Der Autor

Prof. Dr. Walter Reese-Schäfer lehrt politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg- August-Universität Göttingen.

Ernannt, aber nicht erwählt

Expertinnen und Experten werden von Politik und Öffentlichkeit immer dann herangezogen, wenn spektakuläre Situationen auftreten, wenn wir uns nicht auskennen, weil die Entwicklungen zu neu sind oder zu komplex erscheinen. An drei Feldern lässt sich dies überprüfen: Seuche, Klima und Wirtschaft. Politik kann solcher Expertise gegenüber recht dominant und sogar arrogant auftreten. Warum kann es dafür gute Gründe geben? Und wie könnten und sollten die Politik und wie wir Bürger am besten mit Expertenwissen umgehen?

Alle politischen Systeme ziehen Experten heran, keineswegs nur die Demokratien. Expertentum kann gefährlich sein und Todesfolgen haben: in Demokratien durch öffentliche Nichtbeachtung oder Geldentzug, in tyrannischen Staaten noch auf ganz andere Weise. Dazu ein klassisches Beispiel aus dem Buch Daniel im Alten Testament.

Nebukadnezar, der Tyrann von Babylon, wurde durch einen erschreckenden Traum geweckt. Er rief sofort alle Experten, nämlich Astrologen, Weise, Zauberer und Chaldäer zusammen. Als sie vor den Tyrannen traten und ihn baten, den Traum zu berichten, um ihn auslegen zu können, erklärte dieser: Es ist mir entfallen. Werdet ihr mir aber den Traum nicht anzeigen und ihn deuten, so sollt ihr in Stücke zerhauen und eure Häuser schändlich zerstört werden (Dan. 2). Ein modernes Beispiel: Das Institut für Wirtschafts- forschung in Halle hat die staatliche Milliardenförderung zur Ansiedlung der Chipfabriken von Intel in Sachsen-Anhalt kritisch hinterfragt. Aus der CDU kam deshalb der Ruf, die staatliche Finanzierung des Instituts in Frage zu stellen („Wir wiederholen unsere Fehler“. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff über die Energiewende und die AfD, FAZ, 8.4.2023, 5).

Politikberatende Experten mögen viel wissen, aber was sie oft nicht wissen: Sie sind nur Ernannte, aber nicht Erwählte. Zwar haben sie in ihrem Feld eine fachliche Reputation erworben, auf die sie ihre oftmals berstenden Egos stützen können. Auf ihrem Gebiet wissen sie mehr als die sie befragenden Politiker. Gern lassen sie diese dann, auch mit medialer Unterstützung, als zögerliche Dummköpfe und Dummköpfinnen aussehen. Die Politik aber hat viel komplexere Abwägungen zu treffen. Politikerinnen müssen auch auf die Akzeptanz und Durchsetzbarkeit ihrer Maßnahmen und bei drastischen Eingriffen in die persönliche Freiheit auch auf die Kompatibilität mit den Freiheiten der Bürger, mit Demokratie und Rechtsstaat achten. In der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass es sich um empfindlich schwere Eingriffe in die Freiheitsrechte sogar bis hinein in die Menschenwürde handeln kann. Erschwerend kommt hinzu, dass die Maßstäbe der Evaluation sich während des laufenden Verfahrens ändern können. Weiterhin müssen die meisten unter den Politikerinnen ständig ihre innerparteiliche Rangordnung und ihre Wiederwahl im Auge haben.

