Im Interview

Professor Dr. Bert Rürup ist einer der führenden Renten­experten Deutschlands. Er war bis 2009 Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik an der TU Darm­stadt und u. a. Berater verschiedener Bundesregierungen und Ministerien. Heute leitet er als Präsident das ‚Handelsblatt Research Institute‘ und ist Chefökonom des Handelsblatts.

Interview mit Prof. Dr. Bert Rürup: „Eine leitende Idee ist derzeit nicht ersichtlich“

Professor Dr. Bert Rürup ist einer der führenden Renten­experten Deutschlands. Er war bis 2009 Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik an der TU Darm­stadt und u. a. Berater verschiedener Bundesregierungen und Ministerien. Heute leitet er als Präsident das ‚Handelsblatt Research Institute‘ und ist Chefökonom des Handelsblatts.


POLITIKUM:
Herr Rürup, wie drängend ist in Deutschland das Problem der Altersarmut?

Rürup: Derzeit ist Armut im Alter weniger verbreitet als unter Jüngeren. So bezogen 2018 nur 3,1 % der über 65-Jährigen eine Grundsicherung im Alter. Allerdings stellt sich die Lage in Ost- und Westdeutschland recht unterschiedlich dar. In Ostdeutschland sind derzeit die Rentenzahlbeträge durchweg höher als in Westdeutschland. Allerdings machen die gesetzlichen Renten in den neuen Ländern im Durchschnitt 85 Prozent des Einkommens eines Rentnerhaushalts aus, während es im Westen etwa die Hälfte ist. Denn die ostdeutschen Rentnerhaushalte haben in der Regel bislang kaum andere Einkünfte wie etwa Betriebsrenten oder Mieten aus Immobilienbesitz. In den kommenden Jahren wird Altersarmut in Ostdeutschland für immer mehr Menschen zu einem Problem, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Mitte 30 Jahre alt waren und deren Erwerbsbiografien durch massive Brüche gekennzeichnet sind. So ist Langzeitarbeitslosigkeit in den Neuen Bundesländern deutlich stärker verbreitet als in Westdeutschland. Deshalb ist in den kommenden Jahren in den neuen Ländern mit einem deutlich höheren Prozentsatz von Rentnerinnen und Rentnern zu rechnen, die auf die staatliche Fürsorge angewiesen sind oder die zumindest armutsgefährdet sein werden. Folgt man einer sehr soliden Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, werden mittelfristig über ein Drittel der Rentnerinnen und Rentner in Ostdeutschland armutsgefährdet sein.

POLITIKUM: Unser heutiges Rentensystem wurde 1957 unter dem CDU-Kanzler Konrad Adenauer eingeführt. Der größte Erfolg der Reform bestand darin, die Alten mit der neu eingeführten „dynamischen Rente“ an dem Wohlstandszuwachs zu beteiligen und die Altersarmut zu einem Randphänomen zu machen.

Rürup: Den ersten Teil der Aussage unterstreiche ich, den zweiten sehe ich differenzierter. Die Tatsache, dass 1957 die Altersarmut schlagartig verschwand, hatte nur bedingt etwas mit der von Adenauer gegen den Willen seines Wirtschaftsministers Erhard und der FDP durchgesetzten dynamischen Rente zu tun, sondern damit, dass von Adenauer alle Bestandsrenten um bis zu 70 Prozent erhöht worden sind. Dieses Einführungsgeschenk an die Bestandsrentner wurde aber nicht nur aus den ersten Beiträgen dieses neuen Umlagesystems finanziert, sondern nicht zuletzt aus Kassenresten des Bundeshaushalts, die aus nicht verausgabten Geldern zum Aufbau der jungen Bundeswehr stammten und sich damals auf nahezu ein Drittel des Bundesetats beliefen. Umlagesysteme ermöglichen Einführungsgeschenke, weil den Beitragseinnahmen der ersten Jahre eines neu eingeführten Umlagesystems keine aus diesen Beitragsleistungen entstandenen und zu bedienenden Leistungen gegenüberstehen. Das konkrete Ausmaß der Anhebung der sehr niedrigen Bestandsrenten hatte daher nur bedingt etwas mit der dynamischen Rente zu tun, die 1957 an die Stelle der 1891 eingeführten „Bismarck-Rente“ trat. Dieses vom Prinzip her kapitalgedeckte Rentensystem war nach dem Ersten Weltkrieg kollabiert – wegen der vielen Hinterbliebenen der Millionen von Kriegstoten und wegen der Entwertung der Kapitalreserven durch die Hyperinflation der frühen 1920er Jahre. Danach siechte das Rentensystem vor sich hin und ließ die Altersarmut anwachsen. Noch einmal: Entscheidend für das schlagartige Verschwinden der Altersarmut war die massive Anhebung der Bestandsrenten. Die Orientierung der Rentenanpassungen an die Entwicklung der Bruttolöhne hat dafür gesorgt, dass sich in der Folge der Lebensstandard im Alter an der Lohnhöhe orientierte.

