Der Autor

Prof. Dr. Thomas Beyer, Professur für Recht an der Fakultät für Soziale Arbeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

Den Sozialstaat neu wagen

Das grundgesetzliche Strukturprinzip des Sozialstaats gibt der Politik den Auftrag zu einer wirklichen Armutsbekämpfung einerseits und zu einer angemessenen Festlegung des Spitzensteuersatzes andererseits. Aber es zielt auf ein viel umfassenderes Postulat des Sozialen bei allen staatlichen Handlungen und Entscheidungen.

Als Willy Brandt 1969 in seiner ersten Regierungserklärung ausrief „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, war das ein Signal. Ein Signal gegen den Mehltau, der die Strukturen der deutschen Nachkriegsgesellschaft überwuchert hatte. Mehr Demokratie, das versprach mehr Offenheit, mehr Diskussion, mehr Mitbestimmung und eine bewusste Verpflichtung des politischen Handelns auf ein Kernprinzip der Verfassung, das noch junge Grundgesetz. Mit der „sozial-liberalen“ Koalition sollte sich auch begrifflich ein auf zentrale inhaltliche Überzeugungen der beteiligten Parteien ausgerichteter Neuanfang verbinden. 

52 Jahre später überschreiben SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ihren Koalitionsvertrag (www.bundesregierung.de) mit „Mehr Fortschritt wagen“. Das soll Anklänge wecken und wirkt doch bemerkenswert uninspiriert und formal. Technisch wie der Begriff der „Ampel-Koalition“, der sich ohne weitere inhaltliche Botschaft nur aus der politischen Farbenlehre ableitet. Die neuen Regierungspartner verzichten bewusst auf eine sachpolitische Klammer. Im Untertitel des Vertrages „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ scheint jede Partei mit einem sie vermeintlich kennzeichnenden Schlagwort vertreten zu sein. Aber auch das verkommt zur bloßen Äußerlichkeit, wenn etwa „Nachhaltigkeit“ später im Text in gleicher Weise in Verbindung gebracht wird mit Klimapolitik, Digitalisierung, Wirtschaftsförderung, Weltraumnutzung, Landwirtschaft oder Finanzpolitik. 


Wo bleibt das Soziale? 
Immerhin stellt auch in der aktuellen Regierung die SPD als stärkste Fraktion den Bundeskanzler. Das wirft die Frage auf nach dem Stellenwert des Sozialen im Koalitionsvertrag. Tatsächlich findet sich eine Reihe von Aussagen und Vorhaben in den Bereichen Arbeitsmarkt, Altersvorsorge, Kindergrundsicherung etc. Grundsätzliches zum Sozialstaat dagegen fehlt, sieht man von Schlagworten wie „bürgerfreundlicher, transparenter und unbürokratischer machen“ ab. Was schließlich eine Ausrichtung des Sozialstaats „auf die Lebenswirklichkeiten unserer Zeit“ ist, bleibt im Dunkeln. Im schlechtesten Falle könnte das sogar die Option für dessen fiskalpolitisch bedingten Rückbau bedeuten. 

Ein zentrales Projekt des Koalitionsvertrages ist im September 2022 schon in einen Gesetzentwurf der Bundesregierung eingemündet (www.bmas.de): die Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II – umgangssprachlich „Hartz IV“ – durch die Einführung eines „Bürgergeldes“. Vieles daran ist richtig und begrüßenswert: etwa die…

Weiterlesen mit POLITIKUM+

Lesen Sie diesen und alle weiteren Beiträge aus Politikum im günstigen Abonnement.
Mit Ihrem Abonnement erhalten Sie die vier gedruckten Politikum-Ausgaben im Jahr sowie vollen Zugriff auf alle Politikum+ Beiträge des Online-Angebots.
Jetzt abonnieren
Sie haben Politikum bereits abonniert?
Jetzt anmelden

Im Abonnement kein Heft verpassen

Ein Beitrag aus