Die Debattierenden

apl. Prof. Dr. Martin Höpner ist Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.

Prof. Dr. Ulrike Guérot ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems.

Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).

Prof. Dr. Klaus Brummer ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Axel Schäfer, MdB, ist ehemaliger Europaabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion für die Bereiche Europa und wirtschaftliche Zusammenarbeit.

DEBATTE: Ach, Europa ...

Nur wenige Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bereiste Cees Nooteboom einige Länder Europas, das bei aller berechtigten Sorge mit Optimismus seiner Zukunft entgegensehen konnte. „Wie wird man Europäer?“, so heißt das Buch von Nootebooms Reise, ist die Liebeserklärung eines polyglotten Niederländers an seine Nachbarn, das kraftvoll von der „Einheit und Vielfalt“ eines Kontinents schwärmt, der nach 1945 einen atemberaubenden Aufstieg aus den Trümmern, die die Schreckensherrschaft der Nazis hinterlassen hatte, vollbrachte und auf dem so viele Hoffnungen ruhten. Die abermalige Lektüre des Textes nach zwei Jahrzehnten mutet indes seltsam fremd an. Man kann tatsächlich auch in dieser Weise von Europa und über seine europäischen Nachbarn sprechen und schreiben, mit Neugier und Verständnis. Man wird dabei gewahr, dass dies eigentlich die einzige angemessene Form ist, über Europa zu sprechen, vergegenwärtigt man sich den Ausgangspunkt, vor dem die EWG vor sechzig Jahren gestanden hat. Die erbitterten Feinde von gestern beschließen eine Gemeinschaft, die zu eigenständiger transnationaler Rechtsetzung befugt ist, der sie sich unterwerfen wollen. Das ist einmalig, mehr noch, es ist ungeheuerlich!

Und heute? Heute scheinen diese Leistungen vergessen zu sein oder hinter den unleugbaren Problemen der europäischen Einigung unsichtbar zu werden. Europa hat sich zu viele Fehler geleistet, es hat seine Mitglieder überfordert, seine Bürger vernachlässigt, zu einseitig auf den Markt vertraut und sich in dessen Hände begeben – dabei hat Europa seine Seele verloren. Das sind, kurz und verkürzt skizziert, die Einschätzungen, die fünf Politikwissenschaftler und Politiker in den folgenden Beiträgen zur aktuellen Lage Europas vornehmen. Doch so unterschiedlich diese auch ausfallen mögen – die Hoffnung auf einen Ausweg aus der Krise möchte keiner der Autoren und Autorinnen gänzlich fahren lassen. Zu viel steht auf dem Spiel.




Dieser Irrsinn muss gestoppt werden

von Martin Höpner

Die Krise der Europäischen Union lässt sich nicht mehr als Hirngespinst linker und rechter Populisten abtun. Nein, die Krise ist real. Sie zieht sich vom Recht über die Politik bis hin zur gemeinsamen Währung. Ambitionierte Umgestaltungen sind notwendig, um die Verhältnisse in der EU neu zu ordnen.

Zunächst zum Recht. Wie der Verfassungsrechtler Dieter Grimm jüngst in seinem großartigen Buch „Europa ja – aber welches?“ herausgestellt hat, vollzieht sich ein Großteil europäischen Regierens nicht als Gesetzgebung, sondern als richterrechtlich durchgesetzter Verfassungsvollzug. Diesen Umstand bezeichnet Grimm als die „Über-Konstitutionalisierung“ der EU. Träger und Treiber ist der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Insbesondere hat der EuGH die europäischen Grundfreiheiten – das sind die Regeln zur freien Bewegung von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital auf dem europäischen Binnenmarkt – mit immer strikteren Bedeutungen aufgeladen und sie gegen immer mehr marktkorrigierende Institutionen und Praktiken der EU-Mitglieder in Stellung gebracht. Damit setzt der EuGH nicht nur rechtliche Vorgaben an Stellen, wo eigentlich politische Entscheidungen hingehören, sondern verpasst der europäischen Integration auch eine liberalisierende Schlagseite, die der sozialen Marktwirtschaft feindselig gegenübersteht.

