Bücher für den Politikunterricht - POLITIKUM 1/2023
Peter Massing: Politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Grundlagen – Kontroversen – Perspektiven. Wochenschau/utb: Frankfurt/M. 2022, 144 S.
Im Mittelpunkt dieses Einführungsbuchs, das sich in erster Linie an (gegenwärtige und zukünftige) Praktiker*innen richtet, steht die politische Bildung in der Schule. Dem Buch ist in Aufbau und Sprache anzumerken, dass es eine Herzensangelegenheit des Autors ist, die von ihm konstatierten „erheblichen Brüche und Verständigungsschwierigkeiten zwischen der Politikdidaktik und der Praxis der politischen Bildung“ (S. 117) zu überwinden. Für die mangelnde Resonanz der Politikdidaktik bei Lehrer*innen macht er aber nicht allein die unter massivem Praxisdruck stehenden Lehrkräfte verantwortlich, sondern auch eine mittlerweile „hermetische Sprache“ und „Unübersichtlichkeit“ (117) in der wissenschaftlichen Kommunikation der Politikdidaktik, die „nur im kleinen Fachkollegenkreis überhaupt verstanden wird“ (117).
Vor allem für zwei Thesen steht Massings Werk der vergangenen vier Jahrzehnte, die er auch hier noch einmal mit Verve gegen Kritiker*innen verficht. Zum einen, dass die zentrale Bezugswissenschaft der politischen Bildung das Fach Politikwissenschaft ist. Damit wendet er sich gegen die vielfachen Versuche, politische Bildung in eine disziplinäre Melange aus Soziologie und Wirtschaftswissenschaft oder gar Geschichtswissenschaft und Geographie aufgehen zu lassen. Seine zweite zentrale These besteht in seinem Insistieren auf eine klar umrissene Kompetenzorientierung in der Politikdidaktik.
Nach einführenden Begriffsklärungen beginnt das Buch mit einem historischen Überblick zu den Etappen, die die schulische politische Bildung seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durchlaufen hat. Die knappe historische Rekonstruktion mündet in der Schilderung einer Abkehr von aufwändigen theoretischen Begründungsversuchen hin zu einer „pragmatischen Wende“ der politischen Bildung seit den 1980er Jahren, auf die schließlich seit den 1990ern der Aufschwung der Politikdidaktik als Wissenschaftsdisziplin folgte. Angesichts der Tatsache, dass heute wieder viele Rechtsextreme und Querdenker*innen von einer „Überfremdung“ der deutschen Kultur schwafeln, wäre es m. E. außerdem gut gewesen, wenn Massing für die unmittelbare Nachkriegszeit nicht ausschließlich die Re-educationpolitik der USA in den Blick genommen hätte, sondern auch die aktive Rolle der ehemaligen Reformpädagogen der Weimarer Republik für die schulische Bildung und die von deutschen Remigranten bei der Gründung der Politikwissenschaft herausgestellt hätte.
Im Kapitel „Grundlagen politischer Bil-
dung“ wird „die Politik als Kern der politischen Bildung“ (31) postuliert; Massing erteilt damit all jenen Ansätzen der politischen Bildung eine Abfuhr, die sie als soziales Lernen, eine Art Lebenshilfe oder primär als Institutionenkunde verstehen. Für die Politik Lehrenden wird im Weiteren erläutert, wie sie eine Perspektive dafür gewinnen können, dass Schüler*innen das Politische in seinen unterschiedlichen Ausprägungen überhaupt erst einmal erkennen, wie sie es analysieren und eigenständig beurteilen können. Die beiden folgenden Kapitel konzentrieren sich auf das Thema Demokratie und die aktuellen Herausforderungen, mit denen politische Bildung und Politikdidaktik konfrontiert sind. Massing referiert die Debatten zu den Themen Systemvertrauen, Politikverdrossenheit, Globalisierung und Autoritarismus. Erstaunlicherweise fehlt der Populismus, dessen Vertreter*innen sich häufig als engagierte Demokrat*innen verstehen. Angesichts der Aktivitäten vieler Schüler*innen im Zusammenhang mit der Protestbewegung Fridays for Future in den vergangenen Jahren wäre auch die Aufnahme des Themas Klimawandel sinnvoll gewesen.
Abschließend liefert Massing einen vorzüglich strukturierten Überblick über den (prominent auch von ihm) verfochtenen Ansatz der Kompetenzorientierung in der Politikdidaktik und schildert die sich daran entzündenden Kontroversen. Engagiert verteidigt er diesen Ansatz gegen Kritik und gegen konkurrierende politikdidaktische Konzepte. Insbesondere verteidigt er ihn gegen den Vorwurf, nur noch mittels Tests Überprüfbares zum Inhalt politischer Bildung zu machen und damit das Ziel einer umfassenden politischen Bildung in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit zu beschneiden. Zu den Stärken des Bandes gehört, dass es gut verständlich geschrieben ist. Der diagnostizierten Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen politikdidaktischen Debatte begegnet das empfehlenswerte Buch durch einführende Definitionen, eine gut strukturierende Gliederung, hilfreiche Führungen der Leser*innen im Text und eine klare eigene Positionsbestimmung.