Armut und Klimagerechtigkeit
„Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren“, erklärte UN-Generalsekretär Guterres anlässlich der Weltklimakonferenz Cop-27. Er hat allen Grund zur Sorge, denn wenn sich der Gegenwartstrend beim Ausstoß klimaschädlicher Emissionen in Zukunft fortsetzt, werden die CO2-Budgets, die der Welt zur Verfügung stehen, um das 1,5-Grad-Erderhitzungsszenario noch zu erreichen, bereits in wenigen Jahren aufgebraucht sein. Ein Bericht von Oxfam deutet an, woran gutgemeinte Klimapolitik immer wieder scheitert: Zwanzig der reichsten Milliardäre emittieren bis zu achttausend Mal mehr Kohlenstoff als die Milliarde der ärmsten Menschen. Wie das Problem der Klimagerechtigkeit politisch bearbeitet werden kann, wird in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert. Markt- und technikzentrierte Lösungen konkurrieren mit einem neuen Staatsinterventionismus, der sich wiederum durch Forderungen nach einem radikalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft herausgefordert sieht.
Am Beispiel der Klimagerechtigkeit soll nachfolgend gezeigt werden, dass ökologische und soziale Nachhaltigkeit untrennbar miteinander verbunden sind. Nur wenn Armut und Hunger weltweit überwunden werden, so die These, gibt es überhaupt noch eine Chance, den Klimawandel und seine Folgen in halbwegs erträglichen Grenzen zu halten. Die Gleichrangigkeit von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit ist ein Maßstab, an dem sich Klimapolitiken messen lassen müssen.
Armut und Klimawandel als zwischenstaatliches Gerechtigkeitsproblem
Beginnen wir mit dem Problem der Klimagerechtigkeit. Der Ausstoß von Treibhausgasen variiert sowohl mit der Platzierung von Staaten in der sozialen Geographie als auch mit der jeweiligen sozialen Position innerhalb nationaler Gesellschaften. Während die reichsten zehn Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung mit ihren Lebensstilen und Konsummustern 2015 49 Prozent der klimaschädlichen Emissionen verursachten, war die untere Hälfte nur für zehn Prozent verantwortlich (Gallagher/Kozul-Wright 2019, 5). Diese Ungleichheitsrelation verweist zunächst auf eine Gerechtigkeitsproblematik, die global zwischen Nationalstaaten oder Staatenbünden ausgetragen wird. Einerseits ist eine rasche Reduktion von klimaschädlichen Emissionen nur möglich, sofern in den großen Flächenstaaten des Südens, allen voran China und Indien, in kürzester Zeit ein radikales Umsteuern stattfindet. Andererseits können sich-entwickelnde Staaten zurecht darauf pochen, dass die frühindustrialisierten Länder bei der Bekämpfung des Klimawandels vorangehen müssen. Gefordert wird, dass die reichen Länder die Hauptlast der Kosten zu schultern haben. Ungleichheiten zwischen Staaten belasten alle Versuche für eine halbwegs planvolle Dekarbonisierung der Weltwirtschaft und machen Klimawandel und Emissionen zum Gegenstand imperialer Rivalitäten und interstaatlicher Auseinandersetzungen. Wenn EU-Europa seine Ökonomien bis spätestens 2050, China seine Wirtschaft aber erst bis 2060 emissionsfrei machen will, ist das aus der EU-Perspektive ein unzulässiger Wettbewerbsvorteil, für China aber ein gerechter Ausgleich für die koloniale Erblast.
Verantwortung frühindustrialisierter Staaten
Der richtige Hinweis, die Bundesrepublik habe nur einen Zwei-Prozent-Anteil an den klimaschädlichen Emissionen, entlastet daher nicht von den Anforderungen einer raschen Transformation. Das Gegenteil ist richtig: Es sind die frühindustrialisierten Staaten, die zeigen müssen, wie ein rascher, nachhaltiger Umbau von Ökonomie und Gesellschaft zu verwirklichen ist, denn nur, wenn sie die Wende zur Nachhaltigkeit in kurzer Frist schaffen, haben die ärmeren Länder der südlichen Halbkugel überhaupt noch eine Entwicklungschance. Bis heute halten die reichen Staaten jedoch noch immer Wirtschaftsbeziehungen aufrecht, die trotz des Aufholens von China, Indien und einigen weiteren Schwellenländern vor allem „den ökonomischen Interessen des Globalen Nordens“ dienen (Umweltbundesamt 2022, 12). Emissionen, die der Wohlstandsmehrung im Globalen Norden zuzurechnen sind, werden mit der Globalisierung von Handelsbeziehungen „einfach nur externalisiert“ (ebd.). Bei der Erreichung von Klimazielen fordert der reiche Norden vom armen Süden ein, was er selbst nicht leistet. Die fortbestehende Armut führt dazu, dass demokratische Institutionen, sofern sie in Staaten der (Semi-)Peripherie überhaupt existieren, schwach und krisenanfällig bleiben. Auch deshalb ist eine „eindeutige Ausrichtung von Entwicklungs- und Schwellenländern Richtung westlicher Demokratien […] immer weniger selbstverständlich“ (ebd.).