Ein besonders grotesker Vorgang ist der derzeit vor dem EuGH anhängige TUI-Fall. Da geht es um die Frage, ob die deutsche Mitbestimmung auf Ebene der Leitungsorgane von Unternehmen gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstößt. Das ist unendlich widersinnig – was die Kommission aber nicht daran hinderte, in ihrer an den EuGH gerichteten Stellungnahme zu TUI den vermeintlichen Unionsrechtsverstoß zu bejahen. Dieser Irrsinn muss gestoppt werden. Da mit Einsicht und Selbstzurückhaltung auf Seiten von Kommission und EuGH nicht zu rechnen ist, hilft nur eine Vertragsänderung. Mit ihr muss klargestellt werden, welchen Zweck die Grundfreiheiten eigentlich haben. Sie sollen diskriminierende Protektionismen auf dem Binnenmarkt unterbinden, aber keine darüber hinausgehenden Liberalisierungsgebote enthalten. Dieter Grimm schlägt zudem vor, die Grundfreiheiten von den europäischen Verträgen in das einfache Gesetzesrecht zu verweisen.

Vom Recht zur Politik. Von Erweiterungsrunde zu Erweiterungsrunde ist die EU heterogener geworden. Mit dieser Heterogenität sind auch die Interessen gegensätzlicher geworden, die überbrückt werden müssen, wenn es um die Harmonisierung sensibler Institutionen mit ausgeprägten Verteilungswirkungen geht. Gegenstände wie die Steuerpolitik oder die Politik der sozialen Sicherung erweisen sich deshalb bis heute als hartnäckig integrationsresistent. Im herkömmlichen Politikmodus dürfte sich das auch nicht mehr ändern. Ein Ausweg wäre, verstärkt auf kleinräumige Integrationsschritte zu setzen. Würde sich etwa eine aus Belgien, Frankreich, Italien und Deutschland bestehende Ländergruppe entschließen, einen mutigen Schritt bei der Angleichung der Kapitalbesteuerung zu wagen, dann wäre das zweifellos eine gute Sache. Im Prinzip gibt es bereits Möglichkeiten, die europäischen Institutionen für differenzielle Integrationsschritte zu nutzen. Aber von diesen Optionen wird kaum Gebrauch gemacht und sie werden von Parteien, Bewegungen und der Wissenschaft auch kaum eingefordert.

Einen faszinierenden Vorschlag zur Auflösung politischer Blockaden der europäischen Gesetzgebung hat der Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf in einer Reihe von Papieren präsentiert, zum Beispiel im Discussion Paper 2014/21 des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Im Prinzip, so Scharpf, müsste man bei der Verabschiedung von Richtlinien und Verordnungen zur einfachen Mehrheitsregel übergehen, um Blockaden zu vermeiden. Ganz so einfach geht das aber nicht, denn die hohen Konsenshürden im Rat – qualifizierte Mehrheit oder Einstimmigkeit, je nach Gegenstand – haben eine wichtige Funktion für die Legitimität europäischer Entscheidungen. Was aber, würde man den EU-Mitgliedern Rechte auf opt-outs, also auf Nichtanwendung europäischer Gesetze, zugestehen? Jedenfalls dann, wenn sie elementare mitgliedstaatliche Traditionen und Interessen verletzt sehen und wenn die anderen EU-Mitglieder mehrheitlich mit dem opt-out einverstanden sind? Auf diese Weise, so Scharpf, ließe sich die europäische Gesetzgebung aktivieren, ohne damit den berechtigten Autonomieschutz der Mitgliedsländer zu ignorieren.

