Die Autoren

Prof. Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Indus­trie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller Universität Jena.

Hans Rackwitz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie, Arbeitsbereich für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie, an der Friedrich-Schiller Universität Jena.

Finanzmarkt-Kapitalismus

Finanzmarkt-Kapitalismus ist der Schlüsselbegriff für Analysen, die einen Funktions- und Strukturwandel des Finanzsystems, seiner Institutionen und Akteure beobachten. Sind Phänomene wie die Expansion des Finanzsektors, die Beschleunigung von Finanztransaktionen und das größere Gewicht von Finanzmarktakteuren in der Weltwirtschaft unstrittig, so wird über die Bedeutung der von ihnen ausgehenden Veränderungen kontrovers diskutiert.

Enge Definitionen begrenzen den Finanzmarkt-Kapitalismus auf die Aktivitäten von Aktiengesellschaften und Kreditinstituten, die ihrerseits nur einen relativ kleinen Teil gewinnorientierter Unternehmen ausmachen. Davon zu unterscheiden sind Ansätze, die den Finanzmarkt-Kapitalismus als eine qualitativ neue Entwicklungsweise des Kapitalismus betrachten. Wir schließen an diese zweite Perspektive an und begreifen den Finanzmarkt-Kapitalismus als ein Produktionsregime, das von besonderen Institutionen, Akteuren und Transfermechanismen geprägt wird. Zu diesen Institutionen zählen u. a. die Aktienmärkte (Kapitalisierungsfunktion), Investment-Fonds (Eigentümerfunktion), Analysten und Rating-Agenturen (Bewertungs- und Grenzziehungsfunktion) sowie der Markt für Unternehmenskontrolle (Transferfunktion). Auf den Finanzmärkten beobachten verschiedene Akteure „wechselseitig ihre Erwartungs-Erwartungen, die sich auf Basis eines kontinuierlichen Stromes von Informationen bilden“. Anhand „dieser Erwartungs-Erwartungen wird der Risikofaktor geschätzt und damit kann der Preis für ein Zahlungsversprechen ad hoc festgelegt werden (Kurs). In diesem Sinne sind die Finanzmärkte effiziente Maschinen zur Informationsverarbeitung“ (Windolf 2005, 31), die Markteilnehmer permanent mit Hinweisen auf gewinnträchtige Anlagemöglichkeiten versorgen. 

Allein, so sei hinzugefügt, die Maschine funktioniert fehlerhaft. Ihr zentrales Problem besteht darin, dass sie die Komplexität konkreter Gebrauchswerte „nur fiktiv reduziert (unanalysierte Abstraktion)“ (ebd.). Um Aussagen über künftige Erträge treffen zu können, müssen Finanzmarktakteure die Zukunft modellieren. Das können sie aber allenfalls annäherungsweise, weil die Zukunft grundsätzlich nicht vorhersehbar ist. Ihre Prognosen beruhen überwiegend auf Informationen aus Vergangenheit und Gegenwart, die in die Zukunft projiziert werden. Auf modernen Finanzmärkten wird nicht nur mit Wetten auf die Zukunft, sondern auch mit Gegenwetten, von ihnen abgeleiteten Wetten usw. Handel getrieben. Ein Modus zur Finanzierung von Investitionen für die erwarteten Gewinne von morgen – ein an sich sinnvoller Modus – beruht somit auf intertemporalen Verflechtungen, die ein hoch spekulatives Moment beinhalten. Das erklärt, weshalb „Instabilität aus den normalen Mechanismen“ des Finanzmarkt-Kapitalismus heraus entsteht (Minsky 2011, 33). Diese Instabilität macht sich, so unsere These, inzwischen nicht nur in immer neuen Krisen und sozialer Polarisierung bemerkbar, sie wird vor allem in der Eurozone mehr und mehr zu einem strukturellen gesellschaftlichen Entwicklungshemmnis. 


