Der Autor

Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, seit 2006 Direktor der NRW School of Governance und Geschäftsf­ührender Herausgeber der Zeitschrift für Politikwissenschaft – Journal of Political Science.

Kopf oder Zahl?

Die Politikwissenschaft sieht sich an vielen Universitäten als wissenschaftliche Produktionsstätte neuer Demokratie-Geschichten. Gerade jetzt wäre es an der Zeit zu zeigen, was eine öffentliche Wissenschaft besonders auszeichnet: sich einbringen in eine wichtige gesellschaftliche Debatte zur Zukunft unserer digitalen Nachhaltigkeitsgesellschaft.


In seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ erzählt Daniel Kehlmann erfindungsreich die Lebensgeschichten des Mathematikers Carl Friedrich Gauß und des Naturforschers Alexander von Humboldt. Beide wollen den Dingen auf den Grund gehen, beide suchen nach nachvollziehbaren Begründungen. Beobachtung und Begriffsbildungen stehen im Vordergrund – nicht Mathematik und Experiment. Geradezu geisteswissenschaftlich ringen beide Protagonisten um Konzepte und deren Erklärungskraft für kulturelle und historische Entwicklungen. Ihre Experimente sind häufig Gedankenexperimente und die von Gauß teils durch pures Nachdenken entwickelten Konzepte müssen sich letztlich aus zuverlässigen Quellen und begrifflichen Zusammenhängen ergeben. Daniel Kehlmann schafft in seinem Roman eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, was an deutschen Universitäten nur selten gelingt. 

Wir lieben das Messbare 
Die Konzentration der Öffentlichkeit auf Natur-, Technik- und Ingenieurwissenschaften, von denen unmittelbare Verwertbarkeit erwartet wird, bringt unter Wettbewerbsbedingungen Nachteile für die Politikwissenschaft. Wo ist das konkrete Berufsbild? Wie kann man politikwissenschaftliche Ergebnisse quantitativ evaluieren? Wenn schon die Beantwortung solcher Fragen schwerfällt, dramatisieren sich die traditionellen Probleme: steigende Studierendenzahlen, wachsende Überlast bei gleichzeitiger Reduktion des wissenschaftlichen Personals. Letztlich leiten sich die flächendeckend angewandten Evaluationskriterien interessengeleitet von den naturwissenschaftlichen Fächern ab. Die sogenannten Buchwissenschaften können aber in der Breite eine unmittelbare Effizienz und Anwendungsrelevanz anderer Fächerkulturen nicht bieten. Als Reaktion auf diese Herausforderungen mutieren seit Jahren große Teilbereiche der Sozialwissenschaften zu methodologischem Szientismus: quasinaturwissenschaftliche Methoden sollen über mathematische Verrechnungen punktuelle Erkenntnisgewinne bringen und so den Empirismus fördern. 

Komplexe soziale Phänomene können mit diesem Verständnis allerdings nicht erklärt werden. Was ist mit Gestaltungs- und Orientierungswissen? Politikwissenschaft – und vor allem die moderne Regierungsforschung – kann zum Verständnis gegenwärtiger Transformationsprozesse beitragen. Theoretisches und anwendungsbezogenes Wissen müssen dabei kombiniert werden. Statistische Verfahren gehören genauso dazu wie hermeneutische Erklärungen des Politischen. Doch die Anreizsysteme des Wissenschaftsbereichs honorieren bislang einseitig: Wir lieben das Messbare aus Mangel an Maßstäben! Was könnten Auswege sein? Als eine Antwort darauf, haben sich in der Politikwissenschaft Professionals Schools und Governance-Einrichtungen etabliert. Sie sind eine Reaktion auf veränderte Formen von Staatlichkeit. Sie verbinden professionelle Orientierung und akademische Exzellenz. Sie generieren Gestaltungswissen durch wissenschaftlich reflektierten Praxisbezug. 

In Master-Formaten bieten sie konkrete Ausbildungen für die neue administrative und politische Elite. Die NRW-School of Governance hat sich beispielsweise auf die inhaltliche Verbindung von Politikmanagement und Public Policy spezialisiert. In solchen Ausbildungen spielen interdisziplinäre Module, Berufsbezogenheit, Internationalität und Kooperation mit der Wirtschaft eine wichtige Rolle. Dies ist eine Teilantwort auf die Frage, wie sich Sozialwissenschaften modernisieren können, ohne sich im Kern aufzugeben. 

