Der Autor

Dr. Nikolai Huke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Eberhard Karls Universität Tübingen im durch das BMBF geförderten Projekt „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland.

Feindbild Identitätspolitik und konservativer Rollback

Nachdem es identitätspolitisch gerahmten Bewegungen seit den 1970er Jahren gelungen war, rassistische, sexistische oder homo­phobe Positionen in die Defensive zu drängen, hat sich das Blatt inzwischen gewendet. Political correctness und „Gutmensch“ wurden zu konservativen Kampfbegriffen.

„Wer Ausländer, bunt, arabisch, gender oder U-20 ist, der braucht nichts zu befürchten, der hat Recht auf alles, sogar auf Rechtsbruch, aber gegen das biodeutsche, kartoffeldeutsche, das Blut des weißen, heterosexuellen Mannes wird gewettert und gedisst, dass es nur so kracht. Er ist der Sündenbock für alles!“ (Nita Ha zit. nach Palmer 2017)

Identitätspolitisch gerahmte soziale Bewegungen haben in den vergangenen Jahrzehnten die Gesellschaft grundlegend verändert. Das feministische, schwul-lesbische oder antirassistische Engagement zeigte gesellschaftlich vorhandene Diskriminierungsformen auf. Gleichzeitig konnten erste Schritte durchgesetzt werden, um diese abzubauen und perspektivisch zu überwinden (z. B. durch „Gender Mainstreaming“). Ausgangspunkt der Bewegungen waren alltägliche individuelle Erfahrungen von Gewalt, sozialer Ungleichheit und Entrechtung. In deliberativen Austausch- und Aushandlungsprozessen wurden diese Erfahrungen innerhalb der Bewegungen in gemeinsame Erzählungen, Forderungen und Identitäten übersetzt. In einigen geographischen Räumen, Subkulturen und sozialen Milieus wurden durch das Engagement Lebensentwürfe jenseits der Kleinfamilie mit (männlichem) Familienernährer offen lebbar und gesellschaftlich anerkannt. Die vermeintlich ‚natürliche‘ Normalität konservativer Wertvorstellungen wurde durch die sichtbarer werdende Vielfalt von Lebensentwürfen fragwürdig. Wie auch innerhalb der Bewegungen selbst kritisch diskutiert wurde, blieb die neue Normalität von Diversität unvollständig und umkämpft. Identitätspolitischen Subkulturen und Protesten gelang es nur, Teilaspekte der Diskriminierungserfahrungen der Gruppen, in deren Namen sie sprechen, wirkmächtig zu artikulieren (vgl. u. a. Hooks 1981; Fraser 2017). Grundlegende Diskriminierungsmechanismen blieben trotz der partiellen Liberalisierung der Gesellschaft weiterhin bestehen. Noch immer sind einige Freiheitsgewinne auf relativ privilegierte Schichten innerhalb der Gesellschaft beschränkt. Diversität wird vor allem dort akzeptiert, wo sie wirtschaftlich verwertbar ist. Zudem bleiben Homosexuelle auch in relativ liberalen urbanen Räumen durch homophobe Übergriffe bedroht. Frauen übernehmen in vermeintlich gleichberechtigten bildungsbürgerlichen Milieus weiterhin einen Großteil der Haushalts- und Fürsorgetätigkeiten.

Identitätspolitische Bewegungen müssen sich in der Folge gegen ihre eigenen (partikularen) Erfolge behaupten. Feministische Bewegungen stehen etwa vor der Herausforderung, dass Teile der Gesellschaft die Gleichberechtigung der Geschlechter als erfolgreich realisiert und daher Feminismus als unnötig ansehen. Gleichzeitig lässt sich in den vergangenen Jahren eine konservative Gegenoffensive („Rollback“) beobachten. (Vermeintliche) Identitätspolitik rückt im Zuge des Rollbacks ins Zentrum konservativer Kritik. Die konservative Reaktion stützt sich in Deutschland auf zwei zentrale Diskursfiguren: Erstens eine vermeintlich hegemoniale, von „Gutmenschen“, „versifften links-rot-grünen 68ern“, der „Lügenpresse“ oder dem „feministischen Volkssturm“ durchgesetzte political correctness, die explizit mit identitätspolitischen Forderungen (z. B. Quotenregelungen) verknüpft wird. Diese verunmögliche es, so die These, sachlich und angemessen über gesellschaftliche Probleme zu sprechen. Weißen, heterosexuellen Männern mit konservativen Positionen werde das Recht abgesprochen, sich zu äußern. Als Gegenspieler der politischen Korrektheit fungiert zweitens der gesunde Menschenverstand – im Sinne eines homogenen Volksempfindens –, der eine vermeintlich natürliche moralische Ordnung der Gesellschaft vorgebe. Eine wichtige Triebkraft des Rollbacks, so wird im Folgenden argumentiert, sind so genannte Moralpaniken: Medienereignisse, in denen eine Gruppe als ‚fremd‘, ‚bedrohlich‘ und als Gefahr für die moralische Ordnung der Gesellschaft identifiziert wird. 


