Neue Wege der Demokratieforschung
Was ist Demokratieforschung?
Wirken der Demokratieforschung in Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft
Erfahrungen aus der Corona-Pandemie
Die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie sind ambivalent. In den ersten Wochen und Monaten der Politisierung der Pandemie, vor allem im März und April 2020, nahmen das Infektionsgeschehen sowie die politischen Maßnahmen dagegen nach einer Erhebung des Instituts für Medienforschung und Medienpädagogik der Technischen Hochschule Köln in den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF 60 bis 75 Prozent der Berichterstattung ein (Russ-Mohl 2020). Martin Henning und Dennis Gräf (2020) nennen diese Phase der Berichterstattung die „Verengung der Welt“. Aus Perspektive der Demokratieforschung war es eine hochproblematische Phase, die über ein halbes Jahr andauerte und deren langfristige Folgen für die Qualität der Demokratie noch nicht absehbar sind. Zwar wurde die Berichterstattung ab Mai wieder vielfältiger, die Welt fing an, wieder weiter zu werden, es wurde wieder mehr über andere Ereignisse berichtet. Dennoch blieben demokratierelevante Themen weitgehend ausgespart: die demokratische Legitimität der Krisenpolitik, die tiefer in Grundrechte eingriff als je zuvor in Krisensituationen nach 1945 sowie die Machtverschiebung hin zur Exekutive und Judikative. Der Parlamentarismus und damit die Repräsentanz sozialer Interessen war anders als in den meisten anderen (west)europäischen Ländern suspendiert. Bis zum Oktober 2020. Seitdem forderten nicht nur Oppositionspolitiker*innen, sondern auch Mitglieder der Mehrheitsfraktionen im Deutschen Bundestag sowie das Bundestagspräsidium ihre Rechte auf parlamentarische Mitbestimmung ein. Ähnliche Entwicklungen waren in den Bundesländern zu beobachten. Erst jetzt griffen überregionale Medien wie der Spiegel oder die Tagesthemen ‚Einsprüche‘ aus der Demokratieforschung auf, wie etwa den von Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin (Merkel 2020).
Dies ist die eine Seite der Erfahrungen mit Medien in der Corona-Pandemie. Die andere Seite ist, dass recht frühzeitig, also bereits im März und April, aber insbesondere in den Sommermonaten die Nachfrage nach Interviewpartner*innen aus den Sozialwissenschaften und auch der Demokratieforschung in lokalen Medien, von alternativen und miteinander vernetzten Radiosendern sowie vom öffentlich-rechtlichen Deutschlandfunk zunahm. Nur: Die Reichweite der Berichterstattung und Features sind begrenzt, da sie – mit Ausnahme der lokalen Medien – nur ein höher gebildetes Publikum erreichen.
Neue Wege der wissenschaftlichen Kommunikation
Das WZB hat bereits im März 2020 den Internetblog „Corona und die gesellschaftlichen Folgen – Schlaglichter aus der WZB-Forschung“ geschaltet (https://wzb.eu/de/forschung/corona-und-die-folgen), durch den Erkenntnisse und Einschätzungen aus der Sozialforschung und eben auch aus der Demokratieforschung öffentlich zugänglich sind. In Universitäten wurden interdisziplinär zusammengesetzte Diskussionsveranstaltungen zum Thema Krisenpolitik und ihren gesellschaftlichen sowie politischen Folgen gestreamt, wie beispielsweise vom Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg (https://www.online.uni-marburg.de/isem/SoSe20/docs/index.htm#corona-auftakt).
Die Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) hat sich nach der öffentlichen Kontroverse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2016 über die vermeintlich fehlende öffentliche Sichtbarkeit der Politikwissenschaft dazu entschieden, ab 2019 ebenfalls einen Internetblog einzurichten (https://www.online.uni-marburg.de/isem/SoSe20/docs/index.htm#corona-auftakt).
Neben Open-Access-Veröffentlichungen von Studien hat sich die Kommunikation der Politikwissenschaft mit Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft verändert: Sie ist zunehmend online-gestützt. Diese Entwicklung hat sich während der Corona-Pandemie dynamisiert – auch über Videoschalten von Medien mit Interviewpartner*innen aus der (Politik-)Wissenschaft während des Lockdowns. Diese werden zunehmend Normalität, so dass die Anwesenheit in einem Aufnahmestudie oder der Besuch eines Kamerateams nicht mehr notwendig sind. Die zeitliche Taktung wird dadurch gleichzeitig kürzer, der Anspruch, dass Interviewpartner*innen nicht nur mit Wort am Telefon, sondern auch mit Bild für Fernsehübertragungen – auch Zuhause – zur Verfügung stehen, wird größer.
Die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit wird strukturell unmittelbarer, ist zeitlich beschleunigt und räumlich entgrenzter. Der Vorteil ist, dass sich (Politik-)Wissenschaft öffentlich unabhängiger von medialen und politischen Konjunkturthemen äußern kann. Das Problem ist, dass traditionelle Medien als Vermittlungsinstanz in diesem Prozess an Bedeutung verlieren und die Wissenschaft noch nicht hinreichend auf diese unmittelbare Kommunikation vorbereitet ist. Sie muss aus ihren wissenschaftlichen ‚Spezialdiskursen‘ heraus- und in den öffentlichen Diskurs hineintreten, der anderen Regeln folgt. Hier sind im Indikativ schnelle Diagnosen und Prognosen gefragt und selten Abwägungsfragen. Die Virologie hat in der Corona-Pandemie erfahren müssen, dass sie auf diesen Umstieg in den öffentlichen Diskurs nicht vorbereitet war. Politikwissenschaft und Demokratieforschung haben damit mehr Erfahrung. Jedoch ist auch hier zu fragen, ob diese Erfahrungen schon ausreichen, eine unmittelbare Kommunikation aufzunehmen und eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen.