Vertrauensschock in der Corona-Pandemie 
Das coronatotalitäre Chinarezept, ganze Stadtviertel abzusperren und die Leute unversorgt ohne Lebensmittel leiden zu lassen, wurde in Deutschland durchaus auch von einigen Expertinnen des Teams Hypervorsicht empfohlen, weil vor der fachlichen Expertise einer Mathematikerin die Frage Demokratie oder totalitärer Staat keine Rolle spielt. Als Olaf Scholz, der schon als Finanzminister bewiesen hat, dass er ganz gut rechnen kann, sich kritisch über einige rein mathematisch errechnete, aber vollkommen realitätsferne Prognosen einer Göttinger Physikerin (keine Virologin!) äußerte, erntete er eine künstlich orchestrierte mediale Empörung. Als die Expertin zu ihrer Rechtfertigung dann noch antwortete, sie habe auch andere Modelle berechnet und es komme bei mathematischen Modellierungen einzig auf die in sie eingehenden Parameter an, hatte sie zwar recht, sich damit aber aus dem Kreis wissenschaftlicher Aussagen herauskatapultiert, denn als wissenschaftlich kann nur eine These gelten, die zu bestätigen oder zu widerlegen ist. Eine Prognose, die immer richtig sein soll, hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Erschwerend kam hinzu, dass die von dieser Expertin im Fernsehen zelebrierte Exponentialrechnung zur Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus Schulstoff in Klasse 10 der bayerischen Realschulen ist, weil nämlich früher Realschulabsolventen häufig einen Beruf bei der Sparkasse oder Bank finden sollten und dort natürlich Zins- und Zinseszinsrechnung beherrschen mussten. Dafür braucht es keine Professur, obwohl es im Fernsehen besser herüberkommt, wenn Trivialitäten mit professoralem Timbre verkündet werden. Daher konnten diese Berechnungen von jedermann und jederfrau leicht verstanden werden und lösten panikartige Beunruhigung aus, während schon jeder einfache Mediziner oder Virologe hätte sagen können, dass im wirklichen Leben so viele andere Faktoren intervenieren, dass die Ausbreitung eines Virus letztlich ganz anders verläuft und einfache mathematische Modelle schon deshalb unterkomplex sind.

Bei aller Kritik ist anzuerkennen: Experten habe es nicht leicht, weder zu Nebukadnezars Zeiten noch unter heutigen Bedingungen. Das liegt daran, dass sie mehreren Systemimperativen unterliegen, die nicht notwendig ausdehnungsidentisch sind. Vordergründig wird von ihnen erwartet, dass sie nach den Unterscheidungen urteilen, für die sie zuständig sind: Mediziner also nach krank/gesund (Lumann 1990, Reese- Schäfer 2020), Epidemiologen nach Eindämmung oder Ausbreitung von Krankheiten (Reese-Schäfer 2011, 2007, 118). Sofern Mediziner oder Epidemiologen zugleich als Wissenschaftler tätig sind, verwenden sie üblicherweise die Codierung ihrer auf der ersten Ebene gewonnenen Einblicke nach wahr/falsch, also den wissenschaftlichen Code. Manche glauben gar, dass die ihnen jeweils zuletzt bekannt gewordene Information richtiger sein müsse als alle vorigen.

Das hat in unserer Corona-Krise zu einem Vertrauensschock von Seiten der Politik und der Öffentlichkeit geführt, als die zur Politikberatung herangezogenen Chefvirologen plötzlich über Nacht, nämlich vom Mittwoch, den 11. März, auf Donnerstag, den 12. März 2020, zur Ministerpräsidentenkonferenz ihre Empfehlung radikal geändert hatten. Bis zum Mittwoch hatte es geheißen: Möglichst die Schulen und Kindergärten offenhalten, damit die Krankenhäuser und die Wirtschaft weiter funktionieren. Am Donnerstag wurden Schulen und Kindergärten dann als Schlüsselstellen der Virusverbreitung eingestuft. Armin Laschet, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, erklärte dazu, einigen Regierungschefs sei die Kinnlade heruntergefallen, als sie das hörten (Spiegel 20.3.2020). In der Wissenschaft zählte schlicht, ob die der Handlungsempfehlung zugrundeliegenden Vermutungen auf der Basis der aktuell vorliegenden Informationen plausibel sind. In der Nacht vom 11. auf den 12. März hatte der Virologe Christian Drosten die E-Mail einer amerikanischen Kollegin zur Kenntnis genommen, die sich auf historische Daten bezog. Bei der Spanischen Grippe, die zwischen 1918 und 1920 in mehreren Wellen Millionen Todesopfer gefordert hatte, war speziell die Verbreitung an Schulen und ähnlichen Institutionen als zentral erkannt worden. Ein Wissen aus dem Grundstudium der Epidemieforschung. Es war der von allen höchstangesehene Experte Drosten, der die Schulschließungen von einem Tag auf den anderen kategorisch forderte, sekundiert von Karl Lauterbach. Heute ist Lauterbach der Auffassung, dass es sich hierbei um einen der schwersten Fehler der deutschen Politik in der Pandemiebekämpfung gehandelt habe. Drosten dagegen hat sich weise aus der Politikberatung zurückgezogen und steht bis heute offenbar ratlos vor der complexio oppositorium des politischen und des fachwissenschaftlichen Systems. Er hätte seinerseits eine politische Beratung benötigt, ist aber wohl zu sehr von sich selbst überzeugt, um überhaupt darauf zu hören. Eine solche plötzliche Richtungsänderung von einem Tag auf den anderen ist wohl nur durch eine Art Massenpanik oder Hysterie zu erklären. Während im Wissenschaftssystem neueste oder wenigstens zuletzt bekannt gewordene Forschungsergebnisse Vorrang haben, haben in der Politik aus gutem Grunde Verlässlichkeit und Vertrauen einen sehr viel höheren Stellenwert. Dort geht es nicht zuletzt auch um die Akzeptanz und Durchsetzung der Maßnahmen. Die Reputation der Politiker ist dazu ein wichtiges Medium. Deshalb kommt es auf klare und möglichst längere Zeit haltbare Botschaften an. Jedenfalls ist es immer schlecht, wenn einem von Journalisten und anderen vorgehalten werden kann, gestern habe man aber das Gegenteil gesagt. Niklas Luhmann hat das so formuliert: „Die Politik muß, wenn sie Expertenwissen übernimmt, dieses sozusagen wider besseres Wissen versteifen.“ (Luhmann 2000, 161).