Armut und Klimawandel als innerstaatliches Gerechtigkeitsproblem
Alle Versuche, diese interstaatliche Problematik zu bearbeiten, stoßen auf die Zunahme von Armut und vertikalen sozialen Ungleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften. Diese Ungleichheiten gewinnen in ihrer Bedeutung für den Klimaschutz gegenüber den zwischenstaatlichen Ungleichheiten kontinuierlich an Relevanz (Chancel/Piketty 2015). Wurden 1990 noch 62 Prozent der klimaschädlichen Emissionen durch die Ungleichheiten zwischen Ländern verursacht, waren 2019 nahezu zwei Drittel aller Emissionen auf Ungleichheiten innerhalb nationaler Gesellschaften zurückzuführen. Die Zeit, in der die untersten Einkommensgruppen der reichen Länder mehr emittierten als die wohlhabendsten Gruppen der armen Staaten, ist vorbei. Heute verursachen die unteren und mittleren Vermögens- und Einkommensgruppen in Europa und Nordamerika deutlich weniger als die oberen zehn Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung in Asien, Russland und Lateinamerika. Die Emissionen der ärmeren Bevölkerungshälfte in Europa und Nordamerika sind seit 1990 um mehr als ein Viertel zurückgegangen, während sie in den (semi-)peripheren Ländern im gleichen Ausmaß zugenommen haben. Die untere Hälfte der Einkommens-/Vermögensgruppen in Europa und Nordamerika hat Werte erreicht, die sich denen der Pariser Klimaziele für 2030 mit einer jährlichen Pro-Kopf-Emissionslast von Emissionslast von etwa 10 t in den USA und etwa 5 t in europäischen Ländern annähern. Die wohlhabendsten ein Prozent emittierten hingegen 2019 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent gar 80 Prozent mehr. Hauptursache für die steigende Emissionslast sind die Investitionen, nicht der individuelle Konsum (Chancel 2022).
Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass die Produktion von Luxusartikeln für die oberen Klassen und deren Konsum durch begüterte Haushalte zur Haupttriebkraft eines Klimawandels geworden sind, unter dessen Folgen national wie global vor allem die ärmeren, sozial besonders verwundbaren Bevölkerungsgruppen zu leiden haben. Der oftmals erzwungene Konsumverzicht in den unteren Klassen bringt den wachsenden Anteil des einkommensstärksten oberen Zehntels der europäischen Bevölkerung im statistischen Mittel zum Verschwinden. Nur weil Personen mit „kleinen Geldbörsen“ ihren Gürtel wegen sinkender Realeinkommen und steigender Preise enger schnallen müssen, sind die verschwenderischen Lebensstile der oberen Klassen überhaupt noch möglich. Deshalb, so kann geschlussfolgert werden, ist der Kampf gegen Klimawandel und ökologische Zerstörung stets auch einer zugunsten der Armen und Benachteiligten. Selbiges allerdings nicht in einem Sinne, der soziale Gerechtigkeit zu einer Vorbedingung von Nachhaltigkeit machen würde, ohne die zerstörerische Wirkung ökologischer Destruktivkräfte wirklich ernst zu nehmen. Klimawandel und Ressourcenverschwendung kann nur Einhalt geboten werden, sofern im Einklang mit diesen Zielen egalitäre Verteilungsverhältnisse gefördert werden, die den ökologischen Umbau auch mittels sozialer Nachhaltigkeit fördern.
