Der Autor

Prof. Dr. Gunther Hellmann lehrt Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt deutsche und europäische Außenpolitik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Die Zeichen stehen auf Sturm

Die kommenden Jahre werden außenpolitische Ungewissheiten bergen wie selten zuvor. Für Deutschland und die EU besteht die schwierigste Herausforderung darin, neben ihrer Ausrichtung auf ihr unmittelbares regionales Umfeld die Neukalibrierung der Beziehungen zu den USA, China und Russland so auszutarieren, dass der innere Zusammenhalt gewährleistet wird. Selbst wenn Deutschland künftig klug und geschickt agiert: Die Zeichen stehen insgesamt auf Sturm. Wird deutsche Außenpolitik sich in diesem Sturm bewähren?


Den Beginn der russischen Invasion in der Ukraine als „Zäsur“ oder „Zeitenwende“ für die politische Entwicklung in Europa im Allgemeinen und die deutsche Außenpolitik im Besonderen zu beschreiben, ist mittlerweile nahezu ein Gemeinplatz. Dass dem so ist, liegt wesentlich darin begründet, dass die unmittelbare Erfahrung und Deutung eines historischen Einschnitts in der Gegenwart so überwältigend ausfällt, dass abweichende Beschreibungen kaum Anerkennung finden. Worin genau die Zeitenwende allerdings besteht und, vor allem, welche Folgen sie voraussichtlich zeitigen wird, ist demgegenüber weit weniger offensichtlich. Im Folgenden werde ich argumentieren, dass der historische Einschnitt aus dem Blick deutscher Außenpolitik zum einen nicht ganz so drastisch ausfällt, wenn man ihn im größeren historischen Zusammenhang betrachtet, zum anderen aber die Folgen gravierender ausfallen könnten als bei früheren Zäsuren, selbst so markanten Wendepunkten wie der deutsche Vereinigung 1990.

Die „Zeitenwende“ im historischen Kontext
In seiner Bundestagsrede am 27. Februar 2022 umschrieb Bundeskanzler Scholz die von ihm konstatierte „Zeitenwende“ mit der klassischen Deutung, dass „die Welt danach“, also nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, „nicht mehr dieselbe (ist) wie die Welt davor“ und es im Kern um die Frage gehe, „ob Macht das Recht brechen darf“ oder „wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts“. Gemessen an dieser Beschreibung scheint der historische Einschnitt aber weit weniger dramatisch, wenn man bedenkt, dass seine Vorgängerin die russische Annexion der Krim und „das Vorgehen Russlands in der Ukraine“ bereits am 13. März 2014 „eindeutig (als) einen Bruch grundlegender völkerrechtlicher Prinzipien“ brandmarkte, in dem „das Recht des Stärkeren (…) gegen die Stärke des Rechts gestellt“ und „Handeln nach den Mustern des 19. und 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert“ betrieben werde.

Auch wenn Angela Merkel den „Zeitenwende“-Begriff vermied, so passt er gerade aus dem Blickwinkel deutscher Außenpolitik in einem größeren historischen Zusammenhang im Minimum auch, wenn nicht sogar mehr noch, auf die Phase zwischen 2014 und 2017. Denn in diesem Zeitraum wurden gleich drei grundlegende Pfeiler bundesdeutscher Außenpolitik erschüttert, die in unterschiedlicher Weise seit den 1950er Jahren von…

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