POLITIKUM: Aber das Motiv für die Reform 1957 war doch die Beseitigung der Altersarmut?

Rürup: Ja, man wollte eine armutsfeste Alterssicherung einführen und zwar nicht nur für die damals Alten, sondern auch für die zukünftigen Alten. 

POLITIKUM: Die Systematik des Rentensystems in sich ist also nicht armutsvermeidend?

Rürup: Die Bismarck-Rente mit ihrer Regelaltersgrenze von satten 70 Jahren zielte in erster Linie darauf ab, das Risiko von existenzieller Altersarmut infolge von Erwerbsminderung abzusichern. Das eigentliche Ziel der Reform von 1957 lautete: Die Rentner sollen an der wirtschaftlichen Dynamik beteiligt werden. Die sehr kräftige Anhebung der Bestandsrenten hatte aber auch wahltaktische Gründe. So hat die CDU im Jahr 1957 erstmalig und einmalig die absolute Mehrheit der Stimmen bei der Bundestagswahl bekommen. Nicht zuletzt als Folge dieser Reform. 

POLITIKUM: Sie würden also sagen, das eigentliche Ziel der Reform war die Einführung des Versicherungsgedankens?

Rürup: Nein, der Versicherungsgedanke ist ein Instru­ment, nicht das Ziel. Man wollte die Alten an der wirtschaftlichen Dynamik teilhaben lassen. Deshalb die Einführung der lohnbezogenen Rentenanpassungen. Man glaubte damals noch an eine starke Verhandlungsmacht der Gewerkschaften und daran, dass sie dauerhaft eine halbwegs konstante Lohnquote garantieren können. Dann wären die Rentenbezieher dauerhaft an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung beteiligt. Das war das Ziel. Und das zu erreichen hat zunächst auch bis in die 1970er Jahre ganz gut funktioniert.

POLITIKUM: Welche rentenpolitische Agenda verfolgt die GroKo heute? Was ist heute der Sinn und Zweck des Rentensystems?

Rürup: Eine leitende Idee ist derzeit nicht ersichtlich. Die Reformen dieses Jahrzehnts muss man wohl eher als wahltaktisch motivierte Klientelpolitik bezeichnen. Zudem darf man nicht vergessen, dass jede Rentenreform nicht nur die aktuellen und erwarteten ökonomischen Rahmenbedingungen reflektiert, sondern immer auch Ausfluss des Zeitgeistes ist. Als Mitte der 1950er Jahre das System eingeführt wurde, war die dauerhafte Vollzeitbeschäftigung des Hauptverdieners die Regel. Die Lohnspreizung war relativ gering. Durchbrochene Erwerbsbiografien kannte man nicht. Die Massenarbeitslosigkeit war vergessen. Und man hätte sich damals auch nicht vorstellen können, dass ein Rentensystem einmal in Schwierigkeiten kommen könnte, weil es zu wenige Kinder gibt. Das waren die zentralen Annahmen der 1957er Reform. Seitdem hat es aber mindestens 60 Reformen – darunter 20 große und in den letzten 30 Jahren fünf Jahrhundertreformen – gegeben, durch die immer die Koordinaten des Systems etwas verschoben wurden. Was wir gegenwärtig erleben, ist der Versuch, das Rentensystem auf einen postindustriellen Arbeitsmarkt auszurichten. Der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft ist allgegenwärtig, auch wenn dieser Wandel in Deutschland langsamer voranschreitet als in anderen Ländern. Der traditionelle industrielle Arbeitsmarkt ist hier zwar noch prägend, nimmt in seiner Bedeutung aber ab. Im Zuge der Digitalisierung wird sich dies noch weiter verschärfen. Dieser Strukturwandel wird meines Erachtens nicht in eine Massenarbeitslosigkeit münden, wohl aber dürfte sich die Art der Beschäftigung signifikant verändern. Genau darauf ist unser Rentensystem nicht eingerichtet. Die Grenze zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit verschwimmt, und darauf versucht die Politik gegenwärtig Antworten zu finden. Wir diskutieren hier so viel über Systembruch. Aber wir verdrängen, dass wir nicht in der Lage sind, die vermeintlichen Vorzüge unseres Systems einem Niederländer, einem Schweizer oder einem US-Bürger zu erklären. Machen Sie denen einmal klar, warum etwa das Äquivalenzprinzip von zentraler Bedeutung sein sollte. Das wird in diesen Ländern nicht verstanden.

