die Wahlergebnisse, gerade in den Bundesländern, eine immer stärkere Entkoppelung der Wähler von den Parteien, getreu dem Motto: Auf die Person der Spitzenkandidaten kommt es an? Lässt sich also von zunehmender Personalisierung des Parteienwettbewerbs sprechen? 

Ein Wandel des deutschen Parteiensystems ist jedenfalls unübersehbar. Wir sehen einerseits eine zunehmende Fragmentierung (beschreibt die Anzahl der Parteien und deren Größenordnung zueinander) und Polarisierung (untersucht Unterschiede in den ideologisch-programmatischen Vorstellungen der relevanten Parteien) des Parteienwettbewerbs sowie spürbar erhöhte Volatilität im Wählerverhalten durch eine merkliche Zunahme von Wechselwählern. Andererseits erscheint das deutsche Parteiensystem im internationalen Vergleich relativ stabil: Noch immer bestimmen die sich selbst dem Typus der Volkspartei zurechnenden Parteien CDU/CSU und SPD den Wettbewerb, wenngleich in deutlich geringerer Intensität. Immer wieder aufscheinende Aspekte der Stabilität und Regierbarkeit der deutschen Parteiendemokratie konnten bislang ohne manifeste Krisenerscheinungen bewältigt werden, wie zuletzt die Bildung der Ampelkoalition bestätigte. Also viel medialer Rauch und wenig politisches Feuer? 

Es gilt zunächst einen Indikator zu betrachten, der auf spürbaren Wandel hindeutet. Die gestiegene Fragmentierung ist nicht nur auf die Zunahme der Zahl der Wettbewerber zurückzuführen, sondern auch auf die seit vier Jahrzehnten schleichende, sich aber zuletzt beschleunigende gesellschaftliche Erosion des den Parteienwettbewerb lange Zeit prägenden Typus der Volkspartei. Sowohl CDU als auch CSU und SPD verlieren seit den 1980er Jahren, zuletzt zunehmend an Mitgliedern und Wählern – zusammen kamen diese drei Parteien bei der letzten Bundestagswahl im September 2021 auf gerade noch einmal 49,8 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen (siehe Abb. 1). Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik lagen die drei Parteien bei Bundestagswahlen damit unter der 50-Prozent-Marke. Für die Unionsparteien stellte das Wahlergebnis 2021 den historischen Tiefpunkt…

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