Die Entstehung des Finanzmarkt-Kapitalismus
Historisch betrachtet ist der Finanz(markt)kapitalismus kein neues Phänomen. Schon im Übergang von 19. zum 20. Jahrhundert wurden Konzentration und Zentralisation von Kapital, die Herausbildung von Aktiengesellschaften mit monopolistischer Marktmacht und vor allem die Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital als Herausbildung eines Finanzkapitalismus gedeutet. Bahnbrechend ist noch immer die Studie Rudolf Hilferdings (1974 [1910]), die das Finanzkapital als industrielles Kapital in der Verfügung der Banken definiert. Hilferding irrte jedoch mit zwei Überlegungen. Erstens stellte er den Einfluss der Banken auf produzierende Unternehmen zu einseitig dar und zweitens sah er mit dem Finanzkapital zugleich einen organisierten Kapitalismus heranreifen, den er als Vorstufe zum Sozialismus betrachtete. Der heutige Finanzmarkt- Kapitalismus ähnelt seinem Vorläufer nur hinsichtlich der Konzentration von Kapital und Vermögenswerten; auf der Betriebs- und Unternehmensebene handelt es sich aber um ein flexibles Produktionsregime mit dezentralen Organisationsformen, das den Wettbewerb auf nahezu alle Lebensbereiche ausgedehnt hat. Sein Aufstieg ist eng mit der sogenannten Globalisierung der Finanzmärkte, präziser: mit der Ausbreitung und Beschleunigungswirkung neuer Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der wechselseitigen Verflechtung der verschiedenen Finanzmarktsegmente (Kreditmarkt, Primär- und Sekundärmarkt für Wertpapierfinanzierung, Markt für Währungen, Markt für abgeleitete Finanzinstrumente/Derivate) verbunden.

Die dynamische Expansion und Verflechtung der Finanzmärkte hängt eng mit der Aufkündigung der Goldbindung des US-Dollars (1971) und der Auflösung des Systems fester Wechselkurse (1973), dem sogenannten Bretton-Woods-System, zusammen. Auf das Ende von Bretton-Woods folgten in allen OECD-Staaten drei Jahrzehnte der Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Da Finanzmarktakteure mit der Drohung einer Verlagerung ihrer Geschäftstätigkeit ins schwächer regulierte Ausland Druck auf politische Entscheidungsträger ausüben konnten, bedingte die Liberalisierung des Kapitalverkehrs ihrerseits eine zunehmende Deregulierung der Finanzplätze: Vorschriften zur Trennung von Geschäftsbanken, Investmentbanken und Wertpapierhandel wurden beseitigt oder gelockert, Zinsregulierungen aufgehoben, neue Märkte für das Finanzsystem geöffnet und neue Akteure (Hedgefonds, Schattenbanken etc.) sowie zuvor unbekannte Finanzprodukte akzeptiert. Zu letzteren gehören Derivate, die der Absicherung von Handelsrisiken dienen sollen, aber ein hoch spekulatives Eigenleben führen. Überwiegend außerbörslich gehandelt, tragen sie entgegen ihrer eigentlichen Funktion zu jener Intransparenz auf den Finanzmärkten bei, mit der die Aufsichtsbehörden weltweit zu kämpfen haben. 


Dynamiken und Mechanismen des Finanzmarkt-Kapitalismus


Charakteristisch für Finanzmärkte, die mit Erwartungs-Erwartungen operieren und nicht nur mit Devisen, sondern auch mit Risikoprofilen und Fälligkeiten von Wertpapieren handeln, ist, dass sie die stets gegebene Zukunftsorientierung marktwirtschaftlicher Wirtschaftsaktivitäten verstärken und deren spekulativen Charakter ausprägen. Finanzmarktakteure antizipieren und bewerten die ökonomische, gegebenenfalls auch die politische Zukunft in der Gegenwart und streuen das Risiko ungewisser Zukunftsaussichten auf mehrere Marktteilnehmer. Sie prognostizieren die künftigen Gewinnaussichten produzierender Unternehmen, urteilen über deren Fähigkeit zur Schuldentilgung und bewerten entsprechende Finanztitel. Rating-Agenturen und Analysten reduzieren die „Komplexität zukünftiger Produktions- und Marktprozesse auf eine Zahl, nämlich auf den Erwartungswert der zukünftigen Gewinne“ (Windolf 2005, 43). Bestand die ursprüngliche marktwirtschaftliche Funktion der Finanzwirtschaft vor allem darin, die Aktivitäten der Produktionsökonomie zu finanzieren und eine möglichst effiziente Verteilung der Investitionsströme zu gewährleisten, so hat mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs zugleich eine Verschiebung von der Kredit- zur Investmentfunktion des Finanzsektors stattgefunden. 

