Die Autoren

Dr. Veith Selk ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt.

Prof. Dr. Dirk Jörke lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Darmstadt.

Demokratische Krisendiagnostik in der Münchhausenfalle

Die Skepsis gegenüber der Stabilität und Zukunftstauglichkeit der Demokratie wächst. Dies schlägt sich nicht zuletzt in einem prominenter werdenden Krisendiskurs in Wissenschaft wie Publizistik nieder, der die Ursachen der gegenwärtigen Krise ausmachen und mögliche Lösungswege aufzeigen will. Doch sowohl an dessen Ursachenanalyse als auch an der Perspektive auf mögliche Lösungswege sind Zweifel angebracht.

Kritische Demokratietheorien, die die unzureichende Einlösung demokratischer Prinzipien aufzeigen und auf undemokratische Verhältnisse auch innerhalb liberaler Demokratien hinweisen, sind ein Teil der Demokratiegeschichte. Sie mussten sich lange Zeit den Vorwurf gefallen lassen, überzogene Erwartungen zu erzeugen und die Verhältnisse schlechter darzustellen, als sie in Wirklichkeit sind. 

Ganz ähnlich erging es den zahlreichen Diagnosen einer Krise der Demokratie, die nicht nur in der Bundesrepublik auf eine lange Geschichte zurückblicken können. Diese sind zwar einerseits im Bereich akademischer Forschung wie feuilletonistischer Zeit­diagnostik anerkannt und als Genre des sozialwissenschaftlichen Warnens vor fatalen politischen Risiken etabliert, andererseits haftete ihnen aber auch der Verdacht an, Schwarzseherei zu betreiben und Krisenerscheinungen herbeizureden, was wiederum die Geschäftsgrundlage für ihre Vertreter bildete. Kurz gesagt, Krisendiagnosen der Demokratie waren stets mit dem Vorwurf einer Unausgewogenheit im Urteil sowie einer unrealistischen Negativprognostik konfrontiert. Durchaus in diesem Sinne einer Skepsis gegenüber dem Wirklichkeitsgehalt von sozialwissenschaftlichen Krisendiagnosen behauptete beispielsweise Wolfgang Merkel noch vor nur acht Jahren in einer einschlägigen Publikation, dass die Krise der Demokratie eine Erfindung „empirieferner Theoretiker“ sei (2015, 9).

Diese Skepsis gehört nun jedoch der Vergangenheit an. Demokratische Krisendiagnostik ist in Sozialwissenschaft wie Öffentlichkeit vielmehr zu einer Art intellektuellem Breitensport geworden. Und hinter diesem Umstand stecken ganz reale politische Erfahrungen des letzten Jahrzehnts, die als Indikatoren für eine Bedrohung demokratischer Regime sowie eine Herausforderung der Idee der Demokratie interpretiert werden können. Ohne Anspruch auf Systematik und Vollständigkeit lassen sich hier illustrativ die folgenden Erfahrungen nennen: 
  • Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Politiker, die das institutionelle Gefüge liberaler Demokratie als korrumpiert beschreiben.
  • Der Verlust des Vertrauens signifikanter Teile der Bürgerschaften in demokratische Regime, Institutionen, Eliten sowie in die Idee der Demokratie; intensiviert während der Corona-Jahre und der sie begleitenden Auseinandersetzungen.
  • Die Wahrnehmung einer weitreichenden Reform­unfähigkeit und institutionellen Lernblockade mit Blick auf zentrale Politikfelder sowie Herausforderungen wie den Klimawandel.
  • Die aus der Warte liberal-demokratischen Denkens unerwartete Resilienz undemokratischer Regime. 
  • Der anhaltende Trend eines Rückgangs liberal-demokratischer Regime weltweit. 

Vor diesem Hintergrund ist mittlerweile in Öffentlichkeit wie Sozialwissenschaft kaum strittig, dass sich die Demokratie in einer Krise befindet und mit Herausforderungen konfrontiert ist, die sie in ihrer Existenz bedrohen. Strittig ist vielmehr, warum dies der Fall ist. Hierzu liegen unterschiedliche Diagnosen vor. Sie lassen sich etwas vereinfacht mit den folgenden Idealtypen beschreiben, wobei es sich freilich um heuristische Vereinfachungen handelt. Vielmehr finden sich diese Idealtypen in den wissenschaftlichen und populären Publikationen zumeist nebeneinander.