Die dritte Baustelle ist die Währungsunion. Der amerikanische Starökonom Joseph Stieglitz hat völlig Recht, wenn er in seinem neuen Buch „The Euro and its Threat to the Future of Europe“ schreibt, dass die Währungsunion endgültig gescheitert ist und durch eine besser auf das heterogene Europa passende Währungsordnung ersetzt werden sollte. Eine solche Ordnung hatte Europa schon einmal: das Europäische Währungssystem (EWS), das von 1979 bis 1998 Bestand hatte. Stieglitz nimmt es locker: „Currencies come and go“, schreibt er an mehreren Stellen seines Buchs, z. B. auf Seite 288. Ganz so friktionslos dürfte die Auflösung des Euro nicht verlaufen. Aber sie dürfte unumgänglich sein, um nicht noch mehr Unfrieden auf dem europäischen Kontinent zu schaffen. Würden Austritte aus dem Euro in gemeinsamer und solidarischer Verantwortung durchgeführt und verantwortet und würde als Folge das zur Euro-Rettung errichtete und in Nord und Süd verhasste makroökonomische Überwachungs- und Korrekturregime obsolet – dann wäre es um die europäische Integration besser bestellt als heute.




Europa fehlt die politische Dimension

von Ulrike Guérot

Die zentrale Ursache der gegenwärtigen tiefen Krise der EU liegt darin, dass Europa im klassischen Sinn die politische Dimension fehlt: Durch die entscheidende Rolle der Nationalstaaten im politischen System der EU wird der Bürger als eigentlicher Souverän ausgespielt. Deswegen werden permanent Lösungen im Sinne des europäischen Ganzen durch „nationale Karten“ torpediert. Anders formuliert: Im Maastrichter Vertrag ist die EU zugleich als Staaten- und als Bürgerunion konzipiert; de facto ist die EU aber nur eine Staaten- und keine Bürgerunion. An der aktuellen Brexit-Diskussion lässt sich das exemplarisch festmachen. Wäre die EU tatsächlich Staaten- und Bürgerunion zugleich, dann könnte – theoretisch gesprochen – der Staat Großbritannien aus der EU austreten, die Briten blieben indes weiterhin europäische Unionsbürger. Sie bleiben es aber nicht und genau dies verursacht jetzt große Probleme, z. B. mit Blick auf die Frage der Personenfreizügigkeit. Die europäischen Bürger sind also nicht im eigentlichen Sinne der Souverän des politischen Systems in Europa. Und sie sind als europäische Bürger vor dem Recht nicht gleich, sondern gleichsam in „nationale Rechtscon­tainer“ einsortiert. Deswegen können gesamteuropäische Mehrheiten in der EU praktisch nicht abgebildet werden, da das System immer noch nationalstaatlich funktioniert. Ein Beispiel dafür ist das niederländische Referendum über das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Warum sollten darüber nur die Niederländer alleine abstimmen, wenn es ganz Europa betrifft? Oder: Die Mehrheit der europäischen Bürger ist laut einer sozialwissenschaftlichen Studie für eine europäische Arbeitslosenversicherung. Diese wird aber von den Vertretern der Nationalstaaten im EU-Rat blockiert. Der EU-Rat repräsentiert damit oft nicht die Interessen der europäischen Bürger – das ist in allen Politikbereichen das zentrale Problem.

Niemand hat eine Kristallkugel, mit der er voraussehen kann, welchen Ausgang die Krise nehmen wird. Und doch bietet die aktuelle Situation in Europa Grund zur Sorge, denn der Populismus und Nationalismus hat sich längst auf den Weg gemacht, zentrale Elemente von Rechtsstaatlichkeit mitten in Europa auszuhebeln – und die EU konnte dem bisher keinen Einhalt gebieten. Verfassungsgericht und freie Medien sind zum Beispiel in Ungarn schon verloren; und Polen ist auf dem Weg dorthin. Die nationalen politischen Systeme sind alle in der Schockstarre und schauen wie das Kaninchen auf die Schlange des grassierenden Populismus.