Markanter Ausdruck dieses Strukturwandels ist der Aufstieg institutioneller Investoren. Zu diesen gehören u. a. (Investment-)Banken, Pensions-, Versicherungs- und Hedge­fonds sowie Exchange Traded Funds, Private-Equity-, Geldmarkt- und Staatsfonds. Institutionelle Investoren sind Finanzmarktakteure, die Kapital von Privatpersonen, Stiftungen und Unternehmen einwerben und bündeln, um es gegen Gebühren gewinnbringend auf den Finanzmärkten anzulegen. Das Primärinteresse dieser Finanzinvestoren besteht nicht in der Finanzierung realer Produktionsprozesse, die im Tausch mit einer Gewinnbeteiligung bzw. durch einen Zinsaufschlag auf das verliehene Kapital gewährt wird, sondern in der maximalen Vermehrung der anvertrauten Geldeinlagen. Durch die Bündelung des Kapitals ihrer Kunden erhalten sie potentiell Einfluss auf Unternehmen und auf Regierungen, deren Schuldentitel sie erwerben. Intransparent bleibt aber, ob, wie und mit welchen Zielen diese Einflussmöglichkeiten wahrgenommen werden. Aufgrund der scharfen Konkurrenz um die Gunst ihrer Kunden stehen institutionelle Anleger selbst unter dem Druck hoher Renditeerwartungen. Daraus resultiert eine permanente Suche nach immer neuen Anlagemöglichkeiten und Chancen zur Rentabilitätssteigerung bestehender Anlagen.

Die hier nur grob skizzierten Veränderungen haben die Finanzmärkte „von Einrichtungen zur Finanzierung von Investitionen in Orte der hektischen Suche nach schnellen und hohen Finanzrenditen“ (Huffschmid 2002, 87) verwandelt und zu einem überproportionalen Wachstum der Finanzvermögen geführt. So nahm der Handel mit Aktien zwischen 1980 und 2014 um den Faktor 371 zu, während der Aktienbestand lediglich um den Faktor 23 anwuchs. Zugleich hat sich die Haltedauer der Aktien verkürzt. Während 1980 Aktien im Durchschnitt noch fast zehn Jahre gehalten wurden, waren es 2008 nur noch drei Monate – alles Phänomene, die für die Zunahme von Spekulationen mit Finanztiteln sprechen. Spekulationsrisiken können durch die Hebelwirkung des eingesetzten Kapitals dramatisch vergrößert werden. So bewegte ein einzelner Akteur wie der LTCM-Fonds vor seinem Kollaps (1998) bei einem Eigenkapital von 4,8 Mrd. Dollar Aktiva im Wert von 125 Mrd. Dollar. Diese Hebelwirkung, die sich mit geeigneten Finanztechniken noch steigern lässt, erzeugt Finanzierungsrisiken in einer Dimension, die im Falle eines Crashs immer wieder staatliche Hilfsaktionen nötig machen (too big to fail), um das Finanzsystem zu stabilisieren.

Die Erschütterungen, die Insolvenzen marktbeherrschender Unternehmen auslösen, können globale Ausmaße annehmen. Aus dem Bestreben von Staaten, derartige Zusammenbrüche zu vermeiden, erklärt sich die Beharrungskraft finanzkapitalistischer Macht. Anders gesagt: Die Akkumulation ökonomischer fällt zunehmend mit der Akkumulation politischer Macht zusammen. Große Unternehmen in der Finanzindustrie können im Krisenfall immer damit rechnen, dass der Staat als Retter interveniert. Dies wiederum verstärkt den „moral hazard“, die Bereitschaft von Finanzmarktakteuren, aus Eigeninteresse hohe Risiken einzugehen, die dann wiederum als zusätzliche Krisenverursacher wirken können. Im Krisenfall müssen politische Eliten mangels Alternativen häufig auf Expertokratien aus marktbeherrschenden (Finanz-)Konzernen zurückgreifen. In manchen EU-Staaten rekrutiert sich das politische Spitzenpersonal inzwischen unmittelbar aus den großen Beratungsinstituten. Aus der Symbiose von politischen und ökonomischen Machtressourcen erwächst den Akteuren insbesondere der Finanz­industrie eine Definitionsmacht, die sie – etwa bei der Festlegung der Systemrelevanz von Kreditinstituten, der Abwehr von Steuern und Regulierungen oder der Konstruktion eines Rettungsschirms für den Euro – auch operativ zu nutzen wissen. 


