Der Autor

Dr. Rudolf G. Adam ist Politik­berater und Publizist und war u. a. Gesandter an der deutschen Botschaft in Moskau, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes.

Russlands Sonderweg: Die Rückkehr des Kalten Krieges

Unser Umgang mit Russland wird erneut von Eindämmung, Abschreckung und der Suche nach Kooperationsansätzen geprägt. Russland befindet sich auf einem blutigen Sonderweg – und schwächt sich dabei selbst. Doch ein geschwächtes Russland wird kein kooperatives Russland sein. Im Gegenteil, es wird sich eher noch trotziger in nostalgische Träume imperialer Größe, paranoide Reflexe und eine noch penetrantere Betonung seiner antiwestlichen, spezifisch russisch-orthodoxen Identität flüchten. Sofern Vereinbarungen überhaupt zustande kommen, werden sie mit starken Drohpotentialen unterfüttert werden müssen, die ihre Einhaltung garantieren. Der Kalte Krieg – und mit ihm die Eindämmungspolitik – kehrt zurück.


Der Überfall auf die Ukraine und die barbarische Art, mit der Russland diesen Krieg führt, hat einen tiefen Keil zwischen Russland und die westliche Welt getrieben. Russland will eine Art ‚Generalgouvernement Neurussland‘ schaffen. Es führt Krieg gegen ein ‚Brudervolk‘ nach der Logik ‚Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein‘. In den besetzten Gebieten wird Russisch Amtssprache, Unterricht folgt russischen Lehrplänen, der Rubel ersetzt die Hryvna, russische Pässe werden ausgegeben, russische Gesetze von russischen Sicherheitskräften durchgesetzt. Stalin wollte ‚entkulakisieren‘, die Landbevölkerung verhungern lassen. Putin vernichtet die Städte, riskiert eine globale Hungersnot und will ‚entukrainisieren‘: aus Ukrainern Russen machen (Snyder 2021). Wenn etwas die Bezeichnung ‚Umvolkung‘ verdient, dann dies. Die russischen Grausamkeiten und die Vernichtungspropaganda erinnern an schlimmste Exzesse, die andere Besatzungstruppen in den bloodlands vor 80 Jahren verübt haben (Snyder 2010). In Russland wird das ganze ukrainische Volk als „Nazis“ diffamiert und verteufelt. Die Russisch-Orthodoxe Kirche gibt sich als Verstärker dieser Propaganda her. Führende Kulturfunktionäre fordern eine kulturelle Säuberung Russlands von westlich-dekadenten Einflüssen.

In seinem Essay vom Juli 2021 und in den beiden Vertragsentwürfen vom Dezember 2021 hatte Putin seine Vorstellungen dargelegt. Er sieht Russland als einzigen legitimen Erben des Zarenreichs und der Sowjetunion. Er spricht der Ukraine Staatlichkeit und eigene Nationalität ab und fordert eine Zurücknahme der Nato-Erweiterung. Russland ist international isoliert, allerdings nicht vollständig. 141 Mitglieder der VN verurteilten im März 2022 in der Generalversammlung die russische Aggression, 35 enthielten sich der Stimme. Über diese Länder kann Russland an der Hintertür erhalten, was ihm am Haupteingang verwehrt bleibt.

Kontinuitäten
Nach gängiger Geschichtsschreibung kennzeichnen zwei Umbrüche die Geschichte Russlands im vorigen Jahrhundert: die bolschewistische Revolution und das Ende des Kommunismus bzw. das Zerbrechen der Sowjetunion. Unter der veränderten Oberfläche verbergen sich allerdings markante Kontinuitäten in Denkmustern, sozialen Strukturen und in der Ausübung politischer Macht. Hinter neuen Etiketten hat viel Substanz überdauert. Persönliche Loyalitäten und Klientelbeziehungen bleiben bis heute wichtiger als Amtskompetenzen. Für Putin verkörpern Peter der Große, Alexander III. und Stalin historische Vorbilder.

Wer heute George Kennans Analyse sowjetischer Motive aus dem Jahr 1947 liest, entdeckt erstaunliche Parallelen zur Gegenwart. Wer Äußerungen russischer Politiker hört, wird an berühmte Zitate aus zaristischer Vergangenheit erinnert. Sergei Uwarow, unter Nikolaus I. Minister für Volksbildung, forderte schon 1833 eine Rückbesinnung auf genuin russische Werte, die er in Autokratie, Orthodoxie und Nationalität verkörpert sah. Wenige Jahre später formulierte Alexander von Benckendorff, Gründer der Geheimen Staatspolizei: „Russlands Vergangenheit war bewundernswert, seine Gegenwart ist mehr als großartig und seine Zukunft wird alles übertreffen, was der kühnste Verstand sich vorstellen kann.“ Konstantin Pobedonoszew betrieb unter Alexander III. eine radikale Russifizierungspolitik und wies westliche Ideale von demokratischer Beteiligung und parlamentarischer Repräsentation als „gefährliche Illusionen“ ab. Der alte Streit zwischen Westlern und Slawophilen ist erneut entbrannt, und die Slawophilen haben ihn abermals gewonnen.