Dass Bekämpfung von Armut bei den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) an erster Stelle genannt wird (UN 2015, 15), lässt sich mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu begründen. Die subjektive Relevanz von Nachhaltigkeitszielen setzt ein in die Zukunft gerichtetes Bewusstsein voraus. Ein Zukunftsbewusstsein, so Bourdieu, kann aber nur entstehen, sofern zumindest ein Minimum an Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit gegeben ist, denn erst eine „feste Arbeitsstelle und ein regelmäßiges Einkommen mit dem ganzen Ensemble an Versicherungen auf die Zukunft, verschaffen den Zugang zu dem, was man Schwelle der Sicherheit nennen könnte“ (Bourdieu 2000, 92). Armut und Prekarität behindern die Herausbildung eines Zukunftsbewusstseins und sie schwächen zugleich – so lässt sich schlussfolgern – die subjektive Bedeutung vor allem ökologischer Nachhaltigkeitsziele für die eigene Lebensführung.
Der „Würgehalsbandeffekt“ als Nachhaltigkeitsbremse
Diese Problematik erfährt in den reichen Ländern des Globalen Nordens gegenwärtig eine besondere Zuspitzung, die sich – mit dem Ökonomen James Galbraith gesprochen – auf eine Art „Würgehalsbandeffekt“ zurückführen lässt (Galbraith/Dörre 2018). Energie- und ressourcenintensive Ökonomien sind grundsätzlich auf ein stabiles Umfeld angewiesen, damit Preise für Rohstoffe, Öl, Gas, Strom etc. einigermaßen berechenbar bleiben. In unsicheren Zeiten machen hohe Fixkosten für diese Güter hingegen die besondere Verwundbarkeit einer auf billigen Naturstoffen und hohem Ressourcenverbrauch basierenden Wirtschaftsweise aus. Wie das Würgehalsband bei einem Hund, verhindert wirtschaftliche und politische Instabilität nicht unbedingt jegliches Wirtschaftswachstum, doch die Preise für Energie und darüber vermittelt auch für viele andere Güter steigen rasch an, um, von spekulativen Manövern beeinflusst, zeitweilig wieder zu fallen. Dieses Auf und Ab beeinflusst die Investitionsbereitschaft negativ und intensiviert Verteilungskämpfe nicht nur zwischen Klassen und Schichten, sondern auch innerhalb der Staatsapparate.
Inflation und Folgen des Ukraine-Krieges
In der Gegenwart haben Inflation und die Folgen des Ukraine-Kriegs diesem „Würgehalsbandeffekt“ eine zusätzliche Wucht verliehen. Aufgrund steigender Energie-, Ressourcen- und Nahrungsmittelpreise werden die realen Nettoeinkommen – Geld, das nach Abzug von Steuern, Sozialabgaben und Fixkosten für Miete, Heizung etc. übrigbleibt – deutlich sinken. Das dürfte auch in Deutschland eine Entwicklung verstärken, die sich bereits vor dem Ukraine-Krieg in empirischen Daten deutlich abgezeichnet hat. Während die Arbeitslosenquote und die Quote von Personen im Leistungsbezug des Sozialgesetzbuchs II (SGB II) von Mitte der 2000er Jahre bis zum Beginn der Pandemie merklich zurückgegangen ist, hatte die Armutsquote 2020 ein Rekordniveau erreicht (siehe Abb. 1).
Bekämpfung der Klimakrise und die Folgen für Armut
Ob Armut in reichen Gesellschaften ein sinnvoller Begriff ist, wird in wissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeiten allerdings kontrovers diskutiert. Allgemein bezeichnet Armut einen Zustand des Mangels an lebenswichtigen Gütern und Ressourcen. In reichen Gesellschaften handelt es sich bei entsprechenden Phänomenen zumeist nicht um absolute Armut, sprich: um den Kampf ums physische Überleben, sondern um eine relative Form der Entbehrung, die sich über ein mit dem gesellschaftlichen Reichtumsniveau variierendes soziokulturelles Existenzminimum definiert. Es handelt sich um einen relationalen, mehrdimensionalen Begriff, der sich keineswegs auf Einkommen und materielle Güter beschränkt. Armut ist vielmehr ein Phänomen, das geringe Bildungschancen und den (Selbst-)Ausschluss von politischer Partizipation ebenso umfasst wie den Mangel an reichen sozialen Beziehungen (Geißler 2006, 202).