Unter den gegebenen Bedingungen zeigt sich das europäische System daher faktisch reformunfähig. Es ist ein „Catch-22“: von Jean-Claude Juncker stammt der Satz „Wir wissen alle, was wir tun müssten, aber wir können es nicht tun, denn sonst werden wir abgewählt“. Notwendig wäre, um die out-put-Effizienz der EU-governance zu erhöhen, z. B. ein gemeinsamer Einlagensicherungsfonds im Rahmen der Bankenunion, aber genau der wird – genauso wie eine gemeinsame Sozial- und Fiskalpolitik oder ein deutlich erhöhtes Eurozonenbudget – natürlich wieder nationalstaatlich blockiert. Die Reformunfähigkeit der EU ist mithin systemisch und die Gefahr, dass sich die Krisen in der EU dadurch pfadabhängig selbst verstärken, ist groß. Unter den gegebenen institutionellen Bedingungen kann die EU keine guten Lösungen produzieren, es kann immer nur nationales Geschachere geben. Gegen unbewegliche Systeme aber regt sich immer Widerstand. „Das Volk“ begehrt auf. Das erleben wir derzeit mit den Populisten und ihrem Ruf nach „Exit“, der ja weit über Großbritannien hinaus hörbar ist. Wie das ausgehen wird, ist schwer vorherzusagen. Die Systemtheorie indes lehrt uns, dass Systeme, wenn sie einmal ins Rutschen gekommen sind, immer schneller desintegrieren, als man gemeinhin denkt. Genau das sehen wir derzeit in der EU. Ob und wenn ja wie man das noch aufhalten kann, ist in der Tat die große Frage.

Im Grunde bräuchte es, um mit Joseph Schumpeter zu sprechen, einen Akt der „schöpferischen Zerstörung“, um von der bestehenden EU zu einem anderen Europa zu kommen. Den kann man im realpolitischen Raum natürlich nur schwer inszenieren. Die Frage der nachnationalen Organisation der Demokratie in Europa ist akut aufgeworfen. Darum wird sich das europäische Projekt im 21. Jahrhundert – sofern wir noch den Anspruch haben, dass es um ein politisches, demokratisches und soziales Europa geht, also mehr als um einen Binnenmarkt, in den man sich, wie schon Jacques Delors sagte, nicht verlieben kann – an zwei Dingen messen lassen müssen: an der Verwirklichung des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes für alle europäischen Bürger, also Gleichheit vor dem Recht, die laut Cicero die Bedingung schlechthin für ein politisches Gemeinwesen ist, die res publica; und an der Beachtung des Prinzips der Gewaltenteilung im zukünftigen Institutionengefüge Europas. Das sind übrigens keine radikalen Forderungen, sondern Binsenweisheiten.




Europa muss seine Seele wiederfinden

von Werner Weidenfeld

Der Zielhorizont Europa wankt. Er erodiert von innen. Nationalistische Alleingänge, populistische Slogans, egoistische Interessenlagen: Kollektive Erregung vernebelt den Verstand. Der Firnis der Zivilisation ist offenbar dünner als bisher angenommen. Vertrauen ist verloren gegangen. Der Kontinent wirkt im Blick auf seine Gestaltungskraft, auf seine Integrationsleistung müde, alt, pessimistisch. 

Alles das entleert den europäischen Ansatz, der einmal zu den großen Erfolgsgeschichten zählte. Man hatte aus den Fehlern der Geschichte gelernt nach Jahrhunderten der Kriege, nach zwei Weltkriegen – und jetzt sollte das Zusammenleben ganz anders organisiert werden: als Friedensprojekt, als rechtsstaatliches System, als internationale Mitverantwortung, als Rahmen wirtschaftlicher Wohlfahrt. Und es gelang. Schließlich wurde diese Erfolgsgeschichte ausgezeichnet und gekrönt mit dem Friedensnobelpreis.

Heute wirken diese Hinweise wie Merkwürdigkeiten einer längst untergegangenen Epoche, gleichsam Erkenntnisse von Archäologen und Museumsdirektoren. Dabei ist es realistisch zu sehen, dass die große Erfolgsgeschichte Europas immer durchwebt war von Krisen.

Zum Beispiel: Nach dem ersten Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg mit Gründung des Europarates und dann der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ereignete sich das große Scheitern mit der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Damit wurde auch das Projekt einer europäischen Armee und einer europäischen Verfassung zu den Akten gelegt. Die Antwort war ein sofortiger neuer Aufbruch. Der ‚Geist von Messina‘ wurde mit seinem handfesten Ergebnis der Römischen Verträge über die Jahre zum kraftvollen Symbol eines dynamischen Kontinents.