Es hat in Russland bis heute keine funktionierende Demokratie gegeben. Bürgerliches Selbstbewusstsein und spontane Selbstorganisation haben sich nie entwickeln können. Recht und Rechtsprechung bleiben abhängig von der Exekutive. Staatsorgane, vor allem Sicherheitskräfte, stehen über dem Gesetz. Kritisches Denken wird unterdrückt, Information zensiert. In der russischen Gesellschaft dominieren Rechtsnihilismus und ein Männlichkeitswahn, der abgestumpfte Brutalität als Heroismus ausgibt. Russland definiert sich zunehmend als anti-europäisch, als Festung traditioneller Werte, die libertären und dekadenten Strömungen trotzt. Opposition gilt als Verrat, wer Kritik oder Bedenken äußert, als Saboteur. Putin (2022) sprach unter jubelndem Beifall von ‚Abschaum‘ und von ‚Geschmeiß‘.

Entputinisierung?
Putin verknüpft eine nostalgisch-faschistische Verklärung der Vergangenheit mit krudem Neo-Imperialismus. Derzeit unterstützen nach einer Umfrage des Levada-Instituts vom Juli 2022 etwa 85 Prozent der Bevölkerung Russlands Putins Kurs. Es ist illusorisch zu erwarten, Russland werde eine Demokratie nach westlichem Vorbild werden, sobald Putin nicht mehr Präsident ist.

Die Position von Putin ist unangreifbar. Es gibt keinen Vizepräsidenten. Der Präsident kann zwar abgesetzt werden, aber nur, wenn eine Zweidrittelmehrheit im Föderationsrat, Duma, Oberster Gerichtshof und Verfassungsgericht sich einig sind. Putin hält die Opposition fest in Schach und verhindert, dass ein ernsthafter Herausforderer gegen ihn antritt. Wahlergebnisse werden nicht von denen entschieden, die wählen, sondern von denen, die die Stimmen zählen. Es gibt keine Struktur mehr wie das Politbüro, wo Gegner Stimme und Einfluss hatten. Die Duma ist eine Ansammlung von Marionetten, deren Fäden fest in den Händen des Präsidenten liegen.

Putins Amtszeit ist bis 2036 gesichert. Vorher kann er sein Amt nur verlieren, wenn er abgewählt wird, zurücktritt, amtsunfähig wird oder stirbt oder wenn ein Gewaltakt (Putsch, Revolution) ihn aus dem Amt vertreibt. Jedes dieser Ereignisse ist höchst unwahrscheinlich: Die ersten beiden lassen sich ausschließen. Putin ist im Oktober 2022 siebzig Jahre alt geworden. 2036 wird er kaum älter sein als der gegenwärtige US-Präsident. Für Gerüchte über seine Gesundheit gibt es keine Anhaltspunkte. Die wenigen Menschen, die noch Zutritt zu Putin haben, sind strengstens ausgewählt und überwacht. Eine Revolte des Militärs ist unwahrscheinlich: Die Soldaten murren, aber sie kämpfen. Einzelne Befehlsverweigerungen sind keine Massenmeutereien. Es gibt keinen charismatischen Anführer, der sporadische Funken zu einem Lauffeuer entfachen könnte, das die ganze Nation ergreift. Massenproteste können nur Erfolg haben, wenn Sicherheitskräfte sich ihnen anschließen. Zu hoffen, dass Präsident Putin gestürzt wird, ist Wunschdenken.

Die aussichtsreichsten Kandidaten für eine Nachfolge suchen Putin derzeit an martialischer Rhetorik und mit antiwestlichen Drohungen noch zu übertreffen. Der Westen muss sich auf eine lange Konfrontation mit einem von Putin nachhaltig geprägten Russland einstellen.

Wirtschaft
Der Westen hat Russland mit Wirtschafts- und Finanzsanktionen überzogen in der Hoffnung, dass ökonomische Verluste Russland politisch kooperativer machen. Wie diese Konfrontation ‚banks against tanks‘ ausgehen wird, ist ungewiss. Der Rubelkurs hat nach kurzem Absturz einen Jahreshöchststand erreicht. Russland verzeichnet einen haushohen Handelsbilanzüberschuss, weil Exportpreise explodieren und westliche Importe wegbrechen. Für das laufende Jahr wird mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von kaum mehr als 5 % gerechnet. Am stärksten leiden technologieintensive Sparten wie Flugzeug- und Automobilbau, Kommunikation, hard- und software. Sanktionen betreffen vor allem Investitionsgüter. Westlich Konsumgüter finden nach wie vor den Weg nach Russland. Die Türkei und China haben ihren entsprechenden Export stark ausgeweitet. Der starke Rubel lässt die Waren nicht einmal schmerzhaft teurer werden. Die breite Bevölkerung spürt wenig, solange Ernährung und soziale Versorgung sichergestellt bleiben. Die Stimmung bleibt deshalb optimistisch und selbstbewusst, Kriegsgeschehen und trübe Wirtschaftsaussichten werden verdrängt.