Ungleichheit und Unsicherheit im Finanzmarkt-Kapitalismus 
Finanzmarkt-Kapitalismus bedeutet somit, dass sich die überproportionale Expansion des Finanzsektors und dessen relative Abkopplung von der Produktionsökonomie samt des darin enthaltenen spekulativen Moments institutionell und sozialstrukturell verfestigen. Die Folge ist eine systematische Produktion von sozialer Ungleichheit und Unsicherheit. Dies vor allem aus drei Gründen: 

Erstens fördert die Expansion des Finanzsektors die Vermögenskonzentration. So begünstigt die zunehmende Verschuldung von Personen, Unternehmen und Staaten diejenigen Gläubiger, die über große Vermögen verfügen. Obwohl über die expandierende, aber dennoch winzige Gruppe superreicher Vermögensbesitzer wenig bekannt ist, weisen die verfügbaren Daten auf dramatische sozialstrukturelle Veränderungen hin. Nach einer Studie der Nichtregierungs-Organisation Oxfam (2016) besitzen 62 Personen ein Vermögen, das dem der ärmeren Hälfte der Menschheit entspricht. Den sozialen Kern der besitzenden Klassen bilden weltweit ca. 10 000 bis 20 000 superreiche Personen, darunter etwa 3000 Milliardäre, deren frei verfügbares Vermögen mehr als 500 Mio. US-Dollar beträgt. Um diese Superreichen gruppieren sich weitere 100 000 Personen mit einem Vermögen von 30 bis 500 Mio. Dollar sowie etwa zehn Mio. Personen mit Vermögen zwischen einer und fünf Mio. Dollar (Krysmanski 2012, 45-46). 

Ein Hauptgrund für die zunehmende Vermögensungleichheit sind die hohen Renditen, die durch Kapitalanlagen erzielt werden (Oxfam 2016, 2). Hinzu kommt, dass reiche Einzelpersonen etwa 7,6 Billionen US-Dollar in Steueroasen geparkt haben; jedes zweite Großunternehmen verfügt über Töchter, die in solchen Steuerparadiesen ansässig sind. Das Zentrum dieses Steuervermeidungssystems bilden 50 Banken, die mehr als 72 % des dort angelegten Kapitals verwalten. Einen weiteren Faktor bilden die häufigen Finanzkrisen, die als effiziente Mechanismen der Umverteilung von unten nach oben wirken, wenn in ihnen mit staatlicher Hilfe Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden können. Die reichen Klassenfraktionen werden nicht nur zahlenmäßig größer, sondern im Verhältnis zu den übrigen sozialen Großgruppen auch immer reicher (Piketty 2014). Nach eher defensiven Schätzungen verfügt das oberste Prozent in Deutschland über ca. 32 Prozent, das oberste Zehntel-Prozent (0,1) über etwa 16 Prozent des Gesamtvermögens. In den angelsächsischen Kapitalismen, insbesondere in den USA ist diese Ungleichverteilung besonders scharf ausgeprägt. Problematisch ist diese Ungleichverteilung nicht nur nach Gerechtigkeitskriterien, sondern vor allem mit Blick auf ihre ökonomischen und sozialen Wirkungen. 

Der zunehmenden Vermögens- und auch Einkommensungleichheit entspricht zweitens eine Zentralisation von Kontrollmacht, die große Unternehmen aus dem Finanzsektor begünstigt. Einer neueren Netzwerkanalyse (Vitali et al. 2011) zufolge besitzen ca. 43 000 international agierende Konzerne (potentielle) Kontrollmacht; aber nur 1 318 Firmen beherrschen im Durchschnitt mindestens 20 andere Unternehmen und damit vier Fünftel des globalen Umsatzes. Von diesen Unternehmen bilden wiederum 147 eine „Supereinheit“, die ca. 40 Prozent der globalen Unternehmensnetzwerke kontrolliert. Zu den 50 einflussreichsten Unternehmen zählen nahezu ausschließlich Banken, Fondsgesellschaften und Versicherungen. Insgesamt können drei Viertel der Firmen aus der „Supereinheit“ dem Finanzsektor zugerechnet werden. 

