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Dr. Judith Niehues leitet das Cluster Mikrodaten und Verteilung am Institut der deutschen Wirtschaft. Sie forscht zu Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung sowie zu subjektiven Verteilungsbewertungen.

Dr. Matthias Diermeier leitet das Cluster Demokratie, Gesellschaft, Marktwirtschaft am Institut der deutschen Wirtschaft. Er forscht zu aktuellen empirischen Fragen im Kontext der politischen Ökonomie und den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat.

Erwartungen und Enttäuschungen

In Krisenzeiten offenbaren sich gleichermaßen Notwendigkeiten und Dilemmata des Sozialstaats. Allgemein geteilt wird die Forderung, Menschen am unteren Ende der Einkommensverteilung vor existenziellen Notlagen zu bewahren. Bei genauerem Blick manifestieren sich jedoch ebenso Forderungen nach Statussicherung bis weit in die Mittelschicht hinein, die kaum finanziell nachhaltig zu bewerkstelligen sind. Für die Politik sollte dies Warnzeichen genug sein, keine Erwartungshaltung zu nähren, die sie letztlich nur enttäuschen kann.

Gerade in Krisenzeiten ist die sozialstaatliche Debatte häufig durch Erzählungen über Menschen geprägt, die aufgrund der veränderten Umstände in existentielle Schwierigkeiten und wirtschaftliche Armut geraten sind. Dabei setzt die Sozialstaatspolitik grundsätzlich wesentlich breiter an, als lediglich Armut zu bekämpfen oder Ungleichheiten abzumildern. Mit der Ausgestaltung des Sozialversicherungssystems (Alters-, Gesundheits-, Pflege- oder Arbeitslosenversicherung) fallen vielmehr auch Aufgaben in den Sozialstaat, deren Stoßrichtung es ist, zentrale Lebensrisiken breiter Bevölkerungsschichten abzusichern (Nullmeier 2021). Damit zählen die soziale Sicherung sowie der Erhalt des wirtschaftlichen Status wohlsituierter Bevölkerungsgruppen ebenso zum Fundament des Sozialstaates wie die Garantie eines Existenzminimums.

In Deutschland hat die Bedeutung des Sozialstaats während der vergangenen Jahrzehnte stark zugenommen. Mitte der 1960er Jahre überschritt der Anteil der Sozialausgaben erstmals 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Seit 2019 liegt die Quote über der 30-Prozent-Marke des deutschen BIP. Auch im internationalen Vergleich nimmt der Umfang sozial- staatlicher Leistungen in Deutschland damit eine Spitzenposition ein. Mit durchschnittlichen Ausgaben in Höhe von knapp 13.000 Euro je Einwohner im Jahr 2020 lagen die kaufkraftbereinigten Sozialschutzausgaben innerhalb der EU nur in Luxemburg höher.

Die quantitative Bedeutung des Sozialstaats deckt sich mit der Verantwortungszuweisung durch die Gesellschaft. In der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) im Jahr 2021 stimmten 92 Prozent der Befragten eher oder voll zu, der Staat müsse dafür sorgen, „dass man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat“. Wiederkehrende empirische Befunde zeigen jedoch eine große Unzufriedenheit damit, wie der Staat der verbreiteten normativen Anspruchshaltung gerecht wird, für sozialen Ausgleich zu sorgen. So empfanden 90 Prozent der deutschen Befragten des International Social Survey Programme (ISSP) 2020 die hiesigen Einkommensunterschiede als zu groß. Über 70 Prozent wiesen explizit dem Staat die Verantwortung zu, Einkommensungleichheiten zu reduzieren.

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