Der Autor

Prof. Dr. Klaus Stüwe hat den Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt inne und ist Vizepräsident der KU.

„Wir werden neue Wege einschlagen“

In ihrer Koalitionsvereinbarung hatte sich die Ampel ein ambitioniertes Reformprogramm für Deutschland vorgenommen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine zwang sie zum ‚Regieren in der Dauerkrise‘.

„Wir werden neue Wege einschlagen.“ Als Olaf Scholz am 15. Dezember 2021 an das Rednerpult des Deutschen Bundestags trat, um unter dieser Überschrift seine erste Regierungserklärung abzugeben, konnte niemand ahnen, in welcher Weise diese Aussage wenige Monate später bittere Realität werden würde. Keine drei Monate nach seiner Antrittsrede zwang Wladimir Putins Angriff gegen die Ukraine Scholz und seine Koalition dazu, das Regierungshandeln völlig neu auszurichten. Ob Ukrainekrieg, Corona-Pandemie, Gasknappheit oder Inflation – praktisch seit ihrem Amtsantritt ist die Ampelkoalition im Dauerkrisenmodus. 

Doch an diesem Dezembertag herrschte in Berlin Aufbruchstimmung. Nach 16 Jahren CDU-geführter Bundesregierungen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel war die neue Regierung von einem Bündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gebildet worden, einer so genannten „Ampelkoalition“ (Lehmann 2022). Nicht einmal zwei Monate hatten die Koalitionsverhandlungen zwischen den drei Parteien gedauert. Bereits Ende November 2021 einigte sich das Dreierbündnis, von dem FDP-Chef Christian Lindner noch vier Wochen vor der Bundestagswahl gesagt hatte, „Mir fehlt die Fantasie“, auf einen Koalitionsvertrag. Am 8. Dezember folgte die Wahl Scholz’ zum Bundeskanzler und die Ernennung der Minister. Schon eine Woche später erschien der neue Regierungschef im Deutschen Bundestag, um mit seiner ersten Regierungserklärung (Stüwe 2015) die Eckpunkte der künftigen Regierungspolitik im Parlament zu präsentieren. 

Die Dynamik aus der Regierungsbildung war auch in der Rede des Bundeskanzlers spürbar. Scholz sprach gleich zu Beginn von „Aufbruch und Fortschritt“. Wie zu erwarten, bildete die Corona-Pandemie einen ersten Schwerpunkt der Rede. Scholz bat die Bürgerinnen und Bürger, „den Mut nicht zu verlieren“. Er betonte die Bedeutung der Impfkampagne und versprach, die Regierung werde alles tun, was notwendig ist. Dann aber wechselte der Bundeskanzler das Thema und kündigte an: „Die neue Bundesregierung wird unser Land in dieser Wahlperiode zielstrebig auf die kommenden Jahrzehnte vorbereiten“. Die neue Bundesregierung werde eine „Fortschrittsregierung“ sein. Es folgten Aussagen zu den Herausforderungen der kommenden Jahre, denen die Regierung mit innovativen Maßnahmen begegnen wollte. Die Regierung werde neue Wege einschlagen: „Auch da, wo das Bewährte auf den ersten Blick noch funktioniert“. Wo steht die „Fortschrittsregierung“ ein Jahr danach? 


Die Ampel und Corona
Inmitten der vierten Welle der Corona-Pandemie wurde im Dezember 2021 keine Ministerernennung (Grotz/Schroeder 2022) mit so viel Spannung erwartet wie die des Gesundheitsministers. Man müsse im Blick haben, dass die Pandemie noch lange nicht vorbei sei, so Scholz bei der Vorstellung des Kandidaten. „Und deshalb haben sich – anders kann man das nicht sagen – bestimmt die meisten Bürger und Bürgerinnen dieses Landes gewünscht, dass der nächste Gesundheitsminister vom Fach ist, das wirklich gut kann und dass er Karl Lauterbach heißt.“ Gleich nach seinem Amtsantritt stellte der populäre Medizinprofessor die Impfkampagne in den Vordergrund. Für das erste Quartal 2022 initiierte er zusätzliche Bestellungen des Biontech- und Moderna-Impfstoffs und rief zu Boosterimpfungen auf. Der SPD-Minister setzte einen Corona-Expertenrat ein, der die Bundesregierung bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie beraten sollte. 