Zugleich verändern sich auch die Eigentümerstrukturen der Unternehmen. Lag der Anteil ausländischer Investoren am Aktienbestand von 24 DAX-Unternehmen 2005 noch bei ca. 45 Prozent, so hatte er sich 2012 bereits auf ca. 57 % erhöht (Dörre 2015). Die veränderten Eigentumsverhältnisse haben das alte Netzwerk der Deutschland AG sukzessive durch neue, transnationale Kontrollnetzwerke ersetzt. In ihnen spielen Finanzmarktakteure auch dann eine größere Rolle, wenn deren Anteile an den Unternehmen relativ gering bleiben. So kann der Verkauf eines vergleichsweise kleinen Aktienpaketes weitreichende Folgeeffekte generieren, weil es zu Kursabschlägen oder gar zu feindlichen Übernahmen kommen kann. Bereits die Androhung eines Kapitalabzugs kann genügen, um den Forderungen von Eigentümern nach raschen und hohen Renditen Nachdruck zu verleihen. 

Aus diesem Grund haben die neuen Eigentümerstrukturen drittens den Übergang zu kapitalmarkt­orientierten Formen der Unternehmenssteuerung forciert. Ungeachtet zahlreicher Variationen und Sonderentwicklungen zeichnet sich eine standardisierte Vielfalt mit einem gemeinsamen Grundmuster ab. Stets geht es darum, die Unberechenbarkeit volatiler Märkte in die strategischen Planungen exportorientierter Unternehmen zu integrieren. Es geht darum, auf Marktschwankungen nicht nur zu reagieren, sondern diese bei Investitionen, Produktionsvolumen, aber auch bei Beschäftigung und Arbeitsbedingungen so weit wie eben möglich zu antizipieren. Die Unberechenbarkeit der Märkte wird gewissermaßen zum Planungsgegenstand, die Spekulation auf die Zukunft zum Maßstab für die Flexibilität von Produktionssystemen und Beschäftigung. Die Personalplanung orientiert sich dabei an der mittleren Linie einer durchschnittlichen Auslastung. Absatzschwankungen nach oben und unten sollen durch flexibles Personal abgefedert werden. Aus dieser Perspektive wird die Festanstellung zu einer Finanzinvestition, die Kapital für Jahrzehnte bindet. Solche Investitionen sollen in unsicheren Märkten möglichst risikolos getätigt werden. Headcounts (Planungsvorgaben für Beschäftigungsäquivalente) und die strikte Budgetierung von Aktivitäten sind der zentrale Hebel, um solche Investitionen zu begrenzen. Kommt das dezentrale Management mit den zugebilligten Vollzeitäquivalenten nicht aus, so bleibt nur die Wahl, die Produktionsaufgabe mittels Fremdvergabe, Leiharbeit oder anderen Formen externer flexibler Beschäftigung zu bewältigen.

Innerhalb der Betriebe führt das zu einer dauerhaften Aufspaltung der Belegschaften. Zu den Festangestellten gesellen sich im Fall des hoch modernen BMW-Werks Leipzig Leiharbeiter, die beim gleichen Unternehmen eingestellt sind. Neben ihnen arbeiten die unbefristeten De-facto-Leiharbeiter von Subunternehmen, deren Leistungen qua Werkvertrag eingekauft werden. Diese wiederum unterscheiden sich von befristet eingestellten Leiharbeiten der gleichen Werkvertrags-Unternehmen. Auf diese Weise entsteht eine eigentümliche Stabilität instabiler Beschäftigung. Um die Stammbelegschaften der Endhersteller gruppieren sich, konzentrischen Kreisen gleich, unterschiedliche Gruppen prekär Beschäftigter, deren Löhne, Sicherheits- und Arbeitsqualitätsstandards mit wachsender Entfernung von den Kernbelegschaften sinken. Vermittelt über den Druck der Endhersteller, über Ausgründungen und Tarifdumping, wird die Kapitalmarktorientierung zum Treiber kurzfristiger Gewinnorientierungen, die prekäre, schlecht entlohnte und wenig anerkannte Arbeit ausnutzen, um Extra­profite zu generieren. 