Unter den Bedingungen einer ökonomisch-ökologischen Zangenkrise und dem „Würgehalsband-Effekt“ kommen Formen der Deprivilegierung wie die der Energiearmut hinzu. Zangenkrise besagt, dass das wichtigste Mittel zur Überwindung wirtschaftlicher Stagnation und zur Pazifizierung interner Konflikte im Kapitalismus, die Generierung von Wirtschaftswachstum nach den Kriterien des Bruttoinlandsprodukts, unter Status-Quo-Bedingungen (hoher Emissionsausstoß, ressourcenintensive Produktions- und Lebensweisen, beständig steigender Energieverbrauch) ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt. Die Folgen für ökologische Nachhaltigkeit und die Bekämpfungen des Klimawandels sind gravierend. Selbst Personen, die bei der Sicherung der eigenen Reproduktion auf Einrichtungen wie die der Tafeln angewiesen sind, wissen in der Regel sehr wohl um die zerstörerischen Folgen des Klimawandels. Doch diese Erkenntnis hat für sie kaum lebenspraktische Relevanz. Wegen knapper Budgets sind diese Menschen bei Nahrungsmitteln, Kleidung und sozialen Diensten auf Billigstangebote angewiesen; Produkte aus regionaler, ökologisch nachhaltiger Herstellung bleiben wegen höherer Preise unerschwinglich. Die Ungleichheitsschere wird sich aller Voraussicht nach auch in Deutschland weiter öffnen. Nach Berechnungen des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) könnten Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg allein 2023 zu einem Wohlfahrtsverlust von durchschnittlich ca. 7.000 Euro pro Kopf führen (Otte 2023). Von 2020 bis 2022 lag der Kaufkraftverlust bereits bei 400 Milliarden Euro; Investitionen in einer Größenordnung von 125 Milliarden Euro wurden nicht getätigt (Grömling 2022). Mit Wohlstandsverlusten wächst die Gefahr, dass intensivere Verteilungskämpfe und pure soziale Not ökologische Nachhaltigkeitsziele von den politischen Agenden verdrängen.
Welche Lösungen verspricht Klimapolitik?
Wie kann Klimapolitik gegensteuern? Nach einem groben Raster lassen sich marktaffine, technikzentrierte und staatsfixierte Ansätze unterscheiden.
Die Marktoption setzt darauf, künstlich zu verknappen, was einstmals im Überfluss vorhanden war. Das geschieht, indem CO2-Äquivalente einen Preis erhalten. Der Preismechanismus soll dafür sorgen, dass Technologie und Produktionsverfahren, die fossile Energieträger nutzen, aus dem Markt verschwinden. Der Emissionshandel, gegebenenfalls auch eine CO2-Steuer, werden zum Hauptinstrument, um den menschengemachten Klimawandel zu bekämpfen (Fücks/Köhler 2019). Das Hauptproblem marktkompatibler Instrumente besteht indes darin, dass sie in ihren Auswirkungen sozial blind sind. Selbst wenn eine CO2-Steuer mit einem Klimageld oder einer anderen Form des sozialen Ausgleichs verbunden ist, werden die Bevölkerungsgruppen mit kleiner Geldbörse weit stärker belastet als die Inhaber*innen großer Portemonnaies.
Die Technikoption verbindet Marktmechanismen mit einem Plädoyer für beschleunigten technologischen Wandel. Vorreiter sind Repräsentanten der New Economy wie Elon Musk und Bill Gates. Beide stehen für eine Ideologie, die in unternehmerischer Kreativität, technischen Innovationen und einer Berücksichtigung des Gesetzes von Angebot und Nachfrage die Lösung für nahezu jedes Weltproblem sieht. Der Staat wird als Protagonist technologischen Wandels durchaus gebraucht. Investiert werden soll in CO2-neutralen Stahl, Dünger, Kunststoffe, eine CO2-freie Wasserstoffproduktion sowie in CO2-neutrale Alternativen zum Palmöl, in die CO2-Abscheidung und die „Kernspaltung der nächsten Generation“ (Gates 2021). Einmal davon abgesehen, dass sich die Kernenergie in ihrem gegenwärtig verfügbaren Format als technologische Sackgasse erwiesen hat, weist auch die Technikoption gravierende Mängel auf. Geht es nach dem technikbasierten Solutionismus, fahren wir künftig mit dem Elektroauto, verfügen über synthetische Kraftstoffe, essen aus Pflanzen hergestelltes Fleisch, bauen mit emissionsfreiem Material, verarbeiten klimaneutralen Stahl, lassen die Welt aber im Großen und Ganzen so, wie sie ist (Prognos 2021). Das ist ein Wechsel auf die Zukunft, der sich kaum einlösen lässt, weil die systemischen Treiber einer auf Wachstum, Marktexpansion und privaten Gewinn ausgerichteten Wirtschaft in einer Welt mit endlichen Ressourcen fortbestehen.