Drei Krisendiagnosen 
Der erste Typus Krisendiagnose begreift die Krise als ein Strukturproblem. Hier herrscht die Ansicht vor, demokratische Regime seien aufgrund der strukturellen Veränderung der sozio-ökonomischen und politischen Verhältnisse in eine Krise geraten. Struktureller gesellschaftlicher Wandel, so die Kernüberlegung, setzte Staaten unter Druck und zehrte die Substanz demokratischer Politik auf. Hierzu zählt in erster Linie die Transformation von Politik und Gesellschaft durch die Globalisierung, die zu einer Entmachtung des Nationalstaates geführt und damit den Raum des demokratisch Gestaltbaren eingeengt habe. Infolgedessen orientierten sich politische Entscheider vermehrt an Strategien der Anpassung an die vermeintlichen Zwänge des Weltmarkts und verloren signifikante Teile ihrer Bürgerschaften aus den Augen. Diese wiederum verabschiedeten sich in Reaktion hierauf resigniert aus der Politik, verharrten in einer negativen Ablehnungshaltung oder wendeten sich rechtspopulistischen Parteien zu. 

Der zweite Typus hingegen erblickt in der Krise primär ein Verteidigungsproblem. Maßgeblich für die Bedrohung der Demokratie sei der Angriff antidemokratischer Kräfte auf die Institutionen und Legitimationsideen demokratischer Regime. Infolge des vermeintlichen Siegeszugs liberaler Demokratie nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks sei das Bewusstsein dafür verloren gegangen, dass Demokratien nicht nur auf aktive Unterstützung seitens politisch engagierter Bürger angewiesen seien, sondern sich überdies gegenüber ihren Feinden wehrhaft zeigen müssten. Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und die politische „Regression“ hin zu vermeintlichen oder tatsächlichen autoritären Verhältnissen ist aus dieser Warte nicht so sehr der Effekt struktureller Transformationen, sondern das Ergebnis eines Angriffs von Antidemokraten, denen die „guten Demokraten“ nicht genug entgegensetzten. 

Der dritte Typus Diagnose schließlich beschreibt die Krise als ein Haltungsproblem. Grundüberlegung hier ist, dass Demokratien ein spezifisches Wertefundament voraussetzten, wobei sich dieses jedoch mehr und mehr verflüchtige. Es mangele nicht nur am Einstehen für die demokratischen Kernwerte Freiheit, Gleich­heit und Solidarität, mehr noch, sogar das Bewusstsein für die Wichtigkeit und Bedeutung dieser Kernwerte sei verloren gegangen, obgleich diese Werte das normative Substrat der existierenden liberal-demokratischen Institutionen darstellten. Aus dieser Perspektive betrachtet hat die Krise der Demokratie ihren zentralen Grund darin, dass den Bürgerschaften nicht mehr hinreichend bewusst ist, welchen Wert demokratische Institutionen haben und welche Werte diese Institutionen real verkörpern. Wer undemokratischen Ideen und Handlungsweisen zuneige, der kenne den normativen Wert demokratischer Institutionen nicht.

Alle drei Typen von Krisendiagnostik sind nicht nur in der akademischen Diskussion relevant, sie haben auch eine Bedeutung für das politische Leben. Sie veranlassen und rechtfertigen Lösungsansätze, mit denen auf die Krise der Demokratie politisch reagiert wird. Aus der ersten Diagnose ergibt sich der Ansatz, mittels Strukturreformen konkrete Ursachen der Krise zu bekämpfen, um auf diesem Wege die politischen Eliten gegenüber ihren Bürgerschaften responsiver zu machen, ihnen mehr Handlungsspielraum zu verschaffen und mehr Legitimation für politische Entscheidungen zu gewinnen. Diesem Ansatz kann man die Forderung nach einer „Demokratisierung“ der Europäischen Union zurechnen sowie den Austritt der Briten aus der Europäischen Union („take back control“) und vielleicht auch die einigermaßen weitflächige Einführung von mehr direkter Bürgerbeteiligung, etwa in Form von Bürgerräten. Benötigt würden mehr demokratische Reformen. 