Klassisch für die politische Nutzung von Expertenwissen ist die Einrichtung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Jahre 1963, der bis heute regelmäßig seinen Jahresbericht vorlegt. Von der Politik wird die- ser je nach Bedarf herangezogen, beachtet oder missachtet. Die Wirtschaftsweisen, wie sie bald genannt wurden, haben sich inzwischen daran gewöhnt und leiden nicht mehr an der narzisstischen Kränkung, oft ignoriert zu werden. Der Sachverständigenrat war von Anfang an darauf ausgerichtet, nicht im Hintergrund, sondern in der Öffentlichkeit zu arbeiten, d.h. sowohl die Spitzenpolitiker als auch die breite Wählerschaft zu beraten. Er hat zur Versachlichung wirtschaftspolitischer Debatten beigetragen. Ob er die wirtschaftspolitische Kompetenz der Politik und der breiten Öffentlichkeit gehoben hat, ist empirisch nicht nachgewiesen. Wenn ein Fach relativ neu in den Focus der politischen wie öffentlichen Aufmerksamkeit rückt, wie es bei der Virologie und der Epidemiologie in der Corona-Krise der Fall war, ist es schon durch anfängliche Unerfahrenheit der Protagonisten im Umgang mit diesen Strukturen vom peinlichen Stolpern vor den Augen aller bedroht. Stolpern durch Unerfahrenheit passierte auch dem Bonner Virologen Hendrik Streeck, als noch ungesicherte Vorab-Ergebnisse seiner Studie zum Corona-Ausbruch im Landkreis Heinsberg von einer fragwürdigen PR-Agentur vermarktet wurden und der Eindruck zu widerlegen war, die coronaliberale Landesregierung in Nordrhein-Westfalen wolle auf diese Weise Werbung für ihre Lockerungsmaßnahmen machen.

Weltklimarat – ein hybrides System 
Es gibt Expertengruppen, deren diesbezügliche Erfahrungen im Vergleich zu den Virologen und Epidemiologen sehr viel weiter zurückgreifen können, wie z. B. die internationale Klimaforschung. Diese hat für die Veröffentlichung ein politisch-wissenschaftliches Filtergremium, den bei der UNO in Genf angesiedelten Weltklimarat (IPCC, International Panel on Climate Change) geschaffen, in dem die unterschiedlichen Forschungsergebnisse in einem nicht forschungsmäßig organisierten, sondern wissenschaftspolitischen Prozess ausgehandelt und abgestimmt werden. Damit dringt das politische Aushandeln und Finden von Kompromissen in die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse ganz direkt selbst ein. Systemtheoretisch betrachtet handelt es sich um die Konstruktion eines hybriden Systems, um die Interpenetration divergierender Systemimperative aufzufangen und damit umzugehen. Die Klimaforschung ist dadurch gerade auch in ihrer Finanzierung abhängig geworden von den Bewertungen des Weltklimarats und hat zugleich eine gewisse Unabhängigkeit von Einzelstaaten als Finanzierungsträgern gewonnen. Der politische Verwendungskontext hat im Falle der Klimaforschung zu einer Einwanderung politischer Diskursverfahren in die Wissenschaft geführt. Auf diese Weise wurden Autonomiegewinne gegenüber Einzelstaaten durch Autonomieverluste im Verhältnis zu übergeordneten Institutionen internationaler Politik bezahlt. Es handelt sich nicht mehr um reine, sondern um angewandte Wissenschaft.

