Wem gehört die Wahrheit?
Wissenschaft, Öffentlichkeit und die demokratische Gesellschaft
Demokratie lebt von gesellschaftlicher Teilhabe und freier Debatte. Eine kritische Öffentlichkeit ist daher Herzstück demokratischer Gesellschaften. Sie sorgt dafür, dass politische Macht nicht im Verborgenen agiert, sondern sich öffentlicher Kritik und Diskussion stellen muss. Wie viel Dissens eine Gesellschaft aushalten kann und wer über verbindliche „Wahrheiten“ entscheidet, ist eine alte Frage. Doch wie verlaufen Prozesse gesellschaftlicher Wahrheitsfindung und wie sehen die Konsequenzen für die demokratische Öffentlichkeit aus? Eine Antwort aus historischer und
gegenwärtiger Perspektive.
Eine informierte öffentliche Debatte setzt möglichst gleichberechtigten Zugang zu verlässlichen Informationen und offene Diskursräume voraus. Diese Aufgabe übernehmen traditionell die Medien, Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie Museen und Bibliotheken. Zunehmend aber beziehen Menschen ihre Informationen auch aus digitalen Räumen, in denen Algorithmen die Sichtbarkeit von Positionen steuern und Desinformationskampagnen die öffentliche Meinung manipulieren können (siehe die Beiträge von Silke van Dyk und von Marcel Schütz in diesem Heft).
Wie lässt sich also gewährleisten, dass öffentliche Debatten auf Basis von Tatsachen geführt werden, ohne unzulässig in die Meinungsbildung einzugreifen? Wer entscheidet, was wahr ist und was Lüge? Wo verläuft die Grenze zwischen gesellschaftlichem Konsens und empirischer Wahrheit? Wann wird eine abweichende Meinung zu einem Fall für staatliche Kontrolle oder Sanktion? Diese Fragen beschäftigen politische Theoretiker und Philosophinnen seit Jahrhunderten. Denn so evident es scheint, dass ein Mindestmaß an gemeinsam geteiltem Wirklichkeitsverständnis Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, so umstritten bleibt die Frage, wie viel Dissens eine Gesellschaft aushalten kann – und wer über die verbindlichen Wahrheiten entscheidet.
Wahrheit und politische Öffentlichkeit –
eine alte Frage neu gestellt
Die Debatte um Wahrheit im politischen Diskurs hat zuletzt wieder an Brisanz gewonnen, als SPD und Union in ihrem Koalitionsvertrag festhielten, dass die „bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Dieser Passus lenkt den Blick auf eine Grundfrage: In welchem Umfang darf der Staat in Prozesse gesellschaftlicher Wahrheitsfindung eingreifen? Dass eine freie Debatte Grundlage des demokratischen Zusammenlebens ist, darüber herrscht breiter Konsens. Fraglich ist jedoch, wie sie in der Praxis gewährleistet werden kann.
Bereits der römische Staatsmann Marcus Tullius Cicero
(106–43 v. Chr.) sah in der
Rhetorik als Kunst der über-
zeugenden Rede das Fundament menschlichen Zusammenlebens und die Voraussetzung politischer Freiheit. Den Niedergang der römischen Republik deutete er nicht nur als institutionelles…