Die Krise(n) des Finanzmarkt-Kapitalismus 
Ob sich Gewinne und Renditen mittels Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeit längerfristig stabilisieren lassen, ist keineswegs gewiss, zumal der Finanzmarkt-Kapitalismus äußerst krisenanfällig bleibt. Innerhalb des Finanzsystems existiert eine Fülle möglicher Krisentreiber. Neben dem „moral hazard“, der sich bei „Eigentümern ohne Risiko“ (Windolf 2008) feststellen lässt, sind die Intransparenz von Finanzmarktprodukten und -risiken sowie die durch die Geldpolitik verstärkten weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte eigenständige Krisentreiber. Hinzu kommen das System der Schattenbanken und dessen transnationale Verflechtungen; bankeninterne Konkurrenzen, die dazu führen, dass diejenigen Filialen den Zuschlag für Geschäfte bekommen, die einer besonders lockeren Regulierung unterliegen; die Unterstützung von Geschäften, die für Bankvorstände mathematisch intransparent sind; eine „kreative Buchführung“, die Risiken verschleiert; Unsicherheiten der buchhalterischen Vermögensbewertung bei volatilen Märkten sowie die technologische Beschleunigung von Prozessen im automatisierten, computergestützten Hochfrequenzhandel. Gemeinsam mit dem Herdenverhalten der Anleger bewirkt das einen Kontrollverlust im Finanzsektor, der die Kumulation von immer größeren Risiken fördert. Finanzmärkte tendieren nicht zum Gleichgewicht, sie wirken, so der Spekulant Georg Soros, wie der Pendelschwung einer Abrissbirne. 

Trotz dieses Störpotentials hat der Finanzmarkt- Kapitalismus mehr als 100 kleinere und größere Krisen überlebt. Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 ist die Instabilität des finanzialisierten Regimes jedoch zu einem Dauerzustand geworden. Blicken wir zurück. Der ökonomische Zusammenbruch hatte, fast unbemerkt, mit insolventen nordamerikanischen Hausbesitzern aus unteren sozialen Schichten begonnen. Aufmerksamkeit erregten die Privatinsolvenzen erst, als es sich um Angehörige der Mittelklassen handelte. Banken hatten Immobilienkredite, die an flexible Zinssätze gekoppelt waren, mittels Verbriefung breit gestreut. Doch genau diese vermeintliche Demokratisierung des Risikos erwies sich als Achillesferse des globalen Finanzsystems. 


Finanzielle Instabilität: Der Begriff geht zurück auf den Finanzkeynesianer Hyman Minsky, der darauf hingewiesen hat, dass die Geldmenge durch die Zentralbank nicht exogen gesetzt wird, sondern auch der endogenen Kreditvergabe- und Geldschöpfung der Geschäftsbanken unterliegt. Diese weist starke Schwankungen auf wie auch die Kreditnachfrage der Unternehmen und privaten Haushalte. In Boom-Phasen nimmt offenkundig die Bereitschaft zu, spekulative und sehr riskante Kredite aufzunehmen und zu vergeben, obwohl deren spätere Bedienung ungewiss ist.


Faule Kredite, die von zahlungsunfähigen Hausbesitzern nicht mehr bedient werden konnten, mündeten in die Pleite von Lehmann-Brothers und lösten eine Bankenkrise aus, die sich nicht mehr auf die USA begrenzen ließ. Erfasst wurden Kreditinstitute und Finanzmarktunternehmen, die, wie z. B. deutsche Landesbanken, über Zweckgesellschaften am Immobilienboom partizipieren wollten. Der Vertrauensverlust im Finanzsystem brachte das Interbankengeschäft und die Kreditvergabe faktisch zum Erliegen. Bankenkrise und Kreditklemme bewirkten einen Flächenbrand, der zeitverzögert auch die Produktionsökonomie erreichte. Die unterschiedlichen nationalen Krisenverläufe wurden von divergenten Institutionen, besonderen Formen des Krisenmanagements und den durch sie provozierten Protestwellen beeinflusst. Besonders heftig hatte sich die ökonomische Zäsur von 2008/09 zunächst in jenen Ländern ausgewirkt, die – wie die USA, England, Irland oder Spanien – mit einer Art Bastard-Keynesianismus versucht hatten, stagnierende Löhne durch billige Immobilienkredite zu kompensieren. Im spanischen Fall traf die Finanzkrise auf ein fragiles Wirtschaftsmodell, dessen Wachstum einseitig auf die Bauwirtschaft, den Immobiliensektor und den Tourismus ausgerichtet war. Der Krisenverlauf wurde wesentlich vom Niedergang des spekulationsgetriebenen Wachstums im Bausektor beeinflusst. Anders verlief die Krise in südosteuropäischen und baltischen Staaten, deren Wachstumsmodelle in hohem Maße auf abhängiger Finanzialisierung und privater Verschuldung beruhten. Als ab 2007 Kapitalzuflüsse ausblieben oder sich gar umkehrten und die Regierungen mit rigiden Sparpolitiken reagierten, brach die Wirtschaft ein (extrem: -20,4 % des lettischen BIP 2007-2009) und die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe. Wieder anders wirkte der Crash in exportstarken Ländern, die, wie Deutschland mit einem Rekord-Negativwachstum von -4,7 % des BIP im Jahr 2009, vom Rückgang der Auslandsnachfrage in die Rezession getrieben wurden. Rohstoff exportierende Länder, allen voran Russland, sahen sich wegen des weltweiten Einbruchs der industriellen Produktion mit fallenden Weltmarktpreisen für ihre wichtigsten Exportgüter konfrontiert. Und selbst große Flächenstaaten wie China und Indien, die nicht vollständig in das globale Finanzsystem integriert waren, entgingen der Krise nicht vollständig; allein China verlor 20 Mio. Jobs. 