Doch der Hoffnungsträger konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Der vermeintlich entschlossene Corona-Kurs der Ampelkoalition wurde bereits in den ersten 100 Regierungstagen von Konflikten zwischen den Koalitionspartnern abgelöst. Während es für Lauterbachs Impfkampagne noch Zustimmung innerhalb der Ampelkoalition gab, konnte er sich mit seiner Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht nicht gegen die FDP durchsetzen, die sich seit Beginn der gemeinsamen Regierungszeit als Gegnerin einer Verschärfung von Corona-Regeln zu profilieren versuchte. Das neue Infektionsschutzgesetz sah deshalb lediglich eine einrichtungsbezogene Impfpflicht vor. 

Zu den Konflikten innerhalb der Koalition kamen widersprüchliche Entscheidungen und zum Teil eklatante Kommunikationspannen. Im April 2022 kündigt Lauterbach zunächst an, dass die Isolationspflicht für Corona-Infizierte entfallen solle. Nach massiver Kritik zog er den Vorschlag wieder zurück und räumte nachts in einer Talkshow einen Fehler ein, der falsche Signale gesendet habe. Ebenfalls im April warnte er vor einer möglichen „Killervariante“ des Corona-Virus im Herbst. Experten kritisierten dies als Panikmache, denn das Entstehen einer „Killervariante“ sei nicht absehbar und nicht einmal wahrscheinlich. Im Juni wurde das Ende der kostenlosen Corona-Tests verkündet. Lauterbach räumte ein, dass er die kostenlosen Tests selbst gerne behalten hätte, aber dem Sparzwang von FDP-Finanzminister Christian Lindner nachgegeben habe. Im September sagte Lauterbach der Deutschen Presse-Agentur: „Impfen und Masken bleiben der beste Schutz gegen die erwartete Omikron-Welle“, wenig später wurde auf Druck der FDP dennoch der Wegfall der Maskenpflicht in Flugzeugen verkündet. 

Die Reibereien um die richtige Corona-Politik setzten sich fort, und das Muster bleibt stets dasselbe: Während SPD und Grüne zu mehr Vorsicht mahnen, bremst die FDP. Währenddessen gingen einige Bundesländer ihre eigenen Wege. Eine konsequente politische Linie ist in der Pandemiebekämpfung auch nach einem Jahr Ampel nicht erkennbar. 


Die Ampel und der Klimaschutz 
Ehrgeizige Ziele hatte sich die Ampelkoalition insbesondere in der Klimapolitik gesetzt (Frenz 2022; Fischendick/Thomas 2022). Der Klimaschutz, so Scholz in seiner Antrittsrede, werde „in dieser Bundesregierung zu einer zentralen Querschnittsaufgabe“. Die Regierung wolle sich „gemeinsam daran messen lassen, wie erfolgreich wir diese Aufgabe lösen. Schon im kommenden Jahr werden wir ein umfassendes Sofortprogramm beschließen, das unsere Anstrengungen, Treibhausgase quer durch alle Sektoren zu verringern, verstärkt.“ Scholz zitierte aus dem Koalitionsvertrag, der unter anderem vorsah, dass der Kohleausstieg in Deutschland auf das Jahr 2030 vorgezogen wird. Für Unternehmen soll eine „Superabschreibung“ für Investitionen in Klimaschutz eingeführt werden. Außerdem sollen für Windenergie zwei Prozent der Landesfläche bereitstehen und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. „Unser Ziel ist, dass im Jahr 2030 in Deutschland 15 Millionen Elektroautos unterwegs sind.“ Bis dahin sollen zudem 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien stammen. 