Sanktionen haben viele Schwachstellen. Sie treffen Unbeteiligte, die auf Handel mit Russland angewiesen sind. Sie lassen sich durch Schmuggel, Bestechung und falsche Deklarationen umgehen. Wenn der Drogenhandel blüht, lässt sich abschätzen, wie wirksam Sanktionen sind. Der Wille, sie durchzusetzen, erlahmt mit der Zeit. Sanktionen werden verhängt, um wieder aufgehoben zu werden, sobald der politisch-militärische Zweck erreicht ist, dem sie dienen sollen. Sie zu verhängen ist schwer genug. Sie wieder aufzuheben, wird noch viel schwerer werden. Bislang gibt es keine ‚Preisliste‘, die angibt, was Russland zu tun hat, um Sanktionen wieder loszuwerden. Russlands Wirtschaft wird die Auswirkungen der Sanktionen erst allmählich spüren; sie wirken nicht wie ein plötzlicher Infarkt, sondern schleichend wie ein langsam, aber unaufhörlich wachsendes Geschwür. Für sanktionsbedingte Einbußen wird der Staat einspringen. Er wird Unternehmen stützen, übernehmen, ihnen Weisungen erteilen, um kriegsnotwendige Ausrüstung zu liefern. Der russische Staat wird ein noch machtvollerer ökonomischer Akteur; er zieht planwirtschaftliche Weisungsbefugnisse an sich und resowjetisiert die Wirtschaft. Clan und Plan verschmelzen zu einer unheilvollen, aber mächtigen Allianz.

Internationale Partner
Russland baut seine Beziehungen zu Ländern wie Iran, Syrien, Nordkorea aus. Es wirbt hartnäckig um Indien und um Länder in Afrika. Es kostet Russland im Schnitt 40 US-Dollar, ein Barrel Öl zu fördern. Der Weltmarktpreis liegt seit langem deutlich über 100 US-Dollar. Russland kann also problemlos einen Rabatt von 20 Prozent anbieten und immer noch einen massiven Gewinn machen.

China wird zu einem Schlüsselpartner (siehe auch den Beitrag von Uwe Optenhögel in diesem Heft). Der russisch-chinesische Handel hat seit 2020 rasant zugelegt. Seit Russlands Invasion der Ukraine ist er nochmals um mehr als 20 Prozent gestiegen. Der chinesische Anteil am russischen Außenhandel hat sich in zehn Jahren von 10 auf knapp 20 Prozent verdoppelt. Die Abhängigkeit ist unsymmetrisch. Russland macht weniger als 3 Prozent des chinesischen Außenhandels aus. Russland bezieht von China das, was ihm der Westen verwehrt: Elektronik, Halbleiter, Avionik. China deckt sich in Russland mit fossiler Energie zu Vorzugspreisen und mit modernster Waffentechnologie ein. Beide Seiten haben einen komplementären Warenaustausch. Sie halten den langen gemeinsamen Grenzverlauf spannungsfrei und können ihre Kräfte gegen die Ukraine oder gegen Taiwan konzentrieren. Das Gipfelkommuniqué des Treffens zwischen Putin und Xi Jinping vom Februar 2022 spricht eine verdächtige Sprache: „They reaffirm that the new inter-State relations between Russia and China are superior to political and military alliances of the Cold War era … there are no ‚forbidden‘ areas of cooperation.“ Putin hat sich – wie vor ihm ein anderer Diktator – Rückendeckung im Osten geholt, bevor er im Westen losschlug. Beide wollen die USA schwächen. Beide sind revisionistische Staaten, die die internationale Ordnung zu ihren Gunsten verändern wollen. Beide sehen sich als Großmächte, denen der Weg zu einer von ihnen beanspruchten hegemonialen Position verlegt wird. 