POLITIKUM: Sie meinen, wir diskutieren hierzulande zu viel über Systemprinzipien und zu wenig über die Frage einer sinnvollen Anpassung des Rentensystems an sich verändernde ökonomische Rahmenbedingungen? 

Rürup: Ja, zudem ist das Äquivalenzprinzip nirgends wirklich präzise definiert. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung aus Berlin forderte beispielsweise jüngst mit Hinweis auf das Äquivalenzprinzip eine Anhebung der niedrigen Renten. Warum? 

POLITIKUM: Wegen der kürzeren Lebenserwartung von Geringverdienern. 

Rürup: Richtig. Ich halte das für Unsinn. Aber daran sieht man, dass das Äquivalenzprinzip in weiten Teilen eine Worthülse ist, in die man hineinprojiziert, was man gerade selbst für richtig erachtet. 

POLITIKUM: Sie plädieren also für eine pragmatische Rentenpolitik mit klaren Zielsetzungen. Aber noch einmal: Soll die Rente ein existenzsichernder Lohn­ersatz sein oder mehr eine Basissicherung für möglichst alle Erwerbstätigen? 

Rürup: Für mich gehört zu einem modernen Rentensystem eine Hochwertung von Renten von langjährigen Geringverdienern. In den allermeisten OECD-Ländern, in genau 29 von 36, geschieht das. Denn in der Mehrzahl der entwickelten Industrieländer steht die Armutsvermeidung an erster Stelle, auch weil damit die Legitimation des Systems gestärkt wird. Was wir in der letzten Zeit in Deutschland beobachten können, ist ein Versuch, die Koordinaten unserer gesetzlichen Rentenversicherung ein wenig in diese Richtung zu verschieben. Allerdings wird die rentenpolitische Diskussion dabei immer verworrener. Nehmen wir den vieldiskutierten Begriff der sogenannten „versicherungsfremden Leistungen“. Diese „versicherungsfremden Leistungen“ sind bislang vom Gesetzgeber nie definiert worden. Manchmal werden von der Deutschen Rentenversicherung Listen erstellt, und dabei stellt sich dann wundersamerweise heraus, dass die Ausgaben für diese Leistungen immer mehr oder weniger exakt der Höhe der Bundeszuschüsse entsprechen. Das ist wenig überzeugend, zumal seit 1999 Steuerzuschüsse in das Rentensystem geleitet werden mit dem klaren Ziel, den Beitragssatz zu senken. Der damals eingeführte Ökosteuerzuschuss hatte explizit das Ziel, den Beitragssatz zu senken. Das hat doch mit „versicherungsfremden Leistungen“ nichts zu tun. De facto gibt es seit langem eine steuerliche Kofinanzierung des Rentensystems und der beitragserworbenen Ansprüche, was durch das vielbeschworene Äquivalenzprinzip nicht gedeckt ist. 

POLITIKUM: Sie sehen also kein grundsätzliches Problem, wenn in der Zukunft der Steueranteil im Rentensystem weiter ansteigt? 

Rürup: Das ist eine Wertentscheidung. Jede Rentenreform ist immer auch eine Interpretation der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellung. Und was gerecht ist, ist immer eine sich im Zeitverlauf ändernde Diagonale im Parallelogramm der politischen Kräfte. Insofern reflektiert jede Rentenreform auch den ideologischen Zeitgeist und die Erkenntnis über sich ändernde Rahmenbedingungen. Genau aus diesem Grund ist Rentenpolitik eine Daueraufgabe. Prinzipien sind wichtig, weil sie ein willkürliches Hin und Her in der Rentenpolitik vermeiden helfen. Eine prinzipiengeleitete Rentenpolitik kann Vertrauen und Verlässlichkeit schaffen, was für so etwas Langfristiges wie die Alterssicherung von besonderer Bedeutung ist. Aber Prinzipien, zumal wenn sie überkommen sind, sind auch nicht alles. Das Argument, dass eine Maßnahme gegen irgendein Prinzip verstößt, ist für sich genommen für mich ein ziemlich schwaches Argument. 