Was folgt?
Die Demokratieforschung ist ein Forschungsfeld, das sich mit dem Übergang zur Demokratie sowie mit der Stabilität und Qualität von Demokratien beschäftigt. Es liegt quer zu den Teilgebieten der Politikwissenschaft und ist nur schwer abzugrenzen. In jüngerer Vergangenheit hat die Demokratieforschung durch den Aufstieg des ‚Rechtspopulismus‘ sowie die Zunahme rechter Gewalt national und international (wieder) an medialer Aufmerksamkeit gewonnen. Ihr Wirken in Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft ist jedoch vielfältig und erschöpft sich nicht in der Präsenz in überregionalen Medien. Neben der traditionellen Politikberatung ist sie zunehmend Partnerin auf lokalen und regionalen Politikebenen in Fragen der Demokratieförderung, oder Politikwissenschaftler*innen involvieren sich als „Citoyen“ in politischen Auseinandersetzungen. Die Corona-Pandemie hat jedoch offengelegt, dass in Krisenzeiten demokratie- und gesellschaftspolitische Fragen medial in den Hintergrund treten. Davon ist nicht allein die Demokratieforschung betroffen, sondern auch die Sozialforschung im Allgemeinen. Strategien direkter Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft über Internetblogs und andere Online-Formate sollen dem entgegenwirken und haben an Bedeutung gewonnen. Allerdings ist noch offen, welche Reichweite diese neuen Kommunikationsstrategien für die Politikwissenschaft erzielen und welche neuen Ansprüche an die Wissenschaft hieraus erwachsen.
Literatur
Birsl, Ursula 2008: Das Alles-oder-Nichts-Prinzip: Zu den Unwägbarkeiten von Karriereverläufen in der Politikwissenschaft. In: Klecha, Stephan/Krumbein, Wolfgang (Hg.): Beschäftigungssituation von wissenschaftlichem Nachwuchs, Wiesbaden, S. 89 – 120.
Birsl, Ursula 2018: Die Demokratie und ihre Gegenbewegungen: eine kritische (Selbst-)Reflexion zu Begriffen und Referenzrahmen in der Rechtsextremismusforschung. In: Politische Vierteljahresschrift (PVS), H. 2, S. 371 – 384.
Birsl, Ursula 2019: Zukunft der Demokratie. Festrede zur Eröffnung der Sommerakademie „Demokratie gestalten!“ der Begabtenförderungswerke, URL: https://www.sommerakademie-demokratie.de/hauptbeitraege-14628.htm
Deitelhoff, Nicole 2018: Populismus und Wissenschaft. Streiten gegen das Erlahmen öffentlicher Auseinandersetzungen. In: Blamberger, Günter (Hg.): Vom Umgang mit Fakten. Antworten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Paderborn, S. 23 – 32.
Henning, Martin/Gräf, Dennis 2020: Die Verengung der Welt Zur medialen Konstruktion Deutschlands unter Covid-19 anhand der Formate ARD Extra -Die Coronalage und ZDF Spezial, https://www.researchgate.net/publication/343736403_Die_Verengung_der_Welt_Zur_medialen_Konstruktion_Deutschlands_unter_Covid-19_anhand_der_Formate_ARD_Extra_-Die_Coronalage_und_ZDF_Spezial [Zugriff: 24. 08. 2020].
Huntington, Samuel P. 1991: The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century. Norman: University of Oklahoma Press.
Levistsky, Steven/Ziblatt, Daniel 2018: Wie Demokratie Sterben. Und was wir dagegen tun können, 3. Aufl. München.
Merkel, Wolfgang 2020: „Ich nenne das: Regieren durch Angst“, Interview in der Wochenzeitung Die Zeit am 14.10.2020, https://www.zeit.de/politik/deutschland/ 2020-10/corona-politik-demokratie-angela-merkel-regierung-pandemie-wolfang-merkel [Zugriff: 17.10.2020].
Munck, Gerardo L. 2003: Vergleichende Demokratieforschung. In: Berg-Schlosser, Dirk/Müller-Rommel, Ferdinand (Hg.): Vergleichende Politikwissenschaft, 4. Aufl. Opladen, S. 129 – 150.
Negt, Oskar 2009: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen.
Russ-Mohl, Stephan 2020: Herdentrieb. Ein Overkill. Corona-Berichterstattung verzerrt die Maßstäbe dafür, was alles relevant ist. So verbreitet sich eine gefährliche Angst. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 240 v. 17./18. Oktober 2020, S. 5.
Schmidt, Manfred G. 2003: Vergleichende Policy-Forschung. In: Berg-Schlosser, Dirk/Müller-Rommel, Ferdinand (Hg.): Vergleichende Politikwissenschaft, 4. Aufl. Opladen, S. 261 – 276.
Schüttemeyer, Suzanne S. 2007: The Current State of Political Science in Germany. In: Klingemann, Hans-Dieter (Ed.): The State of Political Science in Western Europe, Opladen/Farmington Hills, S. 163 – 186.
Zimmer, Annette/Wurm Felix W. 2007: Stand und Perspektive des Faches Politikwissenschaft. In: DVPW-Rundbrief, Nr. 136, S. 130 – 144.
Zitation
Birsl, Ursula (2020). Neue Wege der Demokratieforschung, in: POLITIKUM Sonderausgabe 2020, S. 22-29.