Der Autor

Prof. Dr. Michael Gehler lehrt Neuere und Neueste Deutsche und Europäische Geschichte an der Stiftung Universität Hildesheim und ist Leiter des dortigen In­s­ti­­tuts für Geschichte. Zudem ist er Jean Monnet-Chair für die Geschichte Europas und seiner Integration und seit 2021 Prof. an der Andrássy Univ. Budapest.

Keine NATO an der russischen Grenze – nur Legende und Propaganda?

Die Streitfrage, ob der Westen hinsichtlich der Ausdehnung der Nato nach Osten der Führung der UdSSR 1990/91 gegenüber wortbrüchig geworden ist, wird im Lichte des Kriegs gegen die Ukraine kontrovers geführt, zumal das Thema als Rechtfertigung dafür benutzt wird. Lässt sich der Widerspruch zwischen der russischen Erzählung von einem nicht eingehaltenen Versprechen und dem westlichen Narrativ, wonach es nie eine vertragliche Vereinbarung dazu gegeben hat, auflösen?

Am 31. Januar 1990 sprach Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der Evangelischen Akademie in Tutzing. Für die DDR regte er eine Österreichlösung an und versicherte: Was immer im Warschauer Pakt geschehe, „eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, d. h. näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben“. Von „Sicherheitsgarantien“ war die Rede, die „für die Sowjetunion und ihr Verhalten bedeutsam“ seien. Am 6. Februar sagte er zum britischen Außenminister Douglas Hurd: „Wir selbst wollten das Nato-Territorium nicht ausdehnen, wir wollten aber auch nicht die Nato verlassen.“ US-Außenminister James Baker erklärte am 9. Februar im Kreml gegenüber KPdSU-Generalsekretär Michail S. Gorbatschow in Bezug auf Deutschland: „Wir [die USA, M.G.] verstehen, dass es nicht nur für die Sowjetunion, sondern auch für die anderen europäischen Länder wichtig ist, Garantien dafür zu haben, dass – wenn die Vereinigten Staaten ihre Anwesenheit in Deutschland im Rahmen der Nato aufrechterhalten – die Jurisdiktion oder militärische Präsenz der Nato in östlicher Richtung um keinen Zoll ausgedehnt wird. Wir sind der Meinung, dass die Konsultationen und Beratungen im Rahmen des ‚2+4‘-Mechanismus Garantien dafür geben müssen, dass die Vereinigung Deutschlands nicht zu einer Ausdehnung der militärischen Organisation der Nato nach Osten führt.“ 

Versicherungszusagen zur Vertrauensbildung
Bemerkenswert war, dass Baker das Wort „Jurisdiktion“ benutzte. Er versicherte Gorbatschow Konditionalität, wonach sich die Nato „nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen“ werde, wenn die Sowjetunion der Nato-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands zustimmen würde. Baker schrieb Bundeskanzler Helmut Kohl von der Reaktion Gorbatschows auf die rhetorisch verlockende Frage in einem Brief: „Wäre Ihnen ein vereinigtes Deutschland außerhalb der Nato, unabhängig und ohne Streitkräfte lieber, oder würden Sie ein Deutschland im Rahmen der Nato bevorzugen, begleitet von der Zusage, dass sich die Jurisdiktion der Nato nicht einen Zentimeter ostwärts von ihrer jetzigen Position bewegt?“ Gorbatschow habe geantwortet: „Jedwede Ausdehnung der Nato wäre sicherlich inakzeptabel.“ Bakers Zusicherung war Ausdruck eines zusammen vereinbarten westlichen Zugehens auf die Sowjetführung. Am gleichen Tag versicherte der stellvertretende Sicherheitsberater Robert Gates KGB-Chef Wladimir Kruitschkow das, was Baker Gorbatschow zusagte: die Nato werde…

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