Aus der zweiten Diagnose wiederum lässt sich der Ansatz ableiten, stärker präventionspolitisch sowie repressiv gegen antidemokratische Bestrebungen vorzugehen. Hierzu zählen die gegenwärtige Zunahme der Einschränkung von Bürgerrechten, zum Beispiel durch die Einschränkung der Versammlungsfreiheit sowie die stärkere Regulation politischer Kommunikation. Benötigt werde, so die Annahme, mehr wehrhafte Demokratie. 

Aus der dritten Diagnose schließlich folgt die ideologiepolitische Strategie der Entwicklung von auch emotional ansprechenden „Narrativen“, um auf diesem Wege „unsere demokratischen Werte“ zu bekräftigen und den Defätismus gegenüber der Idee der Demokratie mit wohlklingenden „Gegennarrativen“ zu kontern. Zur Lösung der Krise benötigten wir mehr demokratische Narrative. In diesen Kontext einer ideologisch-agitatorischen Haltungs­offensive und präventionspolitischen Demokratiepädagogik lässt sich institutionell das „Demokratiefördergesetz“ einordnen. Auf der publizistischen Ebene gehören – als Beispiele für viele – Titel über „Die Zukunft der Demokratie“ (Münkler 2022) oder „Wie wir gemeinsam die Demokratie retten“ (Narval 2018) zu dieser Strategie sowie die Beschwörungsformeln, die sich auf den letzten Seiten der Krisenliteratur finden, etwa dass die Verteidigung der Demokratie „mehr Demokratie“ erfordere (Schäfer/Zürn 2021, 222). 

Krisendiagnostik in der Münchhausenfalle ­oder Ist die Lösbarkeit der Demokratiekrise eine Erfindung? 
Alle drei Diagnosen und Lösungsansätze zielen darauf ab, die Krise zu überwinden und die Demokratie mittels praktischer Anwendungen der Parole „mehr Demokratie!“ zumindest wieder in einen stabilen Zustand zu versetzen oder sie gar mittels Reformen demokratischer zu machen.

Hierfür gehen sie von der keineswegs trivialen Voraussetzung aus, dass unsere politischen Systeme dazu tatsächlich in der Lage sind. Diese Voraussetzung ist deshalb nicht trivial, da in der kritischen politiktheo­retischen Diskussion der letzten Jahre Argumente entwickelt worden sind, die begründeten Zweifel an dieser Annahme artikulieren. Strukturell, institutionell sowie subjektbezogen entwickeln sich liberale Demokratien vielmehr, so der Ertrag dieser Forschung, in Richtung einer nachdemokratischen Konstellation, die Voraussetzungen demokratischer Legitimation und Politik auflöst und damit tradierte demokratietheoretische Annahmen unplausibel werden lässt (zum Folgenden ausführlich Selk 2023). Wesentlich hieran sind an dieser Stelle: 

  • Auf der Strukturebene kommt es zu einer Diffe­renzierung des politischen Lebens, dessen wachsende Komplexität mit der Anforderung einer Verständlichkeit für die Normalbürgerschaft („Sar­tori-Kritierum“, Greven 2020) unvereinbar ist und in gleichem Maße gesellschaftliche Macht­gruppen und Elitenkartelle begünstigt. Die Zunahme der Differenzierung ist deshalb zugleich eine Intensivierung der Tendenz in Richtung einer Oligarchisierung liberal-demokratischer Regime (Zolo 1997). 
  • Auf der institutionellen Ebene führt die Entstehung politischer Regime, Institutionen und Netzwerke jenseits der demokratischen Foren und Verfahren zu einer Kumulation postdemokratischen Politikmachens („Governance“) (Brown 2015); besonders stark ist dieser Tendenz in inter- und supranationalen Kontexten, etwa auf Ebene der Europäischen Union, ausgeprägt. Im Widerspruch zur eingangs skizzierten Perspektive des demokratischen Reformismus könnte hiermit ein negativer Sperrklinkeneffekt verbunden sein. In diesem Fall führten die Beharrungskraft der Institutionen und das Eigeninteresse der in ihr investierten Akteure dazu, dass sich die postdemokratische Governance nicht wieder demokratisieren ließe.
  • Auf der Ebene der politischen Subjektivität kommt es zu Differenzierungen und Individualisierungen, die die für demokratisches Denken und Handeln konstitutive Voraussetzung eines politischen Zusammengehörigkeitsgefühls und den daraus erwachsenden Sinn für soziale Verpflichtung erodieren lassen. Es bilden sich infolgedessen nachdemokratische Subjektformen heraus, die sich zwar nominell noch auf „demokratische Werte“ beziehen, sich aber praktisch von diesen zugunsten einer radikal subjektivistischen Sicht auf Politik verabschiedet haben. Diese „Emanzipation zweiter Ordnung“ (Blühdorn 2013) unterminiert den demokratischen Gemeinsinn, indem sie die Bindung an legitime demokratische Mehrheitsentscheidungen unter den Vorbehalt subjektiver Präferenzen und Anliegen stellt.
  • In der Summe transformieren sich damit die vormals demokratischen Regime in überdifferenzierte, postdemokratische und oligarchische Regime. Im Zuge dessen entstehen nachdemokratische Politikformen, in denen im Rahmen der gegebenen Institutionen experimentell-evolutionär neue Formen des Politikmachens ausprobiert werden. Beispiele hierfür sind expertokratische (Bogner 2021), neo-plebiszitäre (Körösényi 2019) und undemokratisch-partizipatorische (Wagner 2013) Politikformen. Sie ergänzen das demokratische Politikmachen zunächst nur, könnten es langfristig aber an den Rand drängen oder gar ersetzen, auch wenn ungewiss ist, ob deren Bürgerschaften allmählich ein korrespondierendes nachdemokratisches politisches Bewusstsein herausbilden. 