Komplexität hat einen Doppelcharakter. Sie erweitert die Optionen und damit die Lebensvielfalt und den Lebensreichtum. Daher der Wunsch und Drang nach ihr. In unseren dynamischen Gesellschaften führt die Triebkraft der Komplexitätserhöhungen zugleich immer wieder zur Überforderung des Personals, oft sogar der herkömmlichen Strukturen und Systeme. Das überforderte Personal reagiert mit Handlungslähmung oder mit brachialen Vereinfachungen. Populismus ist ein unter Komplexitätsüberforderung typischerweise häufig auftretender Kurzschluss. Fähigeres Personal kann die Strukturen durchaus wieder mittelfristig stabilisieren, weil breite Spielräume und Ausgestaltungsmöglichkeiten offenstehen, wenn man sie nur versteht und mit ihnen umgehen kann. Politisches Entscheiden ist immer Komplexitätsreduktion auf entscheidbare Alternativen. Die Regelmechanismen der deutschen Politik haben sich nach anfänglichen leider auch von Experten beförderten Neigungen zu coronatotalitären oder coronaautoritären Positionen letztlich doch wieder auf ein coronaliberales Maß zurückjustiert.

Meine These ist, dass sehr viel einstmalige Expertise und sehr viel neu generierte Scheinexpertise durch kluge Prozessorganisation und Zerlegung in Teilschritte ersetzt werden kann. Auf Seiten der Politiker wie der Bürger bedarf es einer eher generalistischen Kompetenz und Urteilskraft, die das gerade Gegenteil jeglicher Expertenhaftigkeit ist. Bei neuen oder überraschenden Themen können Experten die Bürger wie Politiker in einer Art Schnellkurs auf den basalen Wissensstand bringen, auf dessen Grundlage dann wieder politische Entscheidungsfindung möglich wird. Ansonsten kann Sachkunde im Einzelfall je nach Bedarf herangezogen, im Nichtbedarfsfalle auch relativ folgenlos ignoriert oder wenn nötig durch Auftragsforschung überhaupt erst generiert werden. Das politische System hat auf diese Weise Methoden entwickelt, sich gegen eine technokratische Bevor- mundung durch Fachleute zur Wehr zu setzen, ganz anders als es einst die Bürokratisierungsdiagnosen deutscher Soziologen der Generation von Max Weber erwarten ließen. Mögen sich auch manchen Experten ob vieler politischer Entscheidungen die Haare sträuben, so gewinnt zumindest in demokratischen Systemen der demokratisch legitimierte politische Code durchweg gegen die Autorität der Expertinnen und Experten, die sich, wie die Corona-Krise in Deutschland gezeigt hat, letztlich ihrerseits bereitwillig der Leitfunktion des politischen Systems unterworfen haben. Siegreiche militärische Experten, wie einst George Washington, Napoleon Bonaparte oder Charles de Gaulle, erwarben als Ergebnis ihres Erfolgs für einige Zeit die politische Macht. Von unseren Epidemiologen und Virologen ist das glücklicherweise nicht zu befürchten. Letztlich kommt es in der Demokratie darauf an, Expertenmeinungen sowohl durch Politiker wie auch durch uns Bürger selbst durch rasche und entschlossene Entwicklung eigener Urteilskraft einschätzen und bewerten zu können. Der Souverän, und das ist die Politik und das sind die Bürger, kann seine Souveränität nur bewahren, wenn die Fachexperten in ihrer dienenden und zuarbeitenden Funktion verbleiben und nicht, wie einst in maßloser Selbstüberschätzung die deutschen Generäle im Ersten Weltkrieg, als Experten auch die Souveränität, also die Entscheidungskompetenz für sich beanspruchen.

Literatur
Luhmann, Niklas 2000: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M. 

Luhmann, Niklas 1990: Der medizinische Code. In: ders.: Soziologische Aufklärung 5. Opladen, S. 183–196. 

Reese-Schäfer, Walter 2007: Politisches Denken heute. Zivilgesellschaft, Globalisierung und Menschenrechte, 2. Aufl. München/Wien, S. 83–118. 

Reese-Schäfer, Walter 2011: Luhmann zur Einführung. 6. Aufl. Hamburg. 

Reese-Schäfer, Walter 2020: Warum die Politik ihre Experten auf Distanz hält. Expertenkult und politische Urteilskraft. In: Indes. Zs. für Politik und Gesellschaft, H. 3, S. 38–46.

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