Die Autorin

Prof. Dr. Manuela Glaab lehrt Politikwissenschaft – Schwerpunkt Politisches System ­ der BRD – an der Universität Koblenz-Landau.

Ein Hanseat im Kanzleramt

Bundeskanzler Scholz führt die Ampelkoalition in einer Phase multipler Krisen. Während sich die Prioritäten wie auch die Voraussetzungen des Regierungsprogramms rapide veränderten, richten sich die Erwartungen ­ der Öffentlichkeit verstärkt auf die Führungsleistung des Bundeskanzlers. Dessen „leadership capital“ ist zum Ende des ersten Regierungsjahrs kaum größer geworden.

Olaf Scholz ist nicht der erste Hanseat im Kanzleramt und tatsächlich eilt ihm – ähnlich wie seinem prototypischen Vorgänger Helmut Schmidt – der Ruf voraus, er sei „nüchtern, sachlich, hanseatisch“ (Deutschlandfunk, 9.9.2021). Wie Letzterer gilt er als konservativer Sozialdemokrat, war gleichfalls Hamburger Innensenator und später Bundesminister der Finanzen, bevor ihm der Einzug ins Kanzleramt gelang. Da Scholz kaum als Visionär wahrgenommen wird, scheint auch Schmidts wohl bekanntestes Diktum – „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ – zu seiner Persönlichkeit zu passen. Nicht zuletzt beruft er sich gelegentlich selbst auf seinen Vorgänger (Spiegel, Nr. 17 v. 23.4.22, 20). 

Dennoch greifen solche Analogien zu kurz, schon aufgrund der Zeitgebundenheit einer jeden Kanzlerschaft. Offenkundig regiert Olaf Scholz nicht mehr das gleiche Deutschland wie einst Helmut Schmidt, aber auch der Vergleich mit seiner unmittelbaren Vorgängerin sollte – schon aufgrund ihrer langen Amtszeit – nicht vorschnell angestellt werden. Seit dem erst ein Jahr zurückliegenden Regierungswechsel haben sich zudem die Verhältnisse in Deutschland und der Welt derart dramatisch gewandelt, dass Scholz dies selbst als „Zeitenwende“ bezeichnet. „Was wir gerade erleben, ist der perfekte Sturm“, so formulierte es der Bundeskanzler im Sommer (laut SZ v. 25.8.2022), „eine Vielzahl sich überlappender und sich verstärkender Krisen und fundamentaler geopolitischer Verschiebungen.“ Angesichts dessen ist es ganz gewiss zu früh zu beurteilen, wie Olaf Scholz im Amt des Bundeskanzlers reüssiert. Gleichwohl richten sich die Erwartungen der Öffentlichkeit in Krisenzeiten verstärkt auf die Führungsleistung des Regierungschefs.


Politische Führung in interaktionistischer Perspektive 
Mithilfe von Kategorien der Leadership-Forschung soll daher im Folgenden eine vorläufige Einordnung von Scholz’ Regierungsstil versucht werden. In einer interaktionistischen Perspektive politischer Führung können Persönlichkeitsfaktoren nicht isoliert betrachtet werden (Glaab 2022). Vielmehr ist der strukturelle wie auch situative Handlungskontext zu berücksichtigen, der Spielräume und Restriktionen politischer Führung wesentlich bestimmt. Das deutsche Regierungssystem begünstigt ein „dispersed leadership“ (Robert Elgie), welches einer Machtkonzentration beim Bundeskanzler entgegensteht. Politische Führung setzt…

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