Während die Konjunktur in China und anderen aufstrebenden Ökonomien des globalen Südens rasch wieder anzog, nahm die Krise in Europa einen anderen Verlauf. In der Eurozone trafen die Auswirkungen des Crashs auf ein zerbrechliches suprastaatliches Gebilde, das Länder mit stark differierender Wirtschaftsleistung in einen einheitlichen Wirtschaftsraum mit Gemeinschaftswährung integrierte. Mit Hilfe der Europäischen Union war es den Regierungen gelungen, auf der suprastaatlichen Ebene Handlungszwänge zu implementieren, die dann in Gestalt marktzentrierter Politiken national als vermeintliche Sachzwänge exekutiert werden konnten. Währungsunion und Euro bedeuteten die Vollendung dieses Projekts. Auch weil sie den Staaten die Möglichkeit genommen haben, Wettbewerbsdefizite mittels Abwertung ihrer nationalen Währung auf Zeit auszugleichen, bleibt den schwächeren Ökonomien als Instrument nur der ständige Druck auf Löhne und Sozialstandards. In ihrem Bestreben, angeschlagenen Kreditinstituten das Überleben zu sichern, hatten die europäischen Staaten bei hoher Arbeitslosigkeit und dadurch bedingten Steuerausfällen teilweise dramatische Neuverschuldungen in Kauf genommen. Für kostspielige Rettungsmaßnahmen, die sie über Kredite finanzierten, wurde ihnen anschließend von Finanzmarktunternehmen, die im Angesicht der Krise lauthals nach Staatsintervention gerufen hatten, die Rechnung präsentiert. Die Misstrauenserklärung der Finanzmärkte bestrafte vor allem die Nehmerländer von Finanzhilfen in Süd- und Osteuropa mit sinkender Kreditwürdigkeit und steigenden Zinsen. Auf diese Weise wurde die griechische Krise zur Geburtshelferin eines europäischen Konsolidierungsregimes. Aufgrund der fiskalpolitischen Gegenmaßnahmen hat sich ein „Konsolidierungsstaat“ herausgebildet, der Schuldenabbau und Haushaltsdisziplin oberste Priorität einräumt. Das europäische Staatensystem und die kapitalistische Ökonomie formieren sich neu – und zwar „ohne Betäubung“, wie Wolfgang Streeck (2013, 166) sarkastisch formuliert. 

Von der Schockwirkung dieser Krise haben sich vor allem die Staaten an der südeuropäischen Peripherie bis heute nicht erholt. Einem harten Austeritätsdiktat ausgesetzt, werden prekäre Arbeits- und Lebensformen dort zum Mehrheitsschicksal (Bieling/Buhr 2015). Die Arbeitslosigkeit bleibt hoch, Löhne und Renten sind z. T. dramatisch gesunken, Tarifverträge und Kündigungsschutz werden ausgehebelt und dennoch gelingt es nicht, die Schulden nennenswert zu senken. Der gesamten Eurozone droht eine säkulare Stagnation, die die Ungleichheit innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion weiter anwachsen lassen dürfte. Daran zeigt sich: Die Krisenproblematik der frühen 1970er Jahre, aus der heraus der Finanzmarkt-Kapitalismus entstand, hat sich faktisch umgekehrt. Von einer Profitklemmen-Krise, die aus Elitensicht durch starke Gewerkschaften und Linksparteien ausgelöst wurde, kann in der Gegenwart keine Rede sein. Stattdessen hat die übermäßige Macht des Finanzkapitals zu einer allgemeinen Schwächung von sozialen Regeln und Institutionen geführt, die als Voraussetzung für funktionierende Märkte eigentlich unabdingbar sind. Geschwächte Gewerkschaften, erodierende wohlfahrtsstaatliche Sicherungen und das europäische Austeritätsregime erzeugen mit struktureller Nachfrageschwäche und deshalb fehlenden profitablen Anlagemöglichkeiten in der Produktionsökonomie eine Barriere dynamischer Kapitalakkumulation, die den Keim einer neuen großen Krise bereits in sich trägt. 