Ähnliches kann man über die andere große Krise Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre sagen. Man nannte sie ‚Eurosklerose‘. Der Kontinent schien zum Untergang verdammt. Die Zukunft wurde in Asien entdeckt. Und dann kam die Rettung. Zwei führungsstarke Staatsmänner – Mitterand und Kohl – engagierten einen strategischen Kopf: Jacques Delors. Dessen Lösungsangebot: die Annahme einer identitätsstiftenden Herausforderung. Man griff zur Vollendung des Binnenmarktes und der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion, wofür fast 300 Gesetzeswerke notwendig waren, mit einem sechsjährigen Zeitplan und einem großen Kommunikationsprogramm, in dem jedem Europäer jedes Detail erklärt wurde. Der Erfolg stellte sich ein.


Aber was ist nun gegenwärtig anders in der Epoche der Migration?
 Aus dem Zeitalter der Komplexität ist Europa hinübergeglitten in das Zeitalter der Konfusion. Der Weihrauchnebel eines diffusen Wertepathos hilft da nicht weiter. Das empirische Datenmaterial zeigt uns: Der Europäer beschreibt seine Befindlichkeit zuerst mit dem Hinweis ‚Ich verstehe das alles nicht‘. Auf der Baustelle Europa fehlt also eine geistige Ordnung. Es fehlt an Orientierung, die den Zugang zu einem politischen Gestaltungsraum eröffnet. Der Imperativ nationaler Souveränität ist längst ausgehebelt, durch internationalisierte Problemstrukturen. Es fehlt die Deutung, die Erklärung, die Interpretation der Lage. Diese notwendige Erklärung gab es in allen früheren Krisenphasen. Heute fehlt diese Orientierungsleistung. Die Krise wird transferiert in die unbeantwortete Sinnfrage. In der epochalen Herausforderung der Migration fehlt dem Kontinent die Sinnperspektive und damit das angemessene Narrativ. Auf eine kurze Formel gebracht: Europa muss seine Seele wiederfinden.

Ein Blick in die Geschichte zeigt also: Krisen haben zu Lernprozessen geführt und dann zu Problemlösungen. Fehlende Antworten auf die Sinnfrage aber haben zu Katastrophen geführt. Die Orientierung des nächsten Europa ist also der geistige Beitrag zur Vermeidung der Katastrophe. Diese Orientierung muss auch Lösungen für die elementaren Problemkategorien der Einigung Europas bieten:
  • die Frage nach der Legitimation
  • die Sicherung der Transparenz
  • die Klärung der Führungsstrukturen
  • die Handlungsfähigkeit des politischen Gestaltungsraumes
  • die weltpolitische Mitverantwortung. 

 Ein Blick in die Geschichte zeigt uns: Es gibt so etwas wir ein politisch-kulturelles Grundgesetz Europas. Seit der ersten Nennung des Namens Europa im 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum heutigen Tag steht dieser Kontinent unter Spannung, weil die größtmögliche Vielfalt an Temperamenten, Mentalitäten, Traditionen in größtmöglicher räumlicher Dichte ihr Zusammenleben organisiert. Die daraus resultierende Spannung entlädt sich mal positiv als zivilisatorische Großleistung, mal negativ als imperiale, hegemoniale Katastrophe. Europa kennt den Geist der Bergpredigt genauso wie das Wörterbuch des Unmenschen. Soll die positive Seite aufgeschlagen werden, dann gelingt dies nur, wenn man die politisch-kulturelle Leistung erbringt – nicht wenn man infantil immer wieder die alten Fehler wiederholt. 

Damit ist unsere Aufgabe für das nächste Europa definiert: Das Narrativ der künftigen Sinnantwort für Europa ist zu erarbeiten. Die Deutungs- und Erklärungsleistung ist zu bieten. Mit anderen Worten: Die Seele Europas muss wiedergefunden werden.




