Das besondere Buch - POLITIKUM 2/2023
Sophie Schönberger: Zumutung Demokratie. Ein Essay. C. H. Beck: München 2023, 189 Seiten
Sophie Schönberger hat sich in der jüngeren Vergangenheit zu Themen zu Wort gemeldet, die nicht im Zentrum der Debatte stehen, mit denen sich die Staatsrechtslehre gemeinhin befasst: die Restitution von Kunstwerken an die rechtmäßigen Eigentümer, die Hohenzollerndebatte und die Reichsbürger bzw. Selbstverwalter. Im hier vorgelegten Band wendet sie sich einem Kernthema ihrer Disziplin zu.
Doch anders, als es möglicherweise bei einer Staatsrechtslehrerin zu erwarten gewesen wäre, entwickelt sie ihr Thema „Zumutung Demokratie“ nicht aus der Dogmatik des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Vielmehr interessiert sie sich für die Frage, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen vorliegen müssen, damit ein Gemeinwesen nach demokratischen Grundsätzen funktioniert.
Die Autorin unterliegt dabei nicht der Versuchung, zunächst ausgreifend darzulegen, was ihrer Auffassung nach unter Demokratie zu verstehen ist. Ebenso verzichtet sie darauf, das Problem aus allen denkbaren Perspektiven zu betrachten, unter denen eine Gesellschaft in den Blick genommen werden kann. So konzentriert sie sich in wohltuender Weise auf die Frage, wie es um das Zusammenleben in unserer Demokratie bestellt ist. Wie kann es gelingen, uns „gegenseitig auszuhalten“ (9)?
Im Kern ihres Buches geht es um diese „Zumutung“ der Demokratie. Diese setzt voraus, Mehrheitsentscheidungen auch dann als legitim zu akzeptieren, wenn man ihnen nicht zugestimmt hat. Ebenso muss man die Lebensentwürfe der anderen oder andere Meinungen hinnehmen.
Um diese Dinge ist es in Deutschland der Autorin zufolge aber nicht gut bestellt. Im Kern habe die „Verabsolutierung des Freiheitsgedankens bei gleichzeitig größtmöglicher Subjektivierung“ (70) dazu geführt, dass die eigene Meinung und die Selbstverwirklichung mit Freiheit gleichgesetzt werden (69), wodurch sie eine alles überragende Bedeutung erhalten haben. Das Gemeinwohl hingegen verlöre an Bedeutung. Wichtiger als die Frage „was ist relevant?“ sei die Frage „passt das zu mir?“ (70).
Ursache dafür sei die Fragmentierung der Gesellschaft, in der die einzelnen Gruppen eine persönliche Niederlage sogleich in eine Niederlage der gesamten Gruppe umdeuten würden. Triebfedern dieser gesellschaftlichen Prozesse seien Digitalisierung und Kommerzialisierung (46 ff.), woran das Bundesverfassungsgericht eine gehörige Portion Mitverantwortung trage. Schönberger skizziert einige Urteile des Gerichts, die Zeugnis für diesen Trend der höchstrichterlichen Rechtsprechung ablegen. Die einseitige Betonung der Rechte des Einzelnen gegenüber berechtigten Gruppeninteressen erachtet Schönberger aus nachvollziehbaren Gründen als problematisch.
Die „logische Konsequenz“ dieser Prozesse seien „menschliche Einsamkeit“ (83) und der „Verlust sozialer Einbettung durch die Abwesenheit sozialer Regeln“ (85), die in die „Radikalisierung“ (86) führten und den Spielraum für Kompromisse entscheidend einengten. Dadurch gerät das Versprechen der Demokratie, die „Freiheit“, in Gefahr, denn „Demokratie braucht Begegnung“. Wir müssen also wieder lernen, uns „auszuhalten“, den Anderen zu „ertragen“. Nehmen wir uns die Freiheit, das zu unterlassen, werden wir paradoxerweise die Freiheit verlieren, die uns nur die Demokratie verheißt.
Ihren Betrachtungen legt Schönberger Marc Augés Konzept vom „anthropologischen Ort“ zugrunde (44). Mit „Begegnung“ ist in diesem Sinne das Zusammentreffen der Menschen, vieler Menschen, in der tatsächlichen Welt gemeint, für die das Internet keinen Ersatz bietet. Es handelt sich um zufällige, ungeplante, nicht beabsichtigte Begegnungen von Menschen, die sich nicht oder kaum kennen. Dafür, dass die Begegnung gelingt, ist außerdem „geteiltes Wissen“ die Voraussetzung (128 ff.). Als das Fernsehen für wenige Stunden am Tag nur drei Programme ausstrahlte, war die Spielshow oder der Kriminalfilm des Vorabends beinahe jedem geläufig und beliebtes Gesprächsthema über alle sozialen Grenzen hinweg. In diesem Sinne sollten „demokratische Begegnungsangebote“ an „anthropologischen Orten“ erhalten, gezielt geschaffen und attraktiv gestaltet werden – Parks, Cafés, Freibäder, öffentliche Plätze, Bibliotheken, sozial durchmischte Wohnquartiere (151 ff.).
Ob das allerdings ausreicht, um die „Zumutung Demokratie“ auszuhalten, bleibt abzuwarten. Jedenfalls sind die Aussichten für eine gelingende Begegnung zwischen den Menschen unterschiedlichen Herkommens nicht so schlecht, wie gemeinhin vermutet wird. Während viele die Meinung äußern, dass die große Mehrzahl der „Anderen“ Wertvorstellungen besitzt, die mit den eigenen weitgehend unvereinbar sind, zeigt die „Vermächtnisstudie“ von Jutta Allmendinger, dass das Gegenteil der Fall ist.
Für ihren Essay hat Schönberger die Befunde der Soziologie auf gelungene Weise mit Fragen verknüpft, die sich die Staatsrechtswissenschaft stellt. Ihre Situationsbeschreibung ist überzeugend, ihre Schlussfolgerungen sind einleuchtend und ihre Überlegungen anregend. Das Buch ist ein gleichermaßen unaufgeregter wie engagierter Beitrag zu einer Debatte, die zu konkreten Schlussfolgerungen bei Stadtplanung, Städtebau, Sozial- und Bildungspolitik einlädt. Wenn Schönberger zum Schluss begründet, warum sie sich – erfolgreich – dafür eingesetzt hat, die „Trinkhalle“, wie sie im Ruhrgebiet noch immer anzutreffen ist, in das Kulturerbe aufzunehmen, hat das nichts mit rückwärtsgewandter Nostalgie zu tun, sondern mit in die Zukunft gerichteter Demokratiepolitik.