Im Interview

Branko Milanović arbeitete 20 Jahre für die Weltbank und ist seit 2014 Professor am City University of New York Graduate Center. Er ist einer der weltweit führenden Öko­­no­m*in­nen auf dem Feld der sozialen Ungleichheit. 

Das Interview führte und übersetzte Ina Schildbach.

Interview mit Branko Milanović: Vom Privileg, im „richtigen“ Land geboren zu sein

POLITIKUM: Herr Milanović, im Hinblick auf Ihre umfassenden Studien zur globalen Ungleichheit möchte ich den Aspekt ansprechen, den man als „Staatsbürgerschafts-Privileg“ (citizenship premium) bezeichnen kann. Zunächst jedoch allgemeiner: Meiner Wahrnehmung nach existiert in Deutschland ein breites Bewusstsein dafür, dass die soziale Herkunft – also der sozioökonomische Status des Elternhauses – die Positionierung eines Individuums in der Gesellschaft maßgeblich prägt. Diesen Befund stützen auch Ihre Studien?

Branko Milanović: Ja, wir versuchen zu ermitteln, ein wie großer Teil des Einkommens dadurch bestimmt ist, als Kind reicher Eltern geboren zu werden. Dazu verwenden wir die Daten zur intergenerationalen Einkommensmobilität in den einzelnen Ländern, d. h. die Korrelation zwischen den Einkommensklassen der Eltern und der Kinder. Es gibt Länder, die eine sehr geringe intergenerationelle Mobilität aufweisen. In diesem Fall stammen die Menschen, die wir heute in der höchsten Einkommensklasse des Landes beobachten, fast ausschließlich von Eltern ab, die selbst zu den hohen Einkommensklassen gehörten. Das Gegenteil ist der Fall, wenn die soziale Mobilität in einem Staat hoch ist. Dann stammen die Menschen, die wir heute in der obersten oder untersten Einkommensklasse beobachten, von Eltern ab, die zufällig entlang der Einkommensverteilung verteilt sind. Im wirklichen Leben nehmen die meisten Länder ein breites Spektrum zwischen diesen beiden Extrempositionen ein. Aus den Daten kann man auf den Teil des Einkommens einer Person schließen, der auf den familiären Hintergrund zurückzuführen ist. Ein weiterer, in der Regel größerer Teil in der sozialen Positionierung ist darauf zurückzuführen, dass man in einem bestimmten Land geboren wurde. Reiche Länder bieten etwas, das man als „Staatsbürgerschafts-Privileg“ (citizenship premium) oder Standortprämie bezeichnen kann, arme Länder hingegen eine „Staatsbürgerschafts-Strafe“ (citizenship penalty) bzw. eine Standortstrafe.

POLITIKUM: Diese Daten nutzen Sie, um zu zeigen, wie groß der Teil des Einkommens einer Person ist, der durch Geburt bestimmt ist. Schließlich hat man keinerlei Einfluss auf den sozialen Status des Elternhauses, genauso wenig wie auf den zweiten Faktor, den Geburtsort. In Ihrem Buch „The Haves and the Have-Nots“ werfen Sie in einem der Texte deswegen die Frage auf: „How Much of Your Income is Determined at Birth?“ Wie beantworten Sie die Frage?

Branko Milanović: Mit Hilfe dieser beiden Informationen, nämlich dem familiären Hintergrund und dem Geburtsort einer Person, können wir mehr als 80 Prozent des langfristigen Einkommens einer Person erklären. Der Geburtsort – oder genauer gesagt die Staatsbürgerschaft – ist „Schicksal“, es sei denn, die Person ist in der Lage, in ein anderes Land zu ziehen. Den ärmsten Amerikaner*innen zum Beispiel geht es besser als mehr als zwei Dritteln der Weltbevölkerung. Wir könnten noch viele weitere Beispiele anführen, die die Bedeutung dieses Faktors unterstreichen. Nur fünf Prozent der Kameruner*innen beispielsweise haben ein höheres Einkommen als die ärmsten Deutschen. Das Einkommen hängt also entscheidend von der Staatsbürgerschaft ab, und das wiederum bedeutet – in einer Welt mit eher geringer internationaler Migration –, dass es durch den Geburtsort bestimmt ist. Alle Menschen, die in reichen Ländern geboren sind, erhalten eine Standortprämie, alle, die in armen Ländern geboren sind, eine Standortstrafe.

POLITIKUM: Zusammengefasst: Dieses Staatsbürgerschaftsprivileg für diejenigen, die an den „richtigen“ Orten geboren sind, sowie die Staatsbürgerschaftsstrafe für diejenigen, die an den „falschen“ Orten geboren sind, bestimmt den Status eines Individuums viel mehr als die jeweilige „Klasse“, in die man geboren wird?