Mit kleinen Schritten aus der Krise

von Klaus Brummer

Der offensichtlichste Nutzen des europäischen Integrationsprozesses zählt heute nur noch wenig. Für Jahrzehnte war der Fortgang der Zusammenarbeit gleichbedeutend mit der Vertiefung der friedlichen Beziehungen zwischen den (west)europäischen Staaten. Das gewaltlose Austragen von Interessengegensätzen unter den Mitgliedstaaten der heutigen Europäischen Union (EU) gilt mittlerweile jedoch als gegeben. Die zentralen Fragen lauten stattdessen, welchen weiteren Nutzen der Integrationsprozess bringt und ob dieser Nutzen die Kosten, die aus der Zusammenarbeit resultieren (Einschränkung von Handlungsfreiheit etc.), übersteigt – was die Briten unlängst mit einer knappen Mehrheit mit „Nein“ beantworteten.

Diese Perspektivenverschiebung hin zu vornehmlich ökonomisch wie auch parteipolitisch motivierten Kosten-Nutzen-Abwägungen hat den Charakter des Integrationsprozesses verändert. Entsprechend größeres Gewicht erhalten für sich genommen keineswegs neue Fragen wie diejenige nach Nettozahlern und Nettoempfängern. Gemeinschaftsgeist und Solidarität sind allerdings umso schwieriger zu bewahren, wenn ein normatives Fundament fehlt bzw. nicht länger offensichtlich ist. Sie sind jedoch unerlässlich, um die Vielzahl an gleichzeitig (was ebenfalls eine Ursache für die derzeitige Krise ist) auftretenden „regionalen Großherausforderungen“ zu bewältigen, reichend von Migrationsbewegungen über die Eurorettung bis hin zum Ukrainekonflikt. Was den Ausgang der Krise anbelangt, ist mit Mark Twain festzuhalten, dass Vorhersagen stets problematisch sind, vor allem, „wenn sie die Zukunft betreffen“. Der Kontingenz politischer Entwicklungen folgend heißt dies aber auch, dass die gegenwärtige Krise – die nicht die erste ist, in der sich der europäische Integrationsprozess befindet – weder von Dauer noch unüberwindbar sein muss. Wie ein möglicher Ausweg aussehen könnte, wird nun skizziert.

Wenig zielführend erscheinen Diskussionen um Großprojekte wie die Gründung einer europäischen Armee oder gar die Schaffung eines „Bundesstaats Europa“. Sicher: Wegweisende Entwicklungen des Integrationsprozesses ergaben sich als Reaktion auf externe Schocks (Zusammenbruch der Sowjetunion) oder interne Krisen (Scheitern des Verfassungsvertrags). Stets wurde jedoch gerade seitens großer EU-Staaten politisches Kapital und Führung aufgebracht. Hieran mangelt es derzeit ebenso wie an praktikablen Konzepten zur Umsetzung der Großprojekte.

Auch die weitere Steigerung der demokratischen Legitimität der EU ist nicht der vorrangige Ansatzpunkt. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments (EP) können seit mehreren Jahrzehnten direkt gewählt werden; andere wesentliche EU-Organe wie der Europäische Rat, in dem sich die Staats- und Regierungschefs treffen, sind mittelbar über nationale Wahlen legitimiert. Trotz eines bemerkenswerten Kompetenzzuwachses des EPs seit Einführung der Direktwahlen machen jedoch immer weniger Europäerinnen und Europäer von ihrem Wahlrecht Gebrauch, zuletzt gerade einmal etwas mehr als jede/r Vierte. Andere partizipatorische Instrumente wie die Europäische Bürgerinitiative werden ebenfalls kaum genutzt.