POLITIKUM: Das Problem der Altersarmut lässt sich also nicht nur an die Grundsicherung adressieren, sondern muss auch Angelegenheit des Rentensystems sein? 

Rürup: Ja, natürlich. Warum hat man denn in der Vergangenheit staatliche Rentensysteme eingeführt? Antwort: Weil jedes obligatorische System – sei es umlagefinanziert oder kapitalgedeckt – eine Versicherung der Steuerzahler gegen Sozialhilfeansprüche darstellt. Für ein Umlagesystem spricht wie eingangs gesagt, dass so die erste Generation der Alten sofort bedient werden kann. So wie 1957. 

POLITIKUM: Sie haben noch nicht die Frage beantwortet, wohin sich das Rentensystem künftig entwickeln wird. 

Rürup: Es wird sich in Richtung einer Bürgerversicherung, einer universalistischen Versicherung mit dem Fokus auf Altersarmutsvermeidung, also einer Basissicherung für alle entwickeln. In Deutschland haben wir allerdings das Problem, dass es ein Patchwork von obligatorischen Alterssicherungssystemen gibt. Wir haben die Beamtenversorgung, wir haben die berufsständischen Versorgungswerke, wir haben die landwirtschaftliche Versorgung und, und, und … Insgesamt ein völlig zergliedertes System. Und die Ansprüche, die in den einzelnen Systemen erworben wurden, sind verfassungsrechtlich geschützt. Deshalb kann es keine Big-Bang-Reform geben. Man kann immer nur ein Stück weit die Koordinaten dieses Patchworks verschieben. Dazu kommt noch das Problem, dass es derzeit ungefähr dreieinhalb Millionen Selbstständige gibt, die in keinem System versichert sind. Meine Empfehlung: Dieser Personenkreis gehört in die gesetzliche Rentenversicherung hinein. 

POLITIKUM: Bis 2002 gab es im Rentensystem ein implizites Sicherungsziel, nämlich ein Netto-Rentenniveau in Höhe von 64 Prozent. 

Rürup: Das war nie kodifiziert … 

POLITIKUM: … aber in der Anpassungsformel implizit enthalten. 

Rürup: Aber zugleich bestand ein Selbstregulierungsmechanismus, dass immer dann, wenn der Beitragssatz aufgrund der Finanzlage erhöht werden muss, die Rentenanpassung runtergeht und als Folge davon das Rentenniveau absinkt. 

POLITIKUM: Diesen Mechanismus gab es 1957 aber noch nicht … 

Rürup: Stimmt. Aber seit der 1992er Reform gilt, dass dieser Selbstregulierungsmechanismus ein konstantes Rentenniveau ausschließt. Es sei denn, man bemisst die in das System fließenden Steuermittel am Ziel der Niveaustabilisierung oder der Stabilisierung des Beitragssatzes. 

POLITIKUM: Und was bedeutet heute das Mindest­sicherungsniveau von 43 Prozent bis 2030? Ist das ein Sicherungsziel? 

Rürup: Ja, das ist ein garantiertes symbolisches Sicherungsziel. Ein materielles Sicherungsziel wäre diese Zahl, wenn sie irgendetwas über die Höhe der tatsächlich an die einzelnen Empfänger ausgezahlten Renten aussagen würde. Deshalb wäre es sehr verdienstvoll, einen aussagekräftigeren Maßstab zu entwickeln, der Auskunft über die tatsächliche Generosität des Systems gibt. Wenn man beispielsweise in der BILD-Zeitung liest, dass das Rentenniveau dem Prozentsatz des letzten individuellen Arbeitseinkommens entspricht, da rollen sich einem die sprichwörtlichen Fingernägel auf. Denn genau das sagt das derzeitige Rentenniveau nicht aus. Da wird also etwas hineinprojiziert, was diese Kennziffer weder erfüllen kann noch soll. 

POLITIKUM: Sie meinen also, der Indikator des Rentenniveaus ist irreführend. 