Branko Milanović: Ja. Historisch gesehen war das Element des Geburtsortes fast vernachlässigbar. Im Jahr 1820 zum Beispiel waren nur 20 Prozent der weltweiten Ungleichheit auf Unterschiede zwischen den Ländern zurückzuführen. Das liegt daran, dass die Einkommensunterschiede zwischen den BIPs der reichen und der armen Länder gering waren. England und die Niederlande, die damals die reichsten Länder waren, hatten ein gerade dreimal so hohes Einkommen wie China und Ceylon, die damals die ärmsten Länder waren. Heute beträgt der Abstand zwischen den Vereinigten Staaten und dem Kongo mehr als 150 zu 1. Der größte Teil der weltweiten Ungleichheit resultierte in der Vergangenheit aus den Unterschieden innerhalb der Länder. Es war die Klasse, auf die es ankam. Wohlhabend zu sein, bedeutete in dieser Welt, in eine hohe Einkommensgruppe eines Landes hineingeboren zu sein. Doch das änderte sich im Laufe des nächsten Jahrhunderts völlig. Die Proportionen kehrten sich um: Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hingen 80 Prozent der weltweiten Ungleichheit davon ab, in welchem Land man geboren wurde und wer die eigenen Eltern waren.

POLITIKUM: Und die restlichen 20 Prozent, die Sie erwähnten? 

Branko Milanović: Die restlichen 20 Prozent oder weniger sind auf andere Faktoren zurückzuführen, auf die eine einzelne Person keinen Einfluss hat – wie Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund, glückliche Umstände – sowie auf die Faktoren, auf die sie Einfluss hat: Leistung oder harte Arbeit. Grob gesagt könnte man sagen, dass die Hälfte des Einkommens vom Geburtsort abhängt, ein Viertel vom familiären Hintergrund (Wohlstand und sozialer Status der Eltern) und das letzte Viertel von Alter, Migrationshintergrund, Arbeit und glücklichen Umständen. Unter „glücklichen Umständen“ versteht man das einfache Glück, einen Freund zu treffen, der einem einen Job verschafft, oder einen Lottogewinn. Es hat nicht viel mit dem glücklichen oder weniger glücklichen Zufall der Geburt zu tun.

POLITIKUM: Die eigene Leistung ist also lediglich eine unwichtige Determinante? Das kontrastiert, wie mir scheint, frappierend mit dem öffentlichen Bewusstsein gerade in Deutschland. Leistungsgerechtigkeit stellt einen wichtigen Wert dar, auf den sich unsere Gesellschaft aufbaut. Rechnen wir uns also unser Einkommen als einen eigenen Verdienst zu, obwohl Leistung und Arbeitseifer in Wahrheit kaum eine Rolle spielen? 

Branko Milanović: Unsere Daten zeigen in der Tat, dass der Anteil, der für die eigene Leistung übrig bleibt, sehr gering ist. Ja, man kann sich anstrengen, um die eigene Position in einem bestimmten Land zu verbessern, vorausgesetzt, dieses Land hat eine erträgliche Einkommensmobilität zwischen den Generationen. Aber diese Bemühungen haben oft nur einen winzigen Einfluss auf die globale Einkommensposition der einzelnen Person. Wohlgemerkt, ich spreche hier von der globalen Position eines Menschen. Eine Person in Deutschland kann versuchen, ihre Position innerhalb der Gesellschaft durch eigene Anstrengung zu verbessern, indem sie vom beispielsweise fünften Dezil ins achte Einkommensdezil aufsteigt. Das ist beeindruckend – aber nicht, wenn man es aus einer globalen Perspektive betrachtet. Selbst das fünfte deutsche Dezil ist im weltweiten Maßstab weit oben platziert, und die Bewegung vom fünften zum achten Dezil ist zwar eine Verbesserung, würde aber auf der globalen Skala kaum ins Gewicht fallen. Und das Argument des Arbeitsaufwands ist empirisch nicht sehr stichhaltig, denn wir wissen, dass die Zahl der Arbeitsstunden für einen bestimmten Beruf in armen Ländern höher ist, obwohl die Menschen dort weniger verdienen. Vergleicht man dieselben Berufe mit gleichem oder höherem Arbeitsaufwand in armen Ländern, so stellt man immer noch sehr große Unterschiede bei den Reallöhnen in den verschiedenen Ländern fest. Betrachten wir drei Berufe mit bestimmtem Qualifikationsniveau – Bauarbeiter*innen, Industriefacharbeiter*innen und Ingenieur*innen – in fünf Städten, zwei reichen (New York und London) und drei armen (Peking, Lagos und Delhi). Der Reallohnunterschied pro Stunde, d. h. pro Arbeitseinheit, zwischen den reichen und den armen Städten beträgt 11 zu 1 für Bauarbeiter*innen, 6 zu 1 für Facharbeiter*innen und 3 zu 1 für Ingenieur*innen. In dieser Studie ist in allen fünf Städten sowohl das Qualifikationsniveau als auch der Arbeitsaufwand gleich hoch und wir haben die Unterschiede im Preisniveau bereinigt. Das Argument, dass die Menschen in den reichen Ländern mehr verdienen, weil sie mehr arbeiten oder besser ausgebildet sind, kann also mit Fug und Recht gänzlich zurückgewiesen werden.