Political correctness als konservativer Kampfbegriff
Identitätspolitischen Bewegungen gelang es seit den 1970er Jahren in einigen gesellschaftlichen Bereichen, konservative Positionen in die Defensive zu drängen. Offen sexistische, rassistische oder homophobe Positionen verloren in der Öffentlichkeit an Akzeptanz. Political correctness entwickelte sich daraufhin zu einem konservativen Kampfbegriff, der wesentlich als Fremdzuschreibung genutzt wurde. Im deutschsprachigen Raum verbreitete sich der Begriff in den 1990er Jahren zunächst in neonazistischen Milieus und konservativen Feuilletons. Die Konjunktur von political correctness war auch eine Reaktion darauf, dass neonazistische und ultranationalistische Positionen nach den rassistischen Pogromen (z. B. Rostock-Lichtenhagen) Anfang der 1990er Jahre infrage gestellt wurden. Der aus US-amerikanischen Debatten übernommene Begriff zielte strategisch darauf, antirassistische, feministische, linke, schwul-lesbische oder antifaschistische Kritik zu diffamieren. Der Vorwand, das Nicht-Sagbare sagbar zu machen, ermöglichte es gleichzeitig, rassistische, maskulinistische, geschichtsrevisionistische oder homophobe Positionen als legitime Meinungen (wieder) salonfähig zu machen (vgl. Auer 2002; Dietzsch/Maegerle 1996). Der Diskurs implizierte ein diffus verschwörungstheoretisches Feindbild der politisch korrekten „Gutmenschen“, unter die potentiell all jene subsumiert werden, die politisch von der eigenen konservativen oder neonazistischen Position abweichen oder diese kritisieren. Die Erfolge von Identitätspolitik bei der Gleichberechtigung und dem Hinterfragen von Stereotypen wurden negativ umgedeutet. Gleichstellungsregelungen und nicht-ausgrenzende Sprache wurden mit Meinungs- und Gesinnungsterror, einer Relativierung von Leistungsstandards, vermeintlichen Denk- und Äußerungsverboten oder Zensur verknüpft. In den folgenden Jahren wurde der Begriff zu einem Teil von Alltagssprache. Der Hinweis auf vermeintliche politische Korrektheit hatte weiterhin die Funktion, identitätspolitische Forderungen abzuwehren, auch wenn er in einigen identitätspolitischen subkulturellen Milieus (z. B. Teilen der Queer-Szene oder antirassistischen Bewegungen) seit den 2000er Jahren als positiver Referenzpunkt fungierte. Einen starken Aufschwung erlebte der Diskurs der political correctness durch den Bedeutungsgewinn sozialer Medien, in denen autoritär-populistische Positionen sich – auch durch die strategischen Aktivitäten neonazistischer ‚Trollfabriken‘ wie Reconquista Germanica – rasch verbreiten konnten (vgl. Salzborn 2017; tagesschau.de 2018). Im politischen Diskurs der AfD kommt dem Begriff eine dominante Rolle zu.

Gesunder Menschenverstand als anti-aufklärerische Figur 
Als Gegenspieler der political correctness fungiert in autoritär-populistischen Diskursen die rhetorische Figur des „gesunden Menschenverstands“. Der ‚Menschenverstand‘ ist gedanklich an einen vorher bereits feststehenden homogenen Volkswillen oder – wie es in der einer Terminologie des NS-Rechts hieß – ein „Volksempfinden“ gekoppelt. Er lässt sich, so die These, nicht in demokratischen Verfahren empirisch erfassen oder durch Vernunft ermitteln, sondern kann erspürt und von einer charismatischen Führung repräsentiert werden kann. Der vermeintliche Volkswille stimmt dabei – wenig überraschend – stets mit der jeweils eigenen, sei es konservativen oder neonazistischen Position, überein. Grundlage des so gefassten Menschenverstands sind individuelle Erfahrungen, die als unmittelbar und nicht durch Theorien, Reflexion oder Spekulation vermittelt erscheinen. Die Erfahrungen gelten nicht als partikular und subjektiv, sondern – da sie als Repräsentation des Volksempfindens in Szene gesetzt werden – als objektiv wahr. Fragmente des Alltagsbewusstseins, die konkrete Erfahrungen, Vorurteile und Halbwahrheiten verknüpfen, werden so zu allgemeingültigen Maximen generalisiert (vgl. Hall u. a. 2002, 153-154). In dem Moment, in dem individuelle Erfahrungen verabsolutiert werden, verliert das Alltagsbewusstsein sein – prinzipiell vorhandenes – gesellschaftskritisches Potential und wird zum soliden Fundament einer aufklärungs- und demokratiefeindlichen Haltung. Jedes Argument kann in der Folge durch Beispiele aus dem eigenen Alltagsbewusstsein ‚widerlegt‘ werden. Abweichende Argumente werden „nur noch als Ketzerei, als moralische Verfehlung“ (Seeßlen 2016) wahrgenommen. Die eigene Perspektive wird gegen rationale Kritik und deliberative demokratische Aushandlungsprozesse immunisiert. Der eigene Lebensstil und mit ihm potentiell verbundene Formen von Ungleichheit und Diskriminierung werden als nicht hinterfragbar naturalisiert. 

Identitätspolitische Akteure, die alternative und oppositionelle Erfahrungen und Forderungen artikulieren, gelten in der Folge als gegen den gesunden Menschenverstand und das Volksempfinden gerichtet. Sie werden – nicht selten mit Argumentationsfiguren, die verschwörungstheoretische Züge tragen – als deviant charakterisiert oder pathologisiert (z. B. „Rapefugees“, „Feminazi“ oder „links-grün versifft“). Ihnen wird vorgeworfen, durch die Abkehr vom gesunden Menschenverstand einem Verfall von Moral und Sitten Vorschub zu leisten, der Ordnung und Zusammenhalt der Gesellschaft gefährde. Die Figur des gesunden Menschenverstands legitimiert dadurch nicht nur die eigene Position, sondern geht zudem mit klaren Feinbildkonstruktionen und einem aktiven Willen zur Ausgrenzung einher. Durch soziale Medien gewinnt die Figur des gesunden Menschenverstands an politischer Relevanz. Individuelle Positionen können auf Facebook oder Twitter im (halb-)öffentlichen Raum artikuliert und durch Echoeffekte gefestigt werden: Einerseits sind die Nutzer selbst wesentlich mit anderen Nutzern verknüpft, die ähnliche Interessen haben und ähnliche politische Positionen vertreten („Echokammern“), andererseits bevorzugen die Algorithmen der Seiten Inhalte, die für den Nutzer aufgrund seines Nutzungsverhaltens von Interesse sein dürften („Filterblasen“). Die eigene Wahrnehmung, objektive – lediglich durch political correctness und ihre Handlanger (z. B. die „Lügenpresse“, „Angela Merkel“) unterdrückte – Wahrheiten auszusprechen, wird dadurch verstärkt. 

Moralpaniken als Triebkraft des konservativen Rollbacks 
Eine zentrale Rolle spielen die Diskurse der political correctness und des gesunden Menschenverstands im Zuge so genannter Moralpaniken. Mit diesem Begriff wird in wissenschaftlichen Debatten eine Dynamik bezeichnet, in der Ereignisse aus ihrem jeweiligen Kontext gelöst und zum Symbol eines breiteren Prozesses des Verfalls, der sozialen Desintegration und der Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts werden (vgl. Cohen 1980; Hall u. a. 2002; McRobbie/Thornton 1995). Mit den Ereignissen verbundene Spannungen und Ängste erscheinen als Elemente einer allgemeinen sozialen und politischen Krise. Ein Ereignis wird zu einem Schlüsselereignis, dass die öffentliche Debatte in der folgenden Zeit prägt. Infolge des Schlüsselereignisses werden in den Medien ähnliche Ereignisse hervorgehoben. Kontrastierend werden nostalgische Narrative einer glorreichen Vergangenheit eingesetzt, in der soziale Stabilität und moralische Disziplin Kriminalität und Unordnung verhindert hätten. Als Verursacher der Verfalls- und Desintegrationsprozesse wird eine spezifische Gruppe identifiziert, die als fremd, abweichend und gefährlich konstruiert wird. Die Gruppe wird dazu in stilisierter und stereotyper Form präsentiert. Verschieden gelagerte Unsicherheiten und diffuse Ängste werden auf die Gruppe projiziert. Moralpaniken legitimieren darüber repressive Maßnahmen gegenüber der entsprechenden Gruppe und stabilisieren somit gesellschaftliche Hierarchien und soziale Exklusion. 

Moralpaniken können unintendiert als Folge von alltäglichen Konflikten entstehen. In emotionalisierenden und personifizierenden Narrativen in TV- und Printmedien und in politischen Aushandlungsprozessen werden sie aber auch strategisch genutzt, um Aufmerksamkeit, Zustimmung und Konsens zu sichern. Für kommerzielle Medien sind Moralpaniken eine Möglichkeit, Einschaltquoten und Verkaufszahlen zu steigern. Regierungsvertreter nutzen Moralpaniken, um ihre eigene Verantwortung für gesellschaftliche Probleme zu relativieren, indem sie marginalisierte Gruppen als Verursacher identifizieren. Der Polizei kommt im Prozess der Konstruktion von Moralpaniken eine wichtige Rolle zu, da sie über eine spezifische Deutungsmacht bei der Kennzeichnung und Einordnung von Kriminalität und der Konstruktion krimineller Gruppen verfügt. Medien übernehmen polizeiliche Meldungen häufig unhinterfragt, teilweise ohne auf die Herkunft der Informationen hinzuweisen. Aus einem institutionellen Eigeninteresse heraus können Moralpaniken von der Polizei genutzt werden, um eine verbesserte Ausstattung mit finanziellen und personellen Ressourcen einzufordern. 

Grundlage von Moralpaniken sind im Alltagsbewusstsein verankerte diffuse Vorurteile, Sorgen und Ängste. Sensationsorientierte Massenmedien, neue oder zuvor noch nicht medial präsente Formen von Devianz, marginalisierte Outsider und eine bereits für das entsprechende Thema sensibilisierte Öffentlichkeit begünstigen die Entstehung von Moralpaniken. Soziale Medien haben den Ablauf von Moralpaniken verändert. Sie ermöglichen es durch Echokammern und Filterblasen, Emotionen und Symbole rasch zu verbreiten. Beiträge werden vielfach geteilt, ohne dass Quellen seriös geprüft und ihre Echtheit verifiziert wird. Gerüchte und Falschmeldungen, die von Nutzern als wahr angenommen werden („Fake News“), werden begünstigt. Während Moralpaniken traditionell durch Eliten geprägt wurden, können sie in sozialen Medien auch gegen die (vermeintliche) Dethematisierung von Ereignissen durch Eliten gerichtet sein. Um zu zeigen, wie sich political correctness, gesunder Menschenverstand und Moralpaniken zu einem konservativen Rollback identitätspolitischer Erfolge verdichten, werden im Folgenden kurz zwei Beispiele skizziert: ‚Frühsexualisierung‘ und ‚Flüchtlingskriminalität‘. 

Die Debatte um ‚Frühsexualisierung‘ 
Der Begriff der ‚Frühsexualisierung‘ wird in den vergangenen Jahren von autoritär-populistischen und neonazistischen Akteuren und Bewegungen (u. a. AfD, CSU, „besorgte Eltern“, „Demo für alle“) genutzt, um frühkindliche Sexualaufklärung zu diffamieren (vgl. Hark/Villa 2017). Elemente von Sexualaufklärung sind neben biologischen Informationen über Geschlechtsorgane, Schwangerschaft, Geburt oder Verhütung auch soziale Dimensionen wie Lust, Beziehungsleben, Familienformen oder Geschlechtsidentitäten. Die Vielfalt von Identitäten wird innerhalb der Sexualaufklärung – ein Erfolg feministischer und schwul-lesbischer Bewegungen – zunehmend als normal anerkannt.

In konservativen Milieus löst diese identitätspolitische gesellschaftliche Liberalisierung Abwehrreflexe aus. Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist die von den „besorgten Eltern“ herausgegebene Broschüre „Die verborgenen Wurzeln der ‚modernen‘ Sexualaufklärung“ (Besorgte Eltern 2015). Im Sexualkundeunterricht, heißt es in der Broschüre, integrierten „hemmungslose“ bzw. „entfesselte“ „Gender-Sexualpädagoge[n]“ „die abartigste[n] Sexualpraktiken in den Schulunterricht“ und stülpten „Kinderseelen“ „abartige Neigungen und Fantasien“ über. Sexualaufklärung wird mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, Pädophilie und Internetpornographie in eine Reihe gestellt. Das „Einfordern von Akzeptanz sexueller Vielfalt“ verstoße gegen das Indoktrinationsverbot. Als Wurzel der Verbreitung von Unmoral in der Gesellschaft identifiziert die Broschüre die „Gender-Ideologie“, deren Protagonisten „in [die] abartigsten sexuellen Praktiken verstrickt waren“ und „widernatürlichste und perverseste Überzeugungen veröffentlicht[en]“. 

Die Debatte um Sexualaufklärung wird so zum Symbol einer durch identitätspolitische Erfolge ausgelösten allgemeinen Krise bzw. eines weiter reichenden moralischen Verfallsprozesses. Hervorgerufen und ermöglicht werde diese Entwicklung durch eine von oben mithilfe „gleichgeschalteter Mainstream-Massenmedien“ und der „finanziellen Unterstützung ‚namhafter‘ Organisationen“ implementierte political correctness“ („Gender-Gehirnwäsche“). Antidiskriminierung und sexuelle Vielfalt stünden, so die Broschüre, der im gesunden Menschenverstand des „Volks“ verankerten Erfahrung der „von der Natur vorgegebenen Ordnungen und unzweifelhaften Erkenntnisse der Biologie“ diametral gegenüber. 

Der Diskurs um ‚Flüchtlingskriminalität‘ 
Im Gegensatz zur ‚Frühsexualisierung‘ ist der Begriff der ‚Flüchtlingskriminalität‘ auch über autoritär-populistische und neonazistische Milieus hinaus verbreitet. Neben konkreten Straftaten von Flüchtlingen werden unter dem Begriff vermeintlich kriminelle Neigungen von Flüchtlingen insgesamt diskursiv verhandelt. Mit dem Begriff der ‚Flüchtlingskriminalität‘ verknüpfte Ereignisse, die mit Moralpaniken verbunden waren, reichen von „Silvester in Köln“ bis hin zu den neonazistischen Protesten in Chemnitz. 

Illustrativ für den Diskurs um Flüchtlingskriminalität ist unter anderem ein Interview von Rainer Wendt, des aufgrund seiner populistischen Äußerungen umstrittenen Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) mit der neurechten Website „Tichys Einblick“ (vgl. Wendt 2018). Flüchtlinge beschreibt Wendt im Interview am Beispiel Donauwörths als „Männer, davon 300 aus Gambia, die permanent durch diesen Ort ziehen und auffallen, Leute belästigen, Straftaten begehen“. Integrationsbemühungen seien „eine der ganz großen Lebenslügen der deutschen Politik“. „Menschen aus islamisch geprägten Kulturkreisen“ könne man „bei uns nicht integrieren […] – und wenn, dann nur in wenigen Einzelfällen“. Als verantwortlich für den migrationspolitischen „Kontrollverlust“ sieht er neben „Schleuser[n] und Kriminelle[n]“, die „im Dunkeln wirken“, auch „Frau Merkel“ und eine „Abschiebeverhinderungsindustrie, bestehend aus Sozialverbänden, die prächtig verdienen, aus Anwaltskanzleien und Ärzten und aus Nichtregierungsorganisationen, die dazwischen hängen“. Political correctness, so Wendt weiter, verunmögliche eine gesellschaftliche Debatte um Migration. Es sei „mittlerweile unglaublich schwierig, etwas Vernünftiges zu sagen, ohne damit gleich in die rechte Ecke gestellt zu werden. […] In Deutschland steht man heute schon unter Rassismusverdacht, wenn man einen festen Wohnsitz hat und einen Anzug trägt.“ Das Interview endet mit der düsteren Prognose, dass sich „Parallelgesellschaften in Deutschland und Europa verfestigen werden, viele Menschen werden sich zu ihrem Schutz in abgeschlossenen Gemeinschaften zusammenschließen“. 