Kaum drei Monate später war alles anders. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde die geplante Energiewende der Ampelkoalition schon nach kurzer Zeit in Frage gestellt. Putins Krieg offenbarte, wie sehr sich Deutschland von fossilen Energieträgern aus Russland abhängig gemacht hatte. Das Drosseln und endgültige Versiegen der Gaslieferungen aus Russland ließ die Befürchtungen wachsen, dass es im Winter 2022/23 zu einer Energieknappheit mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen kommen würde. Vor Ausbruch des Krieges kam mehr als die Hälfte des in Deutschland benötigten Erdgases aus Russland. Die Frage, wie diese Abhängigkeit verringert werden kann, ohne den sozialen Frieden zu gefährden und ohne die klimapolitischen Ziele ganz aufzugeben, wurde zu einer der größten Herausforderungen im ersten Amtsjahr der Regierung Scholz. 

Dass dies zu Spannungen innerhalb der Koalition führen würde, war im Grunde unvermeidlich. Die Grünen fürchteten, die Gaskrise würde die Energiewende verzögern, die SPD hatte die Ängste der Bürgerinnen und Bürger vor steigenden Energiepreisen im Blick, und die FDP sorgte sich um die wirtschaftlichen Folgen für die Unternehmen. 

Trotz dieser Spannungen weist die klimapolitische Bilanz der neuen Bundesregierung nach einem Jahr durchaus Erfolge auf. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerregierung legte die Ampelkoalition bei der Klimapolitik deutlich an Tempo zu. Eine Erhöhung der Ausbauziele für die Erneuerbaren Energien, ein De-facto-Aus für neue Gas- und Ölheizungen ab 2024 auch in Bestandsbauten und ein umfassender Arbeitsplan für mehr Energieeffizienz kann die Ampelkoalition trotz der Gaskrise auf der Haben-Seite für sich verbuchen. Im Mai 2022 stellte die Regierung den Entwurf für ein Klimaschutz-Sofortprogramm vor, das mit rund acht Milliarden Euro ausgestattet werden soll. Bis zum Jahr 2030 sollen die CO2-Emissionen gegenüber 1990 bereits um 65 Prozent sinken, Treibhausneutralität bis spätestens 2045 erreicht werden. 

Doch auch die Klimapolitik sorgte in der Koalition für viel Konfliktstoff. Denn die beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen konnten die kurzfristigen Gas­engpässe nicht beseitigen. Um Versorgungslücken in den Jahren 2022 und 2023 zu schließen, beschloss die Regierung, CO2-schädliche Kohlekraftwerke aus der Reserve holen, um Gas in der Stromerzeugung zu verdrängen. Diese pragmatische, aber unvermeidliche Entscheidung sorgte für Ärger bei den radikalen Klimaschützern unter den Anhängern von Bündnis 90/Die Grünen. Noch mehr Sprengstoff barg die Frage, ob die Laufzeit der drei noch aktiven Kernkraftwerke verlängert werden sollte. Die FDP verlangte angesichts der stark gestiegenen Energiepreise einen Weiterbetrieb aller drei Kraftwerke bis ins Jahr 2024 und gegebenenfalls die Reaktivierung bereits stillgelegter Atommeiler. Dagegen regte sich bei den Grünen, deren Wurzeln auch in der Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre lagen, zum Teil heftiger Widerspruch. Das Vorhaben des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck, zwei von drei noch laufenden Kernkraftwerken für den Notfall bereitzuhalten, brachte ihm viel Kritik von Teilen seiner Partei bei. Als rein wahlkampftaktisches Manöver wurde zudem bewertet, dass die Laufzeit des dritten Atomkraftwerks, des Reaktors Emsland in Niedersachsen, nicht verlängert werden sollte. Zu offensichtlich war, dass dies geschah, um die Wahlchancen von Grünen und SPD bei den Landtagswahlen in diesem Bundesland nicht zu gefährden. 

Erst nach langem Zögern mischte sich Olaf Scholz in den Streit zwischen Grünen und FDP ein und entschied im Oktober unter Berufung auf seine Richtlinienkompetenz als Bundeskanzler, den Betrieb aller drei verbliebenen Kernkraftwerke bis April 2023 zu verlängern. In den Medien wurde eher verhalten zur Kenntnis genommen, wie ungewöhnlich – ja, historisch – dieses Machtwort war. Mit Ausnahme Konrad Adenauers hat kein einziger Bundeskanzler mehr eine Entscheidung mit einem ausdrücklichen Verweis auf die Richtlinienkompetenz getroffen (Holtmann 2008, 76). Angela Merkel (CDU) hatte zwar während ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft gelegentlich damit gedroht. Angewendet hat sie die Richtlinienkompetenz jedoch nie. 

Die AKW-Frage blieb im Übrigen nicht das einzige klimapolitische Dilemma der Ampelkoalition. Auf der Suche nach kurzfristig verfügbarem Ersatz für das Gas aus Russland nahm die Bundesregierung Verhandlungen mit Staaten auf, deren Menschenrechtssituation und Demokratiequalität mehr als fragwürdig erschienen, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Katar und Aserbaidschan. Um die Gas­importe zu ermöglichen, trieb die Bundesregierung den Bau von Flüssiggas-Terminals an der deutschen Küste voran. Auch bei der Entscheidung für diese teuren, klimaschädlichen und energieintensiven Anlagen mussten vor allem die Grünen ihre klimapolitischen Überzeugungen hintanstellen. 


Die Ampel und der Ukrainekrieg 
„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“. Diese Aussage des Bundeskanzlers, die er am 27. Februar 2022 in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestags drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine machte, markierte nicht nur eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik, sondern bedeutete auch die Korrektur einer Serie von Fehleinschätzungen, die die Ukraine- und Russlandpolitik, aber auch generell die Verteidigungspolitik der Ampelregierung geprägt hatte. Die Worte „Verteidigung“ und „Bundeswehr“ waren in der Antrittsrede des Kanzlers gar nicht vorgekommen. Ein Bekenntnis zur Nato als unverzichtbares „Fundament unserer Sicherheit“ kam eher schmallippig daher. Scholz wollte einst der Ukraine weder Waffen liefern noch die Pipeline Nordstream II, mit der zusätzliches russisches Gas nach Deutschland geliefert werden sollte, in Frage stellen. Diese Haltung hatte insbesondere die Verbündeten Deutschlands irritiert. Mit der Zeiten­wenderede des Kanzlers gab die Bundesregierung ihre ablehnende Haltung gegen Waffenlieferungen in die Ukraine auf, stimmte Sanktionsmaßnahmen gegen Russland zu, versprach zusätzliche 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, bekannte sich zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato und kündigte die Beschaffung von Kampfflugzeugen und bewaffneten Drohnen an. In der deutschen Öffentlichkeit bekam Scholz für seine Rede viel Lob. Doch mit seinem überfälligen Kurswechsel überrumpelte Scholz sogar seine eigene SPD-Fraktion. Deutschland begann nun mit Waffenlieferungen, aber die Frage des Umfangs der militärischen Unterstützung für die Ukraine belastete die Ampelkoalition über viele Monate hinweg. Die Konfliktlinien verlaufen hier jedoch eher zwischen der SPD auf der einen Seite und FDP sowie Bündnis90/Die Grünen auf der anderen Seite. Während Scholz und die SPD-Fraktion einen eher vorsichtigen Kurs verfolgen und alles vermeiden wollen, was Deutschland vor dem Hintergrund des atomaren Drohpotenzials Putins zur Kriegspartei werden lassen könnte, dringen FDP und Grüne auf eine deutlichere Unterstützung der Ukraine und befürworten auch die Lieferung schwerer Waffen. 

Bemerkenswert dabei ist vor allem die Kehrtwende der Grünen. Auf ihrem Bundesparteitag im Oktober unterstützten sie mit übergroßer Mehrheit die Waffenlieferungen an die Ukraine, obwohl sie nur ein Jahr zuvor mit dem Wahlversprechen angetreten waren, dass Deutschland keine Waffen mehr in Konfliktgebiete exportieren dürfe. Die radikalen Pazifisten, die früher das Gesicht der Partei geprägt hatten, sind bei den Grünen offensichtlich nur noch eine kleine Minderheit. 