POLITIKUM: Eine Person kann also kaum etwas tun, um ihre Position zu verbessern?

Branko Milanović: Es gibt drei Möglichkeiten, wie man die eigene globale Einkommensposition verbessern kann. Erstens die eigene Leistung. Diese kann, ebenso wie glückliche Umstände, eine Person in der nationalen Position nach oben bringen, wenn ihre Gesellschaft eine gewisse Einkommensmobilität „akzeptiert“. Aus globaler Sicht kann dies jedoch keine große Rolle spielen, da mehr als 80 Prozent der globalen Einkommensschwankungen auf die bei der Geburt gegebenen Umstände – eben Staatsbürgerschaft und elterliches Vermögen – zurückzuführen sind. Dieser Weg kann also allenfalls sehr bescheidene Ergebnisse liefern. 

POLITIKUM: Und worin bestehen die beiden anderen Möglichkeiten, um die globale Einkommenssituation zu verbessern?

Branko Milanović: Der zweite Weg besteht in der Hoffnung darauf, dass das eigene Land in der Staatenhierarchie aufsteigt. Das Land wird sich dann weiter oben in der globalen Hierarchie positionieren und sozusagen die gesamte Bevölkerung mitreißen. Wenn die Person das Glück hat, dass ihre eigene Anstrengung – also die Aufwärtsbewegung in der nationalen Position – mit einer Aufwärtsbewegung der Position des Landes verbunden ist, kann sie in der globalen Einkommensverteilung erheblich aufsteigen. Diese Erfahrung machen heute viele junge Chines*innen. Sie verbessern ihre relative Position innerhalb des Landes, und obendrein verbessert das Land seine globale Position. Sie werden also von zwei Kräften nach oben getragen. Das Gegenteil gilt natürlich für Menschen, denen es gelingt, ihre eigene Position durch harte Arbeit zu verbessern, denen es aber in ihrem Land schlecht geht und deren Staat sogar global zurückfällt. Oder – eine letzte Möglichkeit – jemand könnte versuchen, „abzuspringen“, d. h. aus einem ärmeren Land in ein reicheres zu wechseln. Selbst wenn er oder sie nicht am oberen Ende der Einkommensverteilung des neuen Staates landet, kann man doch erheblich gewinnen. Es gibt also drei Möglichkeiten: die eigene Anstrengung, die gute Entwicklung des Landes und die Migration. Man sollte jedoch bedenken, dass die eigene Anstrengung nur eine geringe Rolle spielt. Und da man das BIP-Wachstums seines Landes nicht beeinflussen kann, bleibt als einzige realistische Alternative die Migration.

POLITIKUM: Was die Migration anbelangt, haben Sie in Ihrem Buch „Global Inequality“ gezeigt, dass physische Barrieren für die Bewegung von Menschen vor allem dort existieren, wo die arme und die reiche Welt räumlich nahe beieinander sind.

Branko Milanović: Ganz genau. Es gibt einen grundlegenden Widerspruch im Herzen der Globalisierung, wie sie heute existiert. Im weitesten Sinne bedeutet Globalisierung die nahtlose Bewegung von Produktionsfaktoren, Waren, Technologien und Ideen über die ganze Welt hinweg. Doch während dies für Kapital, Warenexporte und -importe zutrifft, gilt dies nicht für Arbeitskräfte. Der weltweite Bestand an Migrant*innen, gemessen als Anteil an der Weltbevölkerung, ist zwischen 1980 und 2010 nicht gestiegen.

POLITIKUM: Ihre Forschungsergebnisse scheinen zentrale Vorstellungen über unsere Gesellschaft zu erschüttern. Sie werfen meines Erachtens fundamentale Fragen der Gerechtigkeit und der Legitimation – auch des eigenen Platzes in der Welt – auf, die sich jede*r selbst stellen sollte. Ich danke Ihnen für diese wichtigen Einblicke in Ihre Arbeit.

Branko Milanović: Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und das Gespräch.

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