Neue Orte des Politischen
Die Stärke der Regierungsforschung ist die Problembeschreibung. Demokratische Regierungen müssen Führung ausüben und wachsenden Ansprüchen an demokratische Responsivität und Legitimität genügen. Zugleich steht die neue formative Phase des politischen Entscheidens unter dem permanenten Druck wachsender Komplexität. Neue Orte des Politischen und technokratische Politikgestaltung setzen das etablierte Institutionen-Setting unter Druck. Und doch zeigt sich gerade in zahlreichen Krisensituationen der letzten Jahre, dass die Machtressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten der etablierten Politik und insbesondere der Exekutiven nicht zu unterschätzen sind. Der Regelungsanspruch der Politik existiert und er wird eingefordert. Neben den neuen Orten der Politik existieren immer noch die alten Orte des politischen Entscheidens. Es gibt weiterhin die klassische Government-Perspektive, nicht nur neuartige Governance-Strukturen. Die Corona-Politik zeigte die Renaissance von Staatlichkeit. Die neuen Konturen des Regierens sind dabei hybrid. Das Hybride besteht unter anderem in der Verbindung von verdecktem und offenem Politikmanagement, dem Zusammenspiel von formalen und informellen Prozessen, von diplomatischem Druck und wirtschaftlichem Zwang, von Desinformation und strategischer Regierungskommunikation. Es ist das Ineinandergreifen von demokratisch legitimierter Exekutive und demokratisch nicht legitimierten Institutionen und Akteuren. Es ist zugleich gesellschaftliche Selbststeuerung und „Chefsachen-Management“. Es ist das Verwischen von Regieren und Nicht-Regieren. Beides existiert nebeneinander: Hierarchie und Netzwerk. Die Kunst der Führung besteht im Wechseln zwischen diesen unterschiedlichen Steuerungsformen. 

Paradoxien der Regierungsforschung 
Wenn alles Wissen beobachterabhängig ist – wie beobachten wir nun professionell das Regieren und die „Regierung“? Der Abstand der Beobachter zum Untersuchungsgegenstand ist in den letzten Jahrzehnten größer geworden. Das ist ein paradoxer Befund, denn Methoden und Instrumente der empirischen Sozialforschung haben sich verfeinert. Angewandte Politikforschung hat sich neben der Grundlagenforschung etabliert. Studiengänge und Graduiertenkollegs produzieren qualifizierten Nachwuchs im Bereich der Regierungsforschung. Und doch könnten wir viel mehr wissen, als wir zu wissen glauben. Beispielsweise verschwindet das Untersuchungsobjekt leise, aber stetig. Die Regierungspraxis wird informeller und hinterlässt immer weniger Spuren im Politikmanagement – im Vorfeld der parlamentarischen Entscheidung. Das ist paradox. Je mehr neue Kommunikationsmittel politisch genutzt werden, desto höher steigt der Grad an Informalität und die Dichte des Kommunikationsflusses. Zugangsbeschränkte Kommunikation im Intranet der politischen Organisationen erschwert die Analyse von Vorgängen. Problematisch sind zudem die unter dem „Leaks“-Diskurs entstandenen neuen Spielregeln der strukturlosen Online-Öffentlichkeit. Hier erwächst der Eindruck, dass durch eine potenzielle Tyrannei der Transparenz jede Form der politischen Vereinbarung erschwert wird. Ohne Vertraulichkeit können keine Verhandlungen geführt werden. Die neuen Spielregeln politischer Öffentlichkeit lassen die politischen Akteure taktisch verstummen. 

Ein weiteres Beispiel: Die Beobachtung des Regierens ist einseitig – nicht normativ, aber methodologisch. Es gilt: Wir sehen nur, was wir messen. Was nicht messbar ist, existiert nicht? Was nicht messbar erscheint – also nicht positivistisch dem Tabellen-Denken entspricht und zählbar ist – gelangt gar nicht mehr in den Interessenfokus des Forschers und wird folglich nicht analysiert. Im Dualismus von Kopf oder Zahl belohnt der wissenschaftliche Mainstream nur noch die Zahl. Das engt nicht nur den Untersuchungsblick ein, sondern banalisiert auch die machtpolitische Komplexität von Politikmanagement.

Die Beispiele aus dem Kontext der Regierungsforschung zeigen die Probleme, mit denen am Erkenntnisgegenstand zu arbeiten ist. Das beantwortet allerdings nicht ausreichend die Frage nach der Relevanz der Politikwissenschaft. Was ist wissenschaftlich relevant? Woher nehmen wir die Arroganz wissen zu können, ob das Untersuchungssetting wissenschaftlich relevant ist? Relevanz darf kein Kriterium von Forschung werden. Intrinsisch und ohne Nutzen-Absicht konzentriert sich der Forscher auf einen möglichen Erkenntnisfortschritt. Das markiert Motiv und Richtung des Einsatzes – nicht eine potentielle Relevanz. 

Wissenschafts-Autismus vermeiden 
Anders ist das Argument im Hinblick auf die Aufstellung des Faches. Politikwissenschaft, die unsere politische Welt beschreibt und erklärt, sollte nicht freiwillig auf die Möglichkeiten verzichten, über die Ergebnisse der Forschung öffentlich relevant zu kommunizieren. Dem kann sie nur entgehen, wenn sie keinem Wissenschafts-Autismus anheimfällt. Gemeint ist damit eine selbstbezügliche, inklusive, oft esoterische Sprache. Sie dient dazu, sich mit sich selbst zu unterhalten. Publikumsferne Formulierungen schützen zudem vor Kritik. Ein weiteres Argument kann angefügt werden. Es ist nicht nur die Sprache, sondern auch die Methode, die eine Relevanz-Thematik für ein gesamtes Fach aufwirft. Gemeint ist die Mathematisierung des politikwissenschaftlichen Denkens. Das „Metrische Wir“ (Mau) dominiert auch die Politikwissenschaft. Die Sehnsucht vermeintliche Fakten präsentieren zu können, führt zu Dauer-Anleihen naturwissenschaftlicher Herangehensweisen. Fakten, die Verlässlichkeit und Eindeutigkeit mit Zahlen suggerieren. Doch gerade als Sozialwissenschaftler müssten wir wissen, dass dahinter nur der Anschein der Beschreibung von Realität liegt, die wesentlich komplexer ist, und dass wir in der Regel auch gar nicht erfahren, welchen Annahmen die Fragestellungen für die Messungen folgen. 

Vielleicht kann man auch noch ein weiteres Argument bemühen, mit dem Politikwissenschaftler im Alltag häufig konfrontiert sind. Finden wir Neues heraus, was man mit „normalem Menschenverstand“ nicht längst schon weiß? Die Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf führt gerne dazu, dass Ergebnisse sprachlich so verfremdet werden, dass sie nur die Fachwelt versteht. Graf Kielmansegg hat in seiner unnachahmlich klar-disziplinierten gedanklichen Schärfe resümiert: „Man begegnet dem kompetitiven Druck mit der Demonstration einer exklusiven Professionalität, einer Professionalität, heißt das, die mit den Mitteln der Sprache unüberquerbare Grenzen zwischen innen und außen zieht und den, der sie sprachlich zu ziehen vermag, als Teilhaber am Arcanum ausweist. Wenn ein solcher Prozess einmal in Gang kommt, wird daraus sehr schnell ein sich selbst verstärkender Regelungskreislauf, dem sich dann eine ganze Disziplin unterwirft“ (zit. n. Cavuldak 2020, 325). 

Gerade jetzt wäre es an der Zeit zu zeigen, was eine öffentliche Wissenschaft besonders auszeichnet: sich einbringen in eine wichtige gesellschaftliche Debatte zur Zukunft unserer digitalen Nachhaltigkeitsgesellschaft. Forscher, die Zeit für Wissenskommunikation öffnen, haben Anerkennung verdient und sie benötigen dafür auch Ressourcen. Das wissenschaftliche Konto muss sich füllen, wenn man gehört und verstanden wird. Zumal sich die Debatten im Kontext der Corona-Politik um das zentrale Gut der Freiheit drehen. Die Corona-Politik weckt neue Leidenschaft, die Relevanz der Politikwissenschaft zu präsentieren. Corona-Politik hat paradigmatische Züge. Bisherige Erklärungsmuster des Politikmanagements stoßen an ihre Grenzen. Die Zentralität der Entscheidungen zu Beginn der Pandemie, die monothematische Zuspitzung als Total-Reduktion von Komplexität, das Ausmaß des angeordneten Lockdowns für alle Lebensbereiche sowie die Einschränkungen elementarer Freiheitsrechte waren vorbildlos neu. Keine Krise seit 1949 hat jemals zuvor zeitgleich alle Bürger betroffen. Die Politik musste in der Corona-Pandemie handlungsfähig bleiben. Systemrelevanz hat die Politikwissenschaft sicher nicht im Wettbewerb mit kritischer Infrastruktur, aber Freiheits-Relevanz setzt das Fach dem entgegen. Ob das Primat der Politik und die Renaissance einer Staatsbedürftigkeit anhalten, wird davon abhängen, wie es die Politik schafft, die Schlüsselkategorie Vertrauen zu stabilisieren. Die Konturen des Neuen in einer „Coronakratie“ könnten darin bestehen, dass die Spitzenpolitik offensiv und transparent für Verständnis wirbt. Das Lockern und Wiederhochfahren sind in der zweiten Phase sicher schwieriger als das Runterfahren in der ersten. Unter den Bedingungen von Unsicherheit und Nicht-Wissen fallen weiterhin Entscheidungen. Die Politiker zeigen sich lernend, unentschlossener. Unsicherheiten artikulieren sie, Kehrtwendungen könnten möglich werden. Traditionell galt dies als Schwäche von Politik. Mit Corona-Kreativität könnte es nun als Stärke interpretiert werden. 