Wirtschaft und Soziales
In seiner Antrittsrede hatte Kanzler Scholz angekündigt, seine „Fortschrittsregierung“ werde „wirtschaftliche Ziele mit sozialen und gesellschaftspolitischen Zielen verbinden“. In der Tat nahm sich die Ampel­koalition auf diesen Feldern viel vor (Schroeder 2022). Die Liste der Vorhaben reicht von der Ankündigung, anstelle von Hartz IV ein „Bürgergeld“ sowie eine „Kindergrundsicherung“ einzuführen (Heinze/Schupp 2022), den Mindestlohn zu erhöhen, mehr Geld für Bildung auszugeben, pro Jahr 400.000 neue Wohnungen zu bauen, Asylverfahren zu beschleunigen, das Einwanderungsrecht zu modernisieren bis hin zur Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre (Austemann 2022) und die Legalisierung von Cannabis. 

Ein Jahr danach ist erst ein Bruchteil der Ankündigungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik realisiert. Angesichts des Ukrainekriegs und der damit verbundenen Energiekrise müssen viele Regierungsvorhaben noch warten. So sind z. B. die geplante Kindergrundsicherung und das Bürgergeld noch nicht umgesetzt. Der Bau neuer Wohnungen hinkt dem Ziel hinterher. Die Modernisierung des Einwanderungsrechts wurde zwar angekündigt, steht aber noch aus. Hingegen wurde die angekündigte Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro beschlossen und gilt seit Oktober 2022. Auch die Verdienstgrenze für Mini- und Midijobs wurde inzwischen angehoben. 

Dominiert wurden die Wirtschafts- und Sozialpolitik freilich von einem ganz anderen Thema: der Energiekrise und den damit verbundenen Folgen für Verbraucher und Unternehmen. Die allmähliche Einstellung der russischen Gastlieferungen trieb die Preise für Gas und Öl im Lauf des Jahres in immer neue Rekordhöhen. Durch die hohen Energiekosten kamen viele Privathaushalte und zahlreiche Wirtschaftszweige an ihre Belastungsgrenzen. Die Inflation erreichte mit über 10 Prozent schwindelerregende Höhen. 

Die Ampelkoalition reagierte zunächst mit steuerlichen Entlastungen. So wurden wegen der hohen Energiepreise der Grundfreibetrag bei der Einkommenssteuer, der Arbeitnehmerpauschbetrag und die Pendlerpauschale angehoben. Die Energiesteuer für Kraftstoffe wurde drei Monate lang abgesenkt. Die EEG-Umlage beim Strompreis wurde zum 1. Juli 2022 abgeschafft – ein halbes Jahr früher als geplant. Allerdings konnten diese Maßnahmen nur einen Bruchteil der höheren Kosten ausgleichen. 

Waren bereits diese Entscheidungen nur nach zähem Ringen zwischen den Koalitionspartnern getroffen worden – die Grünen etwa hatten die Anhebung der Pendlerpauschale und den Tankrabatt (Budrich 2022) als klimafeindlich abgelehnt –, stellte die so genannte „Gasumlage“ eine noch weitaus größere Zerreißprobe dar. Mit der Gasumlage wollte das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) einen Aufschlag auf den Arbeitspreis für private und gewerbliche Kunden einführen, um die angeschlagenen Gas-Importeure zu retten. Dieser Plan wurde gekippt, nachdem insbesondere FDP-Finanzminister Christian Lindner heftige Kritik daran geübt hatte. Stattdessen wurde der größte Gasversorger des Landes, Uniper, verstaatlicht. Damit die Preise für Strom und Gas sinken, spannte die Bundesregierung einen „Abwehrschirm“ in Höhe von 200 Milliarden Euro. Er dient unter anderem zur Finanzierung einer „Gaspreisbremse“, die vorsieht, dass Erdgaskunden ab März 2023 bis mindestens Ende April 2024 für 80 Prozent ihres bisherigen Jahresverbrauchs einen staatlich garantierten Preis von 12 Cent pro Kilowattstunde bekommen. Aber auch dies stieß auf Kritik, insbesondere bei den Gewerkschaften und beim linken Flügel der SPD, die diese Maßnahme für sozial unausgewogen hielten. 