Um aus der gegenwärtigen Krise hinauszufinden, scheint vielmehr die Konzentration auf konkrete und zugleich greifbare Maßnahmen geboten, die den anhaltenden Nutzen des europäischen Integrationsprojekts verdeutlichen. Dieser Nutzen entsteht vor allem dann, wenn ein gemeinsames Handeln der EU-Staaten das Leben der Bürgerinnen und Bürger – im Alltag oder auch auf Reisen – erleichtert. Der anstehende Wegfall von Auslandsgebühren für Telefonate (Roaming) ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Das Einsparen von nationalen Haushaltsmitteln – die dann für andere Zwecke genutzt werden können, etwa zur Stabilisierung von sozialen Sicherungssystemen – durch gemeinsame Projekte bspw. im Sicherheits- und Verteidigungsbereich ein anderer. Noch wichtiger werden jedoch die Antworten sein, die für den Umgang mit den Migrationsbewegungen wie auch (fast schon ein wenig vergessen) für die weitere Stabilisierung des Euro gefunden werden. In beiden Bereichen bieten einzelstaatliche Maßnahmen keine Lösung. Stattdessen kann sich bei diesen für jeden einzelnen Mitgliedstaat wie auch für die EU in ihrer Gesamtheit wegweisenden Fragen nach Integration, Schutz, Geldwertstabilität etc. der aus gemeinsamem Handeln resultierende Mehrwert des Integrationsprozesses zeigen.

Dabei sollten möglichst alle EU-Staaten mit an Bord geholt werden. Projekte, an denen sich nur ein Teil der Mitgliedstaaten beteiligt, oder Beschlüsse zu als maßgeblich empfundenen Fragen (wie Verteilungsquoten), die nicht von allen unterstützt werden, tragen stets den Keim der Spaltung in sich. Durch Gruppenbildung geht der für den Integrationsprozess wesentliche Gemeinschaftsgeist verloren. Nicht zufällig tritt mit dem Vereinigten Königreich einer der am wenigsten eingebundenen Staaten (Nichtteilnahme an Euro und Schengen) aus. Praktikable, für die Bürgerinnen und Bürger spür- und erlebbare Maßnahmen, mit denen sich alle EU-Staaten identifizieren können, erscheinen der vielversprechendste Ansatz, um aus der gegenwärtigen Krise zu gelangen. Die großen Integrationssprünge können später kommen, wobei zu überlegen wäre, ob diese im Rahmen der EU oder innerhalb einer neuen Organisation erfolgen sollten.





Wir brauchen Europa mehr denn je

von Axel Schäfer

Am 25. März 2017 jährt sich zum 60. Mal die Unterzeichnung der sogenannten Römischen Verträge. Mit der Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Atomgemeinschaft sind damals die Voraussetzungen für die heutige Europäische Union geschaffen worden. In zahlreichen Veranstaltungen wird man in wenigen Monaten der politischen Weitsicht und Vernunft derer gedenken, die in den sechs Hauptstädten die Weichen gestellt haben, damit der Integrationszug überhaupt an Fahrt gewinnen konnte. 

Doch wo stehen wir heute? Die Europäische Union befindet sich in der schwierigsten Lage seit ihrem Bestehen, obgleich sie nach wie vor nichts an Attraktivität verloren hat. Sie ist unsere Antwort auf die Globalisierung. Nur als Gemeinschaft wird sich in Zukunft die Stimme Europas auf der Weltbühne Gehör verschaffen können. Ohne die EU hätte es weder eine deutsche Wiedervereinigung noch eine erfolgreiche Transformation und Eingliederung der zehn mittel- und osteuropäischen Staaten gegeben. 

Es stellt sich die Frage, ob es noch „den festen Willen gibt, die Grundlage für einen immer engeren Zusammenschluss der Völker Europas zu schaffen“ (Präambel Vertrag von Lissabon), also eine supranationale Gemeinschaft mit bundesstaatlichem Charakter. Oder wird ein loser Staatenbund neuer Prägung mit teilweise altem Nationalverständnis in Denk- und Organisationsstrukturen des frühen 20. Jahrhunderts entstehen? 

Zugleich stehen wir vor gewaltigen Herausforderungen. Die Migrations- und Fluchtbewegungen, islamistischer Terrorismus, hohe Arbeitslosigkeit erfordern aktives Handeln. All diese Entwicklungen verunsichern die Menschen in unseren Ländern in zunehmendem Maße. Sie fürchten den Verlust der erworbenen Errungenschaften und verlieren sich in einfachen populistischen Antworten. 