Rürup: Zumindest wird mit dem Rentenniveau irreführend argumentiert. Ein sinkendes Rentenniveau bedeutet nicht, dass auch die Zahlbeträge der Renten sinken. Das ist seit 2009 ausgeschlossen, selbst für den Fall, dass die Löhne zurückgehen sollten. Es wäre verdienstvoll, das derzeitige Renten­niveau durch einen Indikator zu ersetzen, der Auskunft darüber gibt, ob und wie viel zusätzlich vorgesorgt werden sollte. Denn diese Information liefert das Rentenniveau definitiv nicht. 

POLITIKUM: In den 1980er Jahren gab es den schon, nämlich das individuelle Zugangs-Rentenniveau, das von der Rentenversicherung regelmäßig in der Statistik ausgewiesen wurde. 

Rürup: Das stimmt, und andere Länder weisen Ersatzraten aus, die nach der Versicherungsdauer und der Höhe des Verdienstes gestaffelt sind. So etwas haben wir aber nicht, und deshalb wird hier viel zu viel über ein Symbol gestritten. Man kann auch über Symbole streiten, aber nur wenn sie aussagekräftig sind. Das Rentenniveau ist aber nicht sonderlich aussagekräftig. 

POLITIKUM: Noch einmal: Welche Ziele verfolgt also unser Rentensystem heute in Deutschland?

Rürup: Armutsvermeidung und Lebensstandardsicherung. Letzteres kann das gesetzliche Rentensystem aber nur in Kombination mit anderen Systemen erreichen. Das Ziel der Lebensstandardsicherung ist eine individuelle Größe und orientiert sich durchweg an dem entfallenen Erwerbseinkommen der letzten Arbeitsjahre. Als Faustregel gilt: 70 Prozent des letzten verfügbaren Einkommens sollte die Gesamtversorgung im Alter schon erreichen. Dieses Ziel hat die gesetzliche Rente aber zu keiner Zeit seit ihrer Existenz erfüllt und das wird sie auch in Zukunft nicht. 

POLITIKUM: Und was ist mit den sogenannten „Haltelinien“, die die GroKo 2018 in das Gesetz geschrieben hat? 

Rürup: Die aktuellen Haltelinien – 48 Prozent Rentenniveau und 20 Prozent Beitragssatz bis 2025 – sind reine Symbolpolitik. Diese Werte entsprechen im Wesentlichen den Vorausberechnungen des letzten Rentenversicherungsberichts. Das heißt: Wenn man nichts tut, hat man diese Ziele praktisch schon erfüllt. Und das schreibt man in das Gesetz. Na toll! 

POLITIKUM: Herr Rürup, 2015 wurde in Deutschland nach vielen Widerständen der Mindestlohn eingeführt. Bekommen wir jetzt bald die Mindestrente? 

Rürup: Der Mindestlohn war ein Erfolg. Viele Beschäftigte wurden einkommensmäßig bessergestellt, allerdings ohne dass sich deshalb die Größe des Niedriglohnbereichs verändert hätte. Und über eine Mindestrente sollten wir diskutieren. Das hat einiges mit dem Niedriglohnsektor zu tun … 

POLITIKUM: … in dem in Deutschland derzeit immerhin neun Millionen Menschen arbeiten … 

Rürup: Ja, aber der Niedriglohnbereich existiert nicht erst seit 2005. Der Anteil der Beschäftigten, der in diesem Lohnsektor arbeitet, liegt bereits seit Ende der 1990er Jahre ziemlich unverändert bei rund 23 Prozent, also etwa einem knappen Viertel der Beschäftigten. Die Hartz-Reformen Anfang der 2000er Jahre haben diesen Sektor – anders als viele behaupten – nicht vergrößert. Allerdings dürften sie dafür gesorgt haben, dass dieser Lohnbereich trotz des rasanten Beschäftigungsaufschwungs in den letzten Jahren nicht zurückgegangen ist. In der Tat bin ich der Auffassung, dass eine Person, die lebenslang im Niedriglohnsektor gearbeitet und damit dokumentiert hat, dass sie nicht der Fürsorge anheimfallen wollte, das im Alter auch nicht tun sollte. 

POLITIKUM: Also plädieren Sie – ähnlich wie der Arbeitsminister Hubertus Heil – für eine Mindestrente für langjährig Versicherte? 

Rürup: Ja, das ist meine persönliche Wertentscheidung: Wer sich Zeit seines Arbeitslebens erfolgreich bemüht hat, nicht auf das Fürsorgesystem angewiesen zu sein, der sollte auch nicht im Alter in die Fürsorge fallen. Dieser Grundgedanke entspricht auch dem Standardmodell der Rentensysteme in den meisten OECD-Ländern. 

