Im Schatten des Wohlfahrtsstaates
Eine Gabe zu bekommen, bedeutet Abhängigkeit von den Gebenden. Tafeln, Suppenküchen oder Kleiderkammern gehören inzwischen scheinbar selbstverständlich zur Unterstützungsstruktur im Fall von Armut oder Überschuldung in Deutschland. Diesen Sachverhalt unhinterfragt stehen zu lassen, würde bedeuten, hinzunehmen, dass ein Teil der wohlfahrtsstaatlichen Armutsbekämpfung durch solche Angebote ersetzt wird. Denn tatsächlich gedeiht im Schatten des bestehenden Wohlfahrtsstaats eine eigene Form der Armutslinderung, die als „neue Mitleidsökonomie“ beschrieben werden kann: Mitleid und Gabe ersetzen den sozialrechtlichen Anspruch auf Hilfe im Notfall.
Knapp 20 Jahre später hat sich diese Praxis weiter ausgebreitet. Zwar gibt es auch im Jahr 2023 noch keine offizielle Zählung der Angebote von Tafeln und keine offiziellen Informationen zur Zahl der bundesdeutschen Suppenküchen, Kleiderkammern oder Sozialkaufhäuser. Doch schon vor knapp zehn Jahren war klar, wie Melanie Oechler und Tina Schröder (2015) nachgewiesen haben, dass bundesweit viele Tausend solcher Angebote der Armutslinderung existieren und diese für viele Menschen längst eine alltägliche Überlebenshilfe darstellen. Erste bundesweite Analysen zeigen inzwischen, dass allein die Tafeln 2020 von über einer Million Personen genutzt wurden, also von mehr als einem Prozent der Menschen in deutschen Privathaushalten. Das ist der Befund einer Auswertung von Daten aus dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) durch Markus Grabka und Jürgen Schupp (2022). Nutzer*innen der Tafeln sind überdurchschnittlich von Armut betroffen und beziehen sehr viel häufiger Grundsicherung als der Durchschnitt der Bundesbürger*innen. Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern und viele Sozialkaufhäuser stellen eben Angebote für Menschen in Not dar.
Warum sich diese Angebote dennoch selbst abschaffen sollten, macht Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in einem Tweet am 16. November 2022…
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