Auch die Staatsoption lässt Marktmechanismen Raum und setzt auf technologischen Wandel; sie bricht jedoch mit der Vorstellung, der Staat sei ein schlechter Unternehmer. Stattdessen wird darauf verwiesen, dass die vermeintlich größte Stärke des Kapitalismus, seine Innovationsfähigkeit, maßgeblich von den Interventionen und Ressourcen eines steuernden Staates abhängig ist. Ohne staatliche Unterstützung wäre in der Vergangenheit keine der großen Sprunginnovationen und der dazu nötigen Forschungen überhaupt möglich gewesen, argumentiert die italienisch-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato zurecht (2013, 17). Doch auch die Staatsoption hat ihre Tücken. So sind wirtschaftsfreundliche Staatsinterventionen kaum in der Lage, Rent-Seeking-Strategien zu begegnen, mit deren Hilfe große Marktakteure das eigene Einkommen zulasten des Einkommens anderer Marktteilnehmer steigern (Mazzucato 2018, 269). Hinzu kommt das Agieren staatlicher Apparate und Behörden, die, an politisch gewollte Zurückhaltung gewöhnt, unter akuter industrie- und strukturpolitischer Fantasielosigkeit leiden. Ein staatlich gelenkter Umbau der Wirtschaft, der sich an Dekarbonisierungszielen ausrichtet, ist mit schwerfälligen Behörden, die im Routinemodus erstarren, aber kaum zu machen.
Insgesamt halten alle genannten Optionen an der Möglichkeit einer Entkopplung des Wirtschaftswachstums von dessen ökologisch destruktiven Folgen fest. Das führt zu einem eigentümlichen Widerspruch. Nahezu alles muss sich rasch ändern, nur die Basisregel kapitalistischer Marktwirtschaften, der Zwang zu unendlicher Akkumulation und fortwährendem raschen Wirtschaftswachstum, soll fortbestehen. Aus dem Finanz- wird in der Vorstellung ein „Naturkapitalismus“ (Weizsäcker 2020), wobei die gleichen systemischen Mechanismen, die die Möglichkeit eines Ökozids heraufbeschworen haben, nun zu ihrer Überwindung beitragen sollen.
Nachhaltiger, armutsfreier Wohlstand
Dass dieser „kapitalistische Realismus“ (Fisher 2020), der sich den Untergang der Menschheit eher vorstellen kann als einen Systemwechsel, letztendlich unrealistisch bleibt, wird von diversen Politikansätzen moniert, die bei der Grundentscheidung auf eine Befreiung der Gesellschaften von Akkumulations- und Wachstumszwängen setzen. Diese äußert heterogenen und teilweise noch wenig konturierten Strategien können als Demokratisierungsoption bezeichnet werden, weil sie Klimaschutz mit der Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungsmacht und ökologische Nachhaltigkeit mit dem Übergang zu einem anderen, postkapitalistischen Gesellschaftstyp verbinden. In freilich sehr unterschiedlicher Weise beziehen sie gleichrangig zum ökologischen Gesellschaftskonflikt auch die Konfliktachse sozialer Nachhaltigkeit ein. Sie zielen darauf, ökonomische Entscheidungen an gesellschaftliche Zielsetzungen rückzubinden. Dies soll geschehen, indem die Trennung von Produktion und Gewissen, wie sie dem Philosophen Günter Anders zufolge verwertungsgetriebenen Arbeitsprozessen inhärent ist, mittels Wiederherstellung einer kollektiven Verantwortung der Produzenten für das Was, das Wie und das Wozu der Produktion rückgängig gemacht wird. Apokalypse-Blindheit, so Anders, entstehe, weil Produkt und Herstellung des Produkts moralisch auseinandergerissen seien. Gleich, was Arbeitende produzierten, ob Giftgas oder eine Wasserstoffbombe, ein Gewissen benötigten sie dafür nicht. Der Arbeitsbetrieb produziere „Gewissenlosigkeit“; er sei der „Geburtsort des Konformisten (Anders 1956, 321).