Mit dem „Abwehrschirm“ soll der Regierung gestattet werden, bis zu 200 Milliarden Euro an Krediten aufzunehmen, um diese Gelder dann an Gaskunden und Gasunternehmen auszuzahlen. Damit entstand neben den zusätzlichen 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr bereits ein zweites sogenanntes „Sondervermögen“, das die Bundesregierung neben dem Bundeshaushalt einrichtete. Nicht nur die Oppositionsparteien, sondern auch der Bundesrechnungshof sahen diese „Sondervermögen“ kritisch. Sie verschleierten die damit erfolgende zusätzliche Kreditaufnahmen und verstießen sogar gegen verfassungsrechtliche Vorgaben. 

Tatsächlich hatte Scholz in seiner Antrittsrede versprochen, die Ampelregierung werde an der verfassungsrechtlich vorgegebenen Schuldenbremse festhalten, wonach der Staat nicht mehr Geld ausgeben darf, als er durch Steuern einnimmt. Wegen der Corona-Pandemie war die Schuldenbremse von der Vorgängerregierung vorübergehend ausgesetzt worden, ab 2023 sollte sie nach dem Willen der Ampelkoalitionäre wieder eingehalten werden. Doch in dieser Frage zeichnet sich schon der nächste Konflikt innerhalb der Regierung ab. FDP-Finanzminister Christian Lindner will unbedingt an der Schuldenbremse festhalten, während SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil dies unter den Vorbehalt der wirtschaftlichen Lage stellt. 


Regieren im Dauerkrisenmodus 
Ein Jahr nach der Bundestagswahl ist die Aufbruchstimmung in der Ampelkoalition längst verpufft. Die Ampelkoalition hatte den schwierigsten Start, den eine Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik jemals gehabt hat (Lehmann 2022, 159). Wohl noch nie hat eine deutsche Bundesregierung ihren Fahrplan so schnell und so radikal ändern müssen. Die Regierung Scholz musste notgedrungen neue Wege einschlagen, und dies brachte die Koalition wiederholt an ihre Belastungsgrenzen. Die mit der Corona-Pandemie, dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und der Gasknappheit hereingebrochenen äußeren Krisen offenbarten, wie weit die politischen Positionen der drei Koalitionspartner in Wahrheit auseinanderliegen. Das erste Regierungsjahr war auch ein Jahr der Koalitionskrisen. Dass die Ampelkoalition immer noch hält, liegt daran, dass bislang alle Beteiligten bereit waren, bei entscheidenden Fragen über ihren Schatten zu springen. Deutschland hat nun einen SPD-Kanzler, der die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufrüsten will, einen grünen Wirtschaftsminister, der die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert, und einen FDP-Finanzminister, der Milliardenschulden in Nebenhaushalten auftürmt. Die Bewertung der Regierungsarbeit insgesamt fällt gleichwohl negativ aus: Eine Mehrheit von rund 68 Prozent der Befragten gab beim Deutschlandtrend der ARD Anfang Oktober 2022 an, weniger zufrieden oder gar nicht zufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung zu sein. 

Auf die drei Koalitionsparteien wirkt sich die Dauerkrise höchst unterschiedlich aus. Bündnis 90/Die Grünen eilen von Umfragehoch zu Umfragehoch und sind derzeit die Gewinner in der Wählergunst. FDP-Chef Lindner hingegen hat angesichts vier verlorener Landtagswahlen offensichtliche Mühe, die Kernthemen seiner Partei bei den Wählern zu platzieren. Auch die SPD kann nicht zufrieden sein. Viele Vorhaben gerade im Bereich Sozialpolitik, die sie in die Koalition eingebracht hatte, müssen noch warten. Die Energiekrise treibt die Inflation an, und je stärker die Bevölkerung von hohen Preisen belastet wird, desto größer wird der Druck auf die SPD wachsen, ihre sozialen Versprechen endlich umzusetzen. 