Auf eine solche Krise sind weder Deutschland noch die anderen europäischen Staaten gut vorbereitet, denn seit dem globalen Crash ist politisch nicht viel geschehen. Zwar hat es Verbesserungen beim Verbraucherschutz, der Bankenaufsicht und -kontrolle sowie bei den Eigenkapitalanforderungen für Kreditinstitute gegeben. Doch wirksame Maßnahmen zur Entschuldung der Krisenländer, zur Bankenregulierung und zur Eindämmung des Schattenbanksystems stehen ebenso aus wie Maßnahmen zur Abschöpfung und demokratischen Umverteilung des längst unproduktiven Reichtums. Vorschläge für eine Bändigung des Finanzmarkt-Kapitalismus liegen seit langem auf dem Tisch. Dazu gehören: progressive Steuern auf vererbte Vermögen, die das Recht auf Eigentum in ein Recht auf Zeit verwandeln, die politische Kontrolle der Staatsfonds, eine progressive Einkommensteuer, demokratisch gesteuerte Zentralbanken, globale Transparenz in den Steuerverwaltungen, einmalige Vermögensabgaben der Geldeigentumsbesitzer, eine europäische Steuerpolitik sowie die Nutzung der so gewonnen Finanzmittel für globale Investitionen in den Klimaschutz sowie zur Bekämpfung von Hunger und absoluter Armut (Piketty 2014). An Ideen zur Bändigung des Finanzmarkt-Kapitalismus herrscht kein Mangel, es fehlt der politische Wille, Strukturreformen durchzusetzen. Solange das so ist, müssen wir den Finanzmarkt-Kapitalismus und seinen Krisen fürchten.



Literatur

Bieling, Hans-Jürgen/Buhr, Daniel (Hrsg.) 2015: Europäische Welten in der Krise. Arbeitsbeziehungen und Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Frankfurt/M./New York.
Dörre, Klaus 2015: Beyond Shareholder Value? The Impact of Capital Market-Oriented Business Management on Labor Relations in Germany. In: Weller, Christian E. (Hrsg.): Inequality, Uncertainty, and Opportunity. The Varied and Growing Role of Finance Relations. Ithaka, S. 85-117.
Hilferding, Rudolf 1974 [1910]: Das Finanzkapital. Basis Studienausgaben. Eingeleitet von Eduard März. Köln.
Holst, Hajo 2012: Die Konjunktur der Flexibilität – zu den Temporalstrukturen im Gegenwartskapitalismus. In: Dörre, Klaus/Sauer, Dieter/Wittke, Volker (Hrsg.): Kapitalismustheorie und Arbeit. Neue Ansätze soziologischer Kritik. Frankfurt/M., S. 222-239.
Huffschmid, Jörg 2002: Politische Ökonomie der Finanzmärkte. Hamburg.
Krysmanski, Hans-Jürgen 2012: 0,1 Prozent. Das Imperium der Milliardäre. Frankfurt/M.
Minksy, Hyman 2011: Instabilität und Kapitalismus. Zürich/Berlin. Oxfam 2016: Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen. Berlin.
Piketty, Thomas 2014: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München.
Streeck, Wolfgang 2013: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012. Berlin.
Vitali, Stefania/Glattfelder, James B./Battiston, Stefano 2011: The network of global corporate control. In: PloS one Nr. 6, S. 1-36.
Windolf, Paul (Hrsg.) 2005: Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen. Wiesbaden.
Windolf, Paul 2008: Eigentümer ohne Risiko. Die Dienstklasse des Finanzmarkt-Kapitalismus. In: Zs. f. Soziologie, Jg. 37, H. 6, S. 516-535.


Zitation
Dörre, Klaus & Rackwitz, Hans (2016). Finanzmarkt-Kapitalismus. Entstehung, Dynamik, Krisenpotentiale, in: POLITIKUM 2/2016, S. 4-16. 

Im Abonnement kein Heft verpassen

Ein Beitrag aus