Bücher aus der Politikwissenschaft - POLITIKUM 3/2023
Nils C. Kumkar: Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung.
Suhrkamp: Berlin 2022, 336 Seiten
Im Anschluss an die Amtseinführung Trumps am 20.1.2017 kam es zu einem bizarren Streit darüber, ob zu dieser mehr Menschen nach Washington gekommen waren als zur Amtseinführung von Barack Obama. Obwohl die Luftbilder eindeutig anderes zeigten, beharrte Trumps Sprecher Sean Spicer bei seiner ersten Pressekonferenz am folgenden Tag auf dem Gegenteil. Auf diesen skurrilen Auftritt angesprochen verteidigte Trumps Kommunikationsberaterin Kellyanne Conway Spicers offenkundig wahrheitswidrige Behauptungen damit, dieser „habe nicht gelogen, sondern alternative facts … präsentiert“ (7, Herv. i. O.). Noch größer als die Empörung über derartige Rechtfertigungsversuche und die unaufhörlichen Angriffe auf die Medien war die Sorge, dass sich hier etwas Grundlegendes verschoben haben könnte. Worüber sollte überhaupt noch ein Konsens hergestellt werden können, wenn man sich nicht einmal mehr auf das einigen können sollte, was evident wirklich oder wahr ist? War das „postfaktische“ Zeitalter angebrochen? Würde die Gesellschaft in unzählige Faktionen zerfallen, die sich in ihren „Echokammern“ ihre Zerrbilder einer unendlich beliebigen Wirklichkeit gegenseitig bestätigen würde? Würde demokratische Politik unmöglich werden?
Wer es angesichts dieser Entwicklungen mit der Angst zu tun bekommt, dem sei zur (maßvollen) Beruhigung Nils C. Kumkars Buch zur Lektüre empfohlen. Im Zentrum steht die Frage, welche Faktoren gegeben sein müssen, damit in der Kommunikation „alternative Fakten“ zu solchen werden, wie sie zustande kommen und welche Verunsicherung sie auslösen (27f.).
Anhand von vier Fällen untersucht er, welche Funktion und Relevanz „alternative Fakten“ im jeweiligen Zusammenhang besaßen: Trumps Inaugurationsfeier, Klimaerwärmung, Corona und Querdenker. Das Material, das die Beispiele liefern, erweist sich als gut ausgewählt. Kumkar zeigt auf überzeugende Weise, dass die Funktion sog. „alternativer Fakten“ nicht darin besteht, dem Publikum tatsächlich neue Sachverhalte zu präsentieren oder offenkundig Unrichtiges als Wahrheit zu verkaufen, sondern Zweifel zu säen, um Debatten auf ein anderes Terrain umzuleiten oder überhaupt erst zu einem Beteiligten in der Debatte zu werden.
Am Beispiel der Klimadebatte lässt sich beobachten, dass die Gegner der Klimapolitik mit ihrer „Gegenexpertise“ nicht darauf zielen, das Publikum von „alternativen Fakten“ zu überzeugen oder gar eine wissenschaftlich belastbare Gegenmeinung zu präsentieren. Durch ihre „unbestimmte Negation“ lenken sie die Debatte weg von der Klimaproblematik und machen die Wissenschaft oder zumindest die Klimaforschung zum Thema. Dass das gelingt, liegt nicht zuletzt an einer „Epistemisierung des Politischen“ durch den Politikbetrieb. Politische Entscheidungen werden als Wissensprobleme präsentiert, deren Lösung sich aus der wissenschaftlichen Erkenntnis…
Suhrkamp: Berlin 2022, 336 Seiten
Im Anschluss an die Amtseinführung Trumps am 20.1.2017 kam es zu einem bizarren Streit darüber, ob zu dieser mehr Menschen nach Washington gekommen waren als zur Amtseinführung von Barack Obama. Obwohl die Luftbilder eindeutig anderes zeigten, beharrte Trumps Sprecher Sean Spicer bei seiner ersten Pressekonferenz am folgenden Tag auf dem Gegenteil. Auf diesen skurrilen Auftritt angesprochen verteidigte Trumps Kommunikationsberaterin Kellyanne Conway Spicers offenkundig wahrheitswidrige Behauptungen damit, dieser „habe nicht gelogen, sondern alternative facts … präsentiert“ (7, Herv. i. O.). Noch größer als die Empörung über derartige Rechtfertigungsversuche und die unaufhörlichen Angriffe auf die Medien war die Sorge, dass sich hier etwas Grundlegendes verschoben haben könnte. Worüber sollte überhaupt noch ein Konsens hergestellt werden können, wenn man sich nicht einmal mehr auf das einigen können sollte, was evident wirklich oder wahr ist? War das „postfaktische“ Zeitalter angebrochen? Würde die Gesellschaft in unzählige Faktionen zerfallen, die sich in ihren „Echokammern“ ihre Zerrbilder einer unendlich beliebigen Wirklichkeit gegenseitig bestätigen würde? Würde demokratische Politik unmöglich werden?
Wer es angesichts dieser Entwicklungen mit der Angst zu tun bekommt, dem sei zur (maßvollen) Beruhigung Nils C. Kumkars Buch zur Lektüre empfohlen. Im Zentrum steht die Frage, welche Faktoren gegeben sein müssen, damit in der Kommunikation „alternative Fakten“ zu solchen werden, wie sie zustande kommen und welche Verunsicherung sie auslösen (27f.).
Anhand von vier Fällen untersucht er, welche Funktion und Relevanz „alternative Fakten“ im jeweiligen Zusammenhang besaßen: Trumps Inaugurationsfeier, Klimaerwärmung, Corona und Querdenker. Das Material, das die Beispiele liefern, erweist sich als gut ausgewählt. Kumkar zeigt auf überzeugende Weise, dass die Funktion sog. „alternativer Fakten“ nicht darin besteht, dem Publikum tatsächlich neue Sachverhalte zu präsentieren oder offenkundig Unrichtiges als Wahrheit zu verkaufen, sondern Zweifel zu säen, um Debatten auf ein anderes Terrain umzuleiten oder überhaupt erst zu einem Beteiligten in der Debatte zu werden.
Am Beispiel der Klimadebatte lässt sich beobachten, dass die Gegner der Klimapolitik mit ihrer „Gegenexpertise“ nicht darauf zielen, das Publikum von „alternativen Fakten“ zu überzeugen oder gar eine wissenschaftlich belastbare Gegenmeinung zu präsentieren. Durch ihre „unbestimmte Negation“ lenken sie die Debatte weg von der Klimaproblematik und machen die Wissenschaft oder zumindest die Klimaforschung zum Thema. Dass das gelingt, liegt nicht zuletzt an einer „Epistemisierung des Politischen“ durch den Politikbetrieb. Politische Entscheidungen werden als Wissensprobleme präsentiert, deren Lösung sich aus der wissenschaftlichen Erkenntnis…
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