Diese Beziehung hat jedoch auffällige Asymmetrien: Chinas Bevölkerung und Chinas Wirtschaftskraft ist zehnmal so groß wie die Russlands. China kann für die stillschweigende Unterstützung Russlands gegen die Ukraine Konzessionen erwarten. China hofft, eine starke Stellung auf dem russischen Markt für Güter zu gewinnen, bei denen sich China auf dem Weltmarkt schwertut: Flugzeuge, Autos, IT-hard- und -software, Haushaltsgüter. China ist der lachende Dritte, wenn die beiden nuklearen Supermächte sich gegenseitig schwächen. China will Russland als Partner haben, aber als Juniorpartner. Deshalb kommt es dem Land nicht ungelegen, wenn Russland sich selbst schwächt. China wird deshalb Russland zwar verbal unterstützen, sich aber bei materieller Hilfe zurückhalten.

Mit welchem Russland werden wir es zu tun haben?
Russland ist uns durch seine Wendung zu einer faschistisch-imperialen Eroberungspolitik fern gerückt. Der Ausdruck ‚Faschismus‘ hat seine begrifflichen Konturen weitgehend verloren und ist zum gedankenlosen Schlachtruf politischer Polemik verkommen. Zentrale Elemente des Faschismus in diesem Zusammenhang bedeuten: Glorifizierung der Vergangenheit, aggressiver Imperialismus und Irredentismus, Überhöhung und Verklärung der eigenen Nation, Abwertung anderer Nationen, Ermordung bzw. Inhaftierung von Oppositionellen, Aufhebung der Gewaltenteilung, Politisierung der Justiz, massive Propaganda, Kontrolle sämtlicher Informationskanäle, patriotisch-paramilitärische Erziehung, Kult brutaler Gewalt. Vieles von diesen Elementen finden wir im heutigen Russland. Es bleibt aber unser Nachbar – schlimmer noch: auch der der Ukraine. 

Als Nachbar kann Russland erhebliches Störpotential entfalten. Sollten die Kämpfe eines Tages enden, kann Putin sie jederzeit wieder aufflammen lassen und über die 2.300 km lange Grenze tief in die Ukraine destabilisierend hineinwirken. Er kann der Ukraine unerträgliche Lebensbedingungen diktieren. Er kann die Seeverbindungen übers Schwarze Meer kontrollieren. Ein Minimum an pragmatischer Zusammenarbeit mit der russischen Regierung wird gleichwohl unumgänglich bleiben, auch wenn Putin kein Vertrauen verdient, nachdem er zahllose multilaterale und bilaterale Vereinbarungen zerrissen hat. Sofern Vereinbarungen überhaupt zustande kommen, werden sie mit starken Drohpotentialen unterfüttert werden müssen, die ihre Einhaltung garantieren. Sofern die Ukraine als selbstständiger Staat überlebt, wird sie faktisch in den Sicherheitsbereich der Nato fallen. Eine entmilitarisierte oder ‚finnlandisierte‘ Ukraine, wie sie noch vor dem Krieg denkbar war, hat keine Überlebenschance mehr. Russland hat überdeutlich gezeigt, dass es seinen Lamentationen über eine ‚expansive, aggressive Nato‘ selbst nicht glaubt (siehe auch den Beitrag von Michael Gehler in diesem Heft). Wäre die Nato darauf aus, Russland anzugreifen, hätte sie dessen momentane Schwächung ausgenutzt, um einen großen Krieg gegen Russland an zuzetteln.

Putin hat sich mehrfach verkalkuliert: Statt die Nato zu schwächen, hat er sie gestärkt. Sie wird mit Finnland eine mehr als doppelt so lange Grenze zu Russland haben wie bisher. Statt sich die Ukraine einzuverleiben, hat er sie endgültig in die Arme des Westens getrieben. Aus einem ‚Brudervolk‘ hat er eine Russland zutiefst hassende Nation gemacht. Statt Russland international Respekt zu verschaffen, hat er es zu einem Pariastaat gemacht, den selbst diejenigen, die auf ihn angewiesen sind, verachten. Aserbaidschan hat einen Freundschaftsvertrag gekündigt, Kasachstan ist hektisch bemüht, seine Beziehungen zu China zu intensivieren.

Ein geschwächtes Russland wird kein kooperatives Russland sein. Im Gegenteil, es wird sich eher noch trotziger in nostalgische Träume imperialer Größe, paranoide Reflexe und eine noch penetrantere Betonung seiner antiwestlichen, spezifisch russisch-orthodoxen Identität flüchten. Die Sowjetunion hatte eine Ideologie, die für Entwicklungsländer einen attraktiven Gegenentwurf zum kapitalistischen Westen bot. Ein in nationalistischer Aggressivität versinkendes Russland, das den Kapitalismus in ungezähmter Form übernommen hat und bis auf Rüstungsgüter wenig Spitzenprodukte zu bieten hat, wird weniger attraktiv sein. Russlands drohende Wirtschaftsschwäche und die lang nachwirkende Notwendigkeit, Militärausgaben zu erhöhen, wird es Russland schwer machen, in erforderlichem Umfang die eigