Der Autor

Prof. Dr. Ulrich Schneckener lehrt Internationale Beziehungen und Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Osnabrück, er ist zudem Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF).

Blendwerk und Blindstellen

Ungeachtet der Prominenz, die neo-realistische Theoretiker wie John Mearsheimer & Co im öffentlichen Diskurs genießen, vermag deren Lesart nur sehr begrenzt Erhellendes über den russischen Angriffskrieg mitzuteilen. Im Gegenteil, sie führt zu einer analytischen Engführung, bei der Fakten und Einflussfaktoren hochgradig selektiv wahrgenommen werden. Sie mündet in für die ukrainische Seite fatale Politikempfehlungen und läuft Gefahr Propagandanarrative Putins zu bedienen. Das größte Problem besteht aber wohl in der notorischen Weigerung­, den Gewaltcharakter und die faschistischen Elemente von Putins Herrschaft beim Namen zu nennen und in ihrer Kriegsanalyse zu berücksichtigen.


Mit dem Beginn des russischen Drei-Fronten-Angriffs auf die Ukraine am 24.2.2022 setzte in Deutschland eine Kontroverse über die Ursachen, den Verlauf und die Konsequenzen des Krieges ein, die zum Teil quer durch die politischen Lager verläuft sowie in zahlreiche Aufrufe und Gegenaufrufe von Prominenten mündete. Eine besonders umstrittene, aber dennoch populäre Position verbindet sich mit der neo-realistischen Theorie in den Internationalen Beziehungen (IB), die die Weltpolitik primär durch die Brille von Großmächten betrachtet und daher den Angriff Russlands als das Resultat einer geopolitischen Eskalation zwischen Moskau und dem von den USA dominierten Westen versteht. Exponierter Vertreter dieser Sichtweise ist der US-Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer, dessen Thesen nicht nur in den USA und in Russland großen Widerhall finden, sondern auch in Deutschland in Politik, Publizistik oder Sozialwissenschaft auf Zustimmung stoßen. 

Doch so sehr sich Mearsheimers Neo-Realismus darum bemüht, aus der Struktur des internationalen Systems mit wenigen Variablen das Verhalten von Großmächten kausal zu erklären und zu prognostizieren, so sehr basieren Prämissen und Axiome auf argumentativem Blendwerk und empirischen Blindstellen. Dies beginnt schon beim erhobenen Anspruch, dass die (neo-)realistische Analyse streng an den ‚realen‘ Gegebenheiten und der (vermeintlichen) ‚Faktenlage‘ ansetze. Ein*e Realist*in, so das Selbstverständnis, sehe die (Staaten-)Welt, wie sie sei, und eben nicht, wie sie sein sollte. Dabei handelt es sich jedoch um einen uralten, rhetorischen Trick, um anderen IB-Theorien ihre Realitätstauglichkeit abzusprechen. Damit blenden Mearsheimer & Co nicht nur sich selbst und andere, sondern täuschen über eine Reihe von blinden Flecken in der eigenen Analyse hinweg. Alexander Motyl (2015) sprach daher treffend vom „Surrealismus des Realismus“. 

Die Argumentation von Mearsheimer & Co Bevor auf die Blindstellen näher eingegangen wird, soll zunächst Mearsheimers Position skizziert werden, die er im Kern bereits im Zuge der Krim-Annexion und des Donbass-Krieges (2014) vorgetragen hatte. Für Mearsheimer…

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