Im Lichte dieser für das demokratische Denken unliebsamen Perspektive erweisen sich die drei eingangs umrissenen Krisendiagnosen insoweit als übermäßig idealistisch, als dass sie Voraussetzungen machen, die nicht länger als gegeben unterstellt werden können und zunehmend erodieren. Die Semantik der Krise, die stets die Suggestion eines plötzlichen Umbruchs hin zum Status quo ante oder gar zu etwas Besserem erzeugt, verdeckt vielmehr diese langfristig ablaufenden Entwicklungsprozesse hin zu einer nachdemokratischen Konstellation. Das gilt umso mehr für den Diskurs über die „Zukunft der Demokratie“, wird damit doch von vornherein ausgeschlossen, dass es vielleicht keine solche Zukunft geben könne. Ein solcher Diskurs ist indes wissenschaftlich nicht überzeugend und tendiert zum Ideologischen. Schließlich legt die Berücksichtigung gesellschaftlicher Transformationsprozesse nahe, dass die Demokratie keineswegs in einer Krise ist, sondern einem langzeitigen Prozess des „Absinkens“ unterworfen, der nicht durch punktuelle Reformen oder die Bekräftigung demokratischer Werte behoben werden kann. Die demokratischen Krisendiagnosen erinnern damit an den berühmten Baron Münchhausen, der meinte, sich mitsamt dem bereits abgesunkenen Pferd, auf dem er saß, am eigenen Schopfe aus dem tödlichen Sumpf ziehen zu können.


Literatur
Blühdorn, Ingolfur 2013: Simulative Demokratie. Berlin.

Bogner, Alexander 2021: Die Epitemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Stuttgart.

Brown, Wendy 2015: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Berlin.

Greven, Michael Th. 2020: Die Erosion der Demokratie. Beiträge von Michael Th. Greven zur kritischen Demokratietheorie, hg. von Friedbert Rüb, Veith Selk u. Rieke Trimçev. Wiesbaden.

Körösényi, András 2019: The Theory and Practice of Plebiscitary Leadership: Weber and the Orbán Regime. In: East European Politics and Societies and Cultures, 33 (2), S. 280–301.

Merkel, Wolfgang 2015: Die Herausforderungen der Demokratie. In: ders. (Hg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden, S. 7–42.

Münkler, Herfried 2022. Die Zukunft der Demokratie. Wien.

Narval, Philippe 2018: Die freundliche Revolution. Wie wir gemeinsam die Demokratie retten. Wien.

Schäfer, Armin/Zürn, Michael 2021: Die demokratische Regression. Berlin.

Selk, Veith 2023: Demokratiedämmerung. Zur Kritik der Demokratietheorie. Berlin (i.E.).

Wagner, Thomas 2013: Die Mitmachfalle. Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument. Köln.

Zolo, Danilo 1997: Die demokratische Fürstenherrschaft. Göttingen.

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