Ins Zentrum rücken beim Primat der Politik auch Fragen der Verhältnismäßigkeit, vor allem in der Konsequenz des Grundrechtestaats. Wie stärken wir den Geltungscharakter von Grundrechten, über die wir als Bürger alle konstitutiv und immerwährend verfügen? Die Wertschätzung der Freiheit kann sich neu ausbalancieren. Der Bedarf an Politikberatung hat erkennbar zugenommen. Hierbei steht nicht der Lebensschutz im Zentrum, aber das Bemühen, die Relevanz präskriptiver Vorsorge zukünftig zu sichern. Wie, wodurch und mit wem? 

Die Politikwissenschaft sieht sich an vielen Universitäten als wissenschaftliche Produktionsstätte neuer Demokratie-Geschichten. Das passt sehr gut zur Entwicklungsgeschichte des Faches. Warum ist die parlamentarisch-repräsentative Demokratie für unsere Wohlfahrt und für den gesellschaftlichen sowie sozialen Frieden überlegen? Wieso löst der Halt im Nationalen keine grenzüberschreitenden Probleme? Man gewinnt den Eindruck, dass die politikwissenschaftliche Grundrechenart, wie sich Freiheit in Verantwortung sichern lässt, einer neuen Aufklärung bedarf. In solchen Zeiten der Identitätssuche und des Gewissheitsschwundes ist es ein gutes Zeichen, wenn das Fach intensive Selbstverständnis-Debatten startet. Die Forschungen werden dann intensiv wahrgenommen, wenn ein professionelles erkenntnisorientiertes Aufmerksamkeitsmanagement erfolgt. Wer nicht selber Attraktivität ausstrahlt, kann auch keine anderen von sich überzeugen.


Literatur
Cavuldak, Ahmet (Hg.) 2020: Peter Graf Kielmansegg im Gespräch. Übungen im politischen Denken. Baden-Baden.

Florack, Martin/Grunden, Timo (Hg.) 2011: Regierungszentralen. Organisation, Steuerung und Politikformulierung zwischen Formalität und Informalität. Wiesbaden.

Florack, Martin/Grunden, Timo/Korte, Karl-Rudolf 2015: Regierungsorganisation und Kernexekutive: Zur Weiterentwicklung einer modernen Regierungsforschung. In: ZfPol, S. 617 – 634.

Florack, Martin/Korte, Karl-Rudolf/Schwanholz, Julia (Hg.) 2021: Coronakratie. Zur Resilienz demokratischen Regierens. Frankfurt/M./New York.

Fröhlich, Manuel/Karl-Rudolf Korte/Stefan A. Schirm/Hans Vorländer 2017: Unser Fach Politikwissenschaft. In: ZfPol, H 1, S. 49 – 51. 

Glaab, Manuela/Korte, Karl-Rudolf (Hg.) 2012: Angewandte Politikforschung. Wiesbaden. 

Korte, Karl-Rudolf 2019: Gesichter der Macht. Frankfurt/M./New York. 

Korte, Karl-Rudolf/Florack, Martin (Hg.) 2021: Handbuch Regierungsforschung. 2. Aufl. Wiesbaden. 

Korte, Karl-Rudolf/Scobel, Gert/Yildiz, Taylan (Hg.) 2021: Heuristiken des politischen Entscheidens. Frankfurt/M. 

Mau, Steffen 2017: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Frankfurt/M. 

Schmitter, Philippe o.J.: Politics as a science (aka Politology); https://www.eui.eu/Documents/DepartmentsCentres/SPS/Profiles/Schmitter/Politics-as-a-science.pdf [Zugriff 7. 7. 2020].


Zitation
Korte, Karl-Rudolf (2020). Kopf oder Zahl? Über Relevanz und Maßstäbe der Politikwissenschaft, in: POLITIKUM Sonderausgabe 2020, S. 30-35.

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