Kollektive Eigentumsformen, die zugleich individuelle Verantwortung für Gemeingüter herstellen, beinhalten im besten Fall Lernprozesse, die helfen „Gewissenlosigkeit“ auch subjektiv zu überwinden. Anliegen von Demokratisierungsansätzen ist es deshalb, die Wirtschaft einer Kontrolle und Planung durch demokratische Zivilgesellschaften zu überantworten. Favorisiert werden neue Formen eines kollektiven Selbsteigentums (Genossenschaften, Mit-
arbeiter*innengesellschaften) und eine stärkere Gewichtung des Öffentlichen („Commons“) (Helfrich 2014), gekoppelt mit Ansätzen einer demokratischen Rahmenplanung (Divine 2018). Befürwortet werden zudem politische Innovationen, etwa in Gestalt von Transformations- und Nachhaltigkeitsräten, die Öffentlichkeit hinsichtlich der Erreichung von Nachhaltigkeitszielen herstellen und so kontinuierlich Druck auf die Entscheidungsträger ausüben sollen.
Demokratische Postwachstumsgesellschaften, Gemeinwohlwirtschaft, Nachhaltiger Sozialismus
Strategien und Konzepte, die sich um eine Verwirklichung der Demokratisierungsoption bemühen, tragen unterschiedliche Namen. Demokratische Postwachstumsgesellschaft (Schmelzer/Vetter 2019), Gemeinwohlwirtschaft (Bandt 2020), partizipativ-demokratischer (Piketty 2022), nachhaltiger (Dörre 2021) oder ökologischer Sozialismus (Arruzza u. a. 2019) lauten einige gängige Namensgebungen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ökologische Nachhaltigkeit mit der Überwindung von Armut und der Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit verbinden. Wichtigster Ansatzpunkt ist eine zureichend finanzierte, soziale Infrastruktur, die Gesundheit, Pflege, Erziehung, Bildung und Mobilität zu öffentlichen, für alle zugänglichen Gütern macht. Der Post-Corona-Diskurs hat entdeckt, was feministische Debatten um die Krise sozialer Reproduktion seit Jahren thematisieren. Pflegende, sorgende, erziehende und bildende Tätigkeiten sind ebenso unterbezahlt wie Jobs in der Logistik oder dem Verkehrswesen. Sie werden häufig in prekärer Beschäftigung ausgeübt, als Frauenarbeit abgewertet und sind in der gesellschaftlichen Anerkennungspyramide weit unten platziert. Gesellschaften funktionieren jedoch am besten mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur, die allen zur Verfügung steht – nicht nur im eigenen Land, sondern überall in Europa und auf der Welt.
Für eine soziale Infrastruktur mit öffentlicher Daseinsvorsorge zu streiten, gilt Demokratisierungsstrategien daher als eines der wichtigsten Projekte, um trotz der verheerenden Auswirkungen, die Wirtschaftskrisen, Krieg und Corona-Pandemie für Milliarden von Menschen haben, Weichenstellungen in Richtung von nachhaltigen und das heißt stets auch armutsfreien und armutsfesten Gesellschaften zu ermöglichen. Die Aussichten für solche politischen Optionen mögen gegenwärtig nicht sonderlich gut sein. Doch für Gesellschaften, die mit Hunger und Massenarmut zugleich die Gefahr eines drohenden Ökozids steigern, könnte zutreffen, was der Soziologe Immanuel Wallerstein über Systeme im Niedergang schreibt: „Die letzte Phase, die Übergangsphase, ist besonders unvorhersehbar, aber sie ist besonders offen für den Input von Einzelnen und von Gruppen, was ich als Zuwachs des Faktors des freien Willens bezeichnet habe. Wenn wir unsere Gelegenheit nutzen wollen […], müssen wir zuerst die Gelegenheit als das erkennen, was sie ist und worin sie besteht.“ (Wallerstein 2002, 101) Gelegenheiten zu erkennen, die sich bieten, wenn scheinbar unveränderbare Systeme erodieren, ist ein Anspruch, den zu erfüllen sich eine zukunftsorientierte politische Bildung unbedingt zu eigen machen sollte.
Literatur
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