Fazit
Identitätspolitik, so zeigen die Beispiele der ‚Frühsexualisierung‘ und ‚Flüchtlingskriminalität‘, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten – in ihren unterschiedlichen Facetten von Forderungen nach Gleichberechtigung über Quotenregelungen bis hin zu nicht-diskriminierender Sprache – zu einem beliebten konservativen Feindbild entwickelt. Integrations- und Gleichstellungsbemühungen werden als Ergebnis einer realitätsfernen political correctness charakterisiert. Sie werden als partikulare politische Strategien mit negativen Auswirkungen für die Mehrheit der Bevölkerung diffamiert, während die eigene (konservative, autoritär-populistische oder neonazistische) Meinung als Position eines universell gültigen gesunden Menschenverstands in Szene gesetzt wird. Die Kritik von Identitätspolitik zielt auch darauf, die eigene Verortung unsichtbar zu machen, wodurch bestehende Privilegien und gesellschaftliche Ungleichheit abgesichert werden. Identitäten sowie subjektive und partikulare Wahrnehmungen, so scheint es, haben immer nur die anderen. 

Neben der Kritik am aufklärungs- und demokratiefeindlichen Charakter dieses Diskurses könnte eine praktische Gegenstrategie darin bestehen, die Universalitätsbehauptung entsprechender Aussagen konsequent zu durchkreuzen. Um die lautstarke eindimensionale Repräsentation gesellschaftlicher Realität durch konservative und autoritär-populistische Akteure zurückzuweisen, hieße das, Perspektiven der diffamierten und zum Schweigen gebrachten Akteure anzuerkennen, zu berücksichtigen und zu Wort kommen zu lassen, etwa von „Gender-Sexualpädagoge[n]“, „Männer[n], davon 300 aus Gambia“, vermeintlichen „Feminazis“, „Menschen aus islamisch geprägten Kulturkreisen“, „Ausländer[n]“ oder der „Abschiebeverhinderungsindustrie“. Entsprechend sachbezogene und vielfältige Perspektiven könnten eine ernsthafte demokratische Debatte über gesellschaftliche Probleme, aber auch Erfolge und Grenzen von Identitätspolitik jenseits von anti-aufklärerischen Kampfbegriffen, Moralpaniken und konservativem Rollback ermöglichen.



Literatur
Auer, Katrin 2002: „Political Correctness“ – Ideologischer Code, Feindbild und Stigmawort der Rechten. In: ÖZP 31 (3), S. 291 – 303; https://webapp.uibk.ac.at/ojs2/index.php/OEZP_TEST/article/viewFile/800/502

Besorgte Eltern 2015: Die verborgenen Wurzeln der ‚modernen‘ Sexualaufklärung; http://www.besorgte-eltern.net/pdf/broschure/broschure_wurzeln/BE_Verborgene-Wurzeln_A5_v02.pdf [letzter Zugriff 6.9.2018].

Cohen, Stanley 1980: Folk devils and moral panics. Oxford.

Dietzsch, Martin/Maegerle, Anton 1996: Kampfbegriff aller Rechten: „Political Correctness“; http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/Kampfbegriff.htm [4.9.2018].

Fraser, Nancy 2017: Progressive Neoliberalism versus Reactionary Populism. In: NORA 24 (4), S. 281 – 284.

Hall, Stuart u. a. 2002: Policing the crisis. London. Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hg.) 2017: Anti-Genderismus. Bielefeld.

Hooks, Bell 1981: Ain’t I a woman. Boston, Mass.

McRobbie, Angela/Thornton, Sarah L. 1995: Rethinking ‚Moral Panic‘ for Multi-Mediated Social Worlds. In: The British Journal of Sociology 46 (4), S. 559 – 574.

Palmer, Boris 2017: Sigmaringen. Bahnhof; https://www.facebook.com/ob.boris.palmer/posts/1502458899793637 [13.3.2018].

Salzborn, Samuel 2017: Angriff der Antidemokraten. Weinheim. 

Seeßlen, Georg 2016: Gefühlte Wirklichkeiten. In: Jungle World, 18.2.2016; https://jungle.world/artikel/2016/07/gefuehlte-wirklichkeiten [27.8.2018].

tagesschau.de 2018: Rechte Trollfabrik. Infokrieg mit allen Mitteln. In: tagesschau.de, 13. 2.2018; https://faktenfinder.tagesschau.de/inland/organisierte-trolle-101.html

Wendt, Rainer 2018: Gegen Kriminalität helfen Polizei und Recht, sonst nichts; https://www.tichyseinblick.de/meinungen/interview-rainer-wendt-gegen-kriminalitaet-helfen-polizei-und-recht-sonst-nichts/ [6.9.2018].


Zitation:
Huke, Nikolai (2018). Feindbild Identitätspolitik und konservativer Rollback. Moralpaniken, Volksempfinden und political correctness, in: POLITIKUM 4/2018, S. -21.

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