POLITIKUM: Erlauben Sie in diesem Zusammenhang einen Sprung zur CDU. Sie sind zwar kein CDU-Spezia­list, aber können Sie mir dennoch die folgende Frage beantworten: Warum fordert die CDU heute eine Grundrente mit Bedürftigkeitsprüfung, während sie in den 1970er und 1980er Jahren immer strikt gegen eine Bedürftigkeitsprüfung war, weil sie damit eine Vermischung des Fürsorgesystems- und Rentensystems befürchtete? 

Rürup: Die CDU hat kein homogenes rentenpolitisches Leitbild. Es gibt große Unterschiede zwischen dem Arbeitgeber- und Arbeitnehmerflügel und auch zwischen Ost- und Westdeutschland. 

POLITIKUM: Aber es gab doch lange Zeit ein dominantes Leitbild der CDU, das für eine strikte Trennung von Renten- und Fürsorgesystem eingetreten ist. Dafür standen Leute wie Bogs, Adenauer, Kolb, Blüm und Schmähl. Wo ist dieses Leitbild geblieben? 

Rürup: In früheren Zeiten war es leichter, diesem Leitbild anzuhängen. Aus dem besonderen Lohnersatzcharakter und dem Beitragsbezug der Rente resultiert letztlich auch der Eigentumsschutz der Rentenansprüche. Heute muss man aber fragen, ob die Voraussetzungen für diese ordnungspolitischen Grundsätze noch erfüllt sind. Man muss akzeptieren, dass auch ein Rentensystem vom Zeitgeist und den sozioökonomischen Rahmenbedingungen abhängig ist. 

POLITIKUM: Also hat die CDU ihren alten Zeitgeist aufgegeben, aber bislang noch keinen neuen entwickelt? 

Rürup: Ja, jedenfalls keinen einheitlichen. Die SPD im Übrigen auch nicht. 

POLITIKUM: Zu der kommen wir noch. Kommen wir erst einmal auf das sogenannte „Drei-Säulen-Modell“ in der Alterssicherung zu sprechen. An dem Paradigmenwechsel des Rentensystems 2001 – also der Implementierung langfristiger Beitragssatzziele in das Rentensystem mit der Folge eines sinkenden Rentenniveaus und der Einführung einer staatlichen Förderung der privaten Altersvorsorge – waren Sie als Politikberater maßgeblich beteiligt. Die Grundidee der damaligen Reform lautete: Das Drei-Säulen- Modell soll in der Alterssicherung das bisherige Ein-Säulen-Modell sukzessive ersetzen. Wie schätzen Sie die Lage heute, also knapp 20 Jahre später, ein? Lässt sich sagen, dass diese Idee gescheitert ist? 

Rürup: Nein, heute ist diese Idee dringlicher und richtiger denn je. Denn wir können in allen Industrie­ländern dieser Welt einen schleichenden Rückgang der Lohnquoten beobachten, das heißt eine Erosion der Finanzierungsgrundlage der lohnzentrierten Umlagesysteme. In Deutschland ist dieser Rückgang recht markant: Heute liegt die Lohnquote einige Prozentpunkte unterhalb des Wertes der 1980er Jahre, und das, obwohl es heute zehn Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr gibt. Der erste Grund dafür liegt in der Globalisierung, die aufgrund des Drohpotenzials der Arbeitgeber, Produktionen ins Ausland zu verlagern, zu einem Schwinden der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften geführt hat. Der zweite Grund ist ein struktureller Wandel der Beschäftigungsverhältnisse weg von dem gutbezahlten Industriesektor hin in den zumeist schlechter bezahlenden Dienstleistungsbereich, in dem die Gewerkschaften zudem durchweg schwach sind. Drittens gibt es den arbeitssparenden technischen Fortschritt. Ein Rückgang der Lohnquote impliziert einen Anstieg der Kapitaleinkommen. Diese Entwicklung ist in allen Industriestaaten zu beobachten. Da sollte es geradezu ein Gebot der Stunde sein, ein Alterssicherungssystem aus allen Quellen des Volkseinkommens zu finanzieren. Und kommen Sie mir jetzt nicht mit den niedrigen Zinsen! 

POLITIKUM: Aber Sie wollen doch nicht bestreiten, dass wir seit etwa zehn Jahren eine nicht abreißende Niedrigzinsphase in ganz Europa haben und sie dazu führt, dass Altersvorsorgesparen viel unattraktiver ist als früher. 