Und Olaf Scholz? Dem Bundeskanzler gelang es nicht, sein Führungsversprechen einzulösen, das er vor der Bundestagswahl gegeben hatte. Er wirkt im Hintergrund, zögert, ist kaum in der Lage, die Konflikte innerhalb der Koalition zu moderieren. Die grünen Minister Habeck und Baerbock sind medial viel präsenter, wirken manchmal fast als heimliche Regierungschefs. Scholz hingegen büßte massiv an Zustimmung ein, seine Bewertung verschlechterte sich allein zwischen Juli und September 2022 um 10 Prozent und erreichte in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen mit 54 Prozent den niedrigsten Wert seit seinem Amtsantritt. 

Ein Ende der Krisen ist indessen nicht in Sicht. Werden die Gasreserven durch den Winter reichen? Können die Inflation gestoppt und der soziale Friede gewahrt werden? Kann der Schaden für die deutsche Wirtschaft begrenzt werden? Wie geht es weiter in der Ukraine? Viele drängende Fragen, auf die die Bundesregierung Antworten finden muss. Gelingt dies der Ampelkoalition nicht, könnte der gemeinsame Weg bald zu Ende sein.


Literatur
Austermann, Philipp 2022: Zum Wahlrechtsreform-Vorschlag der Ampel-Koalition. In: Recht und Politik 58, S. 300–303.

Budrich, Edmund 2022: War der Tankrabatt ein Flop? In: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 72, S. 23–24. 

Fischedick, Manfred/Thomas, Stefan 2022: Klimaschutz und Energiewende: Ambitionierte Ziele im Koalitionsvertrag – wie weit ist nach 100 Tagen die Umsetzung? In: ifo Schnelldienst 4, S. 22–25. 

Frenz, Walter 2022: Klimaschutz i. w. S. nach dem Ampel-Koalitionsvertrag. In: Natur und Recht 44, S. 1163–1167. 

Grotz, Florian/Schroeder, Wolfgang 2022: Die Rekrutierung des Regierungspersonals in der Ampel-Koalition: Zwischen Repräsentation, Loyalität und Kompetenz. In: Zs. f. Parlamentsfragen 53, S. 344–364. 

Heinze, Rolf G./Schupp, Jürgen 2022: Bürgergeld und Kindergrundsicherung als Einstiege ins bedingungslose Grundeinkommen? Wendemarken im Koalitionsprogramm der neuen Bundesregierung. In: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 71, S. 17–18. 

Holtmann, Everhard 2008: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers — kein Phantom?. In: Holtmann, Everhard/Patzelt, Werner J. (Hg.): Führen Regierungen tatsächlich? Wiesbaden, S. 73–84. 

Lehman, Pola u. a. 2022: Die Ampelkoalition. Wie wird aus unterschiedlichen Zielen ein gemeinsames Regierungsprogramm? Bielefeld, S. 101 ff. 

Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag am 15.12.2021 in Berlin: Bulletin 150-1, 15. Dezember 2021 [https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-1992008 [abgerufen am 20.10.2022]. 

Schroeder, Wolfgang 2022: Kontinuität oder Wandel? Die sozialpolitischen Vorhaben der Ampel-Koalition. In: Nonhoff, Martin u. a. (Hg.): Gesellschaft und Politik verstehen: Frank Nullmeier zum 65. Geburtstag. Frankfurt/M., S. 367–380. 

Stüwe, Klaus 2005: Die Rede des Kanzlers. Wiesbaden.


Zitation
Stüwe, Klaus (2022). "Wir werden neue Wege einschlagen". Ein Jahr Ampelkoalition: Regieren im Dauerkrisenmodus, in: POLITIKUM 4/2022, S. 4-11, DOI https://doi.org/10.46499/1837.2589.

Im Abonnement kein Heft verpassen

Ein Beitrag aus