Flüchtlinge und Migration 
Erstmalig erleben die Menschen in der Europäischen Union die Auswirkungen von Krieg und Terror in Form von Flüchtlingen nicht mehr ausschließlich distanziert vor dem Fernsehgerät, sondern unmittelbar am eigenen Wohnort. Sie verspüren eine scheinbar ungebremste Dynamik: mitten im Geschehen, nichts Trennendes ist mehr vorhanden. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Staatengemeinschaft mit einer Bevölkerung von rund 500 Millionen Menschen den Eindruck vermittelt, sie könne mit den Herausforderungen nicht umgehen. In den 28 Hauptstädten werden zu unterschiedliche Interessen verfolgt. 

Die Gegensätze, die einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik im Weg stehen, müssen endlich überwunden werden. Die Integration der Flüchtlinge ist und bleibt eine der ganz großen Aufgaben für uns alle, die es zu lösen gilt. 

Brexit
Bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt: Niemand jenseits und diesseits des Ärmelkanals hatte ernsthaft daran geglaubt, dass eine Mehrheit der Briten für einen Austritt votieren könnte. Das Ergebnis vom 23. Juni wird zweifelsohne Spuren hinterlassen, aber nicht das Ende der EU einläuten. Es ist kein Abgesang, sondern ein Weckruf. Entscheidend wird sein, wie die EU der 27 mit den Konsequenzen des Ausscheidens eines Staates umgeht. Hier könnte sich eine einmalige Gelegenheit bieten, um das europäische Haus grundlegend zu reformieren. 

Das zukünftige Verhältnis zu Großbritannien als Drittland wird auf einer Balance von Rechten und Pflichten beruhen. Wenn wir ein Cherry-Picking zulassen würden, könnte dies unkontrollierte Domino-Effekte auf weitere Staaten auslösen und wäre der Anfang vom Ende der Europäischen Union. Wir wollen das Vereinigte Königreich nicht bestrafen, aber auch nicht bevorzugen. Weiteren Zugang zum Binnenmarkt kann und darf es jedoch nur geben, wenn die vier Grundfreiheiten in ihrer Gesamtheit akzeptiert und umgesetzt werden. 

Arbeitslosigkeit
Wir dürfen es nicht zulassen, dass in einigen Mitgliedsländern eine Generation von jungen Menschen heranwächst, die keine Möglichkeit hat, ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Um Wohlstand für möglichst viele Menschen zu erreichen, sind Reformen in den jeweiligen Ländern und Investitionen dringend erforderlich. Deshalb müssen die wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der EU schnell verringert werden. Gelingt dies nicht, ist der Zusammenhalt der EU ernsthaft gefährdet. Die Menschen werden sich von Europa abwenden. Eine Aufstockung des europäischen Investitionsprogramms, die Ausrichtung aller nationalen Haushalte auf Zukunftsinvestitionen, flexible Stabilitätskriterien, die Wachstum fördern, sowie zielgerichtete Programme für Bildung und Qualifizierung, insbesondere von jungen Europäerinnen und Europäern, müssen unsere Antwort sein. 

Nationalismus
Es geht heute aber auch um die drohende Zerstörung der Europäischen Union durch wachsenden Nationalismus. Im Mittelpunkt steht nicht die Bewältigung politischer Meinungsverschiedenheiten in wichtigen Bereichen, sondern die Existenz der Gemeinschaft als supranationale Institution. Die Gegner der europäischen Integration rütteln bereits an den Fundamenten der gemeinsamen Werte und Ziele. Egal ob Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden, Heinz-Christian Strache in Österreich, Viktor Orbán in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen und jetzt auch in Deutschland Frauke Petry: Sie alle eint ihre Abneigung gegenüber einem integrativen Europa. Dabei ist die EU eine historische Erfolgsgeschichte ohne Beispiel, mit Vorbildcharakter für das friedliche Zusammenleben von Menschen durch den freiwilligen Zusammenschluss von Staaten. Doch viele Menschen sind empfänglich für die einfachen Botschaften der erstarkenden Populisten. Sie erliegen der Fiktion, dass alles wieder so sein wird, wie es früher nie war. 

Jetzt müssen vor allem die Regierungen ihre Haltung ändern und sich zu Europa bekennen, denn wir alle sind Europa!



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