Rürup: Ja, aber trotzdem steigen die Kapitaleinkommen. Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass der Zins für Staatsanleihen die richtige Referenzgröße für die Effektivität eines kapitalgedeckten Systems ist. 

POLITIKUM: Sie sagen also, die Idee des Drei-­Säulen-Modells ist trotz niedrigen Zinses nicht gescheitert? 

Rürup: Ja, schauen Sie doch nach Norwegen oder Schweden. Dort gibt es recht ordentliche Renditen in den kapitalgedeckten Rentensystemen. 

POLITIKUM: Aber hierzulande verfügen über 20 Jahre nach der Einführung der staatlich geförderten Zusatzvorsorge immer noch über ein Drittel der Beschäftigten über keinerlei zusätzliche Rentenansprüche aus betrieblichen oder privaten Vorsorgesystemen. 

Rürup: Das liegt daran, dass man 2001 die kapitalgedeckte Zusatzvorsorge nicht obligatorisch eingeführt hat. Das war ein großer Fehler. Wenn ein Umlagesystem – aus welchen Gründen auch immer – zurückgefahren wird und ein ergänzendes oder ersetzendes kapitalgedecktes System aufgebaut werden soll, dann muss garantiert sein, dass die Versichertenkollektive beider Systeme gleich sind. Und das setzt ein Obligatorium voraus. Ein Obligatorium impliziert zudem, dass die Produkte keine Push-Produkte sind, die teuer verkauft werden müssen und bei denen es Anreize zu intransparenten Produktdifferenzierungen gibt. In anderen Ländern bestehen funktionierende Mischsysteme: Norwegen, Schweden, Niederlande. Im Übrigen lässt sich zeigen, dass Mischsysteme im Hinblick auf die Risikodiversifikation grundsätzlich besser aufgestellt sind als reine Umlagesysteme und natürlich auch als reine kapitalgedeckte Systeme. 

POLITIKUM: Warum wurde denn dann die notwendige zusätzliche Pflicht-Vorsorge hierzulande nicht eingeführt? 

Rürup: Die Versicherungswirtschaft und eine große Boulevardzeitung mit ihrer Schlagzeile von der „Zwangsrente“ haben das verhindert. 

POLITIKUM: Aber man hätte doch mit einem Obligatorium eine höhere Marktdurchdringung realisieren können. 

Rürup: Zweifellos. 

POLITIKUM: Besteht heute nicht die Gefahr, dass die Alterssicherung mehr und mehr aktienbasiert organisiert wird und Alterseinkommen damit in der Tendenz immer ungleicher und unsicherer werden? 

Rürup: Nein, diese Gefahren sehe ich nicht. Erstens ist es möglich, die Volatilität von Aktien rauszunehmen, indem man mit Life-Cycle-Anlagemodelle arbeitet, bei denen der Aktienanteil mit voranschreitendem Alter reduziert wird. Aktiencrashs wird es immer geben, aber sie dauern in aller Regel nicht lange. Aktienbesitzer sind am Ende ihres Lebens durchweg reicher als Anleihesparer. In Deutschland ist die Sparquote sehr hoch, und dennoch ist das private Vermögen der Haushalte nur halb so groß wie das von Haushalten in vergleichbaren Ländern. Das liegt an der Aversion der Deutschen gegen Aktien! 

POLITIKUM: Aber Vermögensbildung ist doch etwas anderes als Altersvorsorge. Wenn Sie den Zeitpunkt des Renteneintritts erreichen, müssen Sie zur Absicherung Ihres Langlebigkeitsrisikos Ihr Aktienvermögen umwandeln in eine Rente. Wenn dann gerade die Aktienkurse im Keller sind, dann haben Sie doch ein Problem. 

Rürup: Sie blenden dabei aus, dass es möglich und sinnvoll ist, den Aktienanteil am Vorsorgevermögen mit steigendem Alter zu reduzieren, um auf diese Weise die Volatilität sukzessive rausnehmen. Genau das nennt sich Life-Cycle-Modelle. Und das macht man heute schon! 

POLITIKUM: Kommen wir abschließend zu der nächsten Rentenreform. 

Rürup: Noch eine Bemerkung zur Reform von 2001: Damals wurde die Demografie als treibende Ursache vorgestellt, aber ohne fünf Millionen Arbeitslose hätte es diese Reform nie gegeben. Ein ganz entscheidender Treiber war das Ziel, mit dem Anstieg des Beitragssatzes die Dynamik der Arbeitskosten langfristig zu bremsen. Alles andere wurde daraus abgeleitet. Bei der gleichen Demografie hätte es 2015 eine völlig andere Rentenreform gegeben. 

POLITIKUM: Aber die Demografie wurde damals benutzt, um die Reform durchzusetzen. 

Rürup: Natürlich. Aber sie wurde auch schon genutzt, um die Blüm-Reform 1989 durchzusetzen, durch die der für 2030 erwartete Anstieg des Rentenversicherungssatzes von den prognostizierten fast 40 Prozent auf 27 Prozent herunterreformiert werden sollte. 

POLITIKUM: Aber die demografische Lage war doch schon damals – und ist es bis heute – gut. Die geburtenstarken Jahrgänge sind doch alle im Erwerbsalter und arbeiten. 

Rürup: Ja, Sie haben Recht. Die Bevölkerung und die Erwerbsquote steigen, und die deutsche Volkswirtschaft hat in den letzten Jahren stark von der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU profitiert. Aber das ändert nichts daran, dass das Demografie-Problem spätestens 2025 kommt. Derzeit leben wir in einem echten demografischen „Honeymoon“. Aber der wird schon bald enden. 

POLITIKUM: Herr Rürup, Sie sagen immer: Nach der Reform ist vor der Reform. Glauben Sie, dass die GroKo noch eine größere Strukturreform zustande bekommt? Und wenn ja, welche Elemente wird sie enthalten? 

Rürup: Ich bin davon überzeugt, dass die GroKo einen Grundrenten-Kompromiss finden wird. 

POLITIKUM: Mit einer „Einkommensprüfung-light“, durchgeführt von der Rentenversicherung, ähnlich wie bei der Hinterbliebenenrente? 

Rürup: Ja, so etwas. Für eine solche Bedürftigkeitsprüfung „light“ spricht, dass niedrige Rentenansprüche nicht zwingend aus einem geringen Stundenlohn resultieren, sondern auch mit einer geringen Arbeitszeit zusammenhängen können. In den Rentenkonten sind nur die Einkommen, nicht aber die jeweiligen Arbeitszeiten registriert. Dies ist ein Argument dafür, vor der Gewährung einer Mindestrente für langjährig Versicherte den Haushaltskontext des Einkommens zu prüfen. 

POLITIKUM: Und die Einbeziehung der Selbstständigen? 

Rürup: Auch das werden die GroKo-Parteien hinbekommen. Allerdings erwarte ich hier einen faulen Kompromiss: Man wird den betroffenen Selbstständigen eine Wahlmöglichkeit eröffnen. Davon halte ich nichts, weil dies zu einer Risikoselektion führt und private Versicherungen – anders als die gesetzliche Rentenversicherung – nicht auch das Invaliditäts- und Hinterbliebenenrisiko abbilden können. 

POLITIKUM: Wird es im Jahre 2021 einen Rentenwahlkampf geben? 

Rürup: Das glaube ich nicht. Der Anteil der alten Wähler in beiden Regierungsparteien ist zwar sehr hoch. Die Regierungsparteien bilden aber längst keine ­„große“ Koalition mehr. Andere Themen wie insbesondere der Klimawandel werden eine große Rolle spielen. Die SPD dürfte nur bei vorzeitigen Neuwahlen einen Rentenwahlkampf versuchen. Es erscheint mir aber fraglich, ob sie damit gut beraten ist. Denn dann müsste sie auch die Finanzierungsfrage überzeugend beantworten. 

POLITIKUM: Die SPD hätte ja noch eine Alternative. Sie könnte aus der GroKo aussteigen und gemeinsam mit der Partei der Linken für eine Mindestrente in Höhe von 1050 Euro eintreten. Würden Sie ihr das raten? 

Rürup: Nein, eine rot-rote-Koalition nur auf Basis eines Rentenkonzepts ist wahrlich nicht überzeugend. Es gibt in der GroKo auch einige Gemeinsamkeiten in der Alterssicherungspolitik, dies zeigen zum Beispiel die Betriebsrentenreformen der letzten Jahre. 

POLITIKUM: Herr Rürup, vielen Dank für das Gespräch! 

Das Interview führte Tim Köhler-Rama für am 25.6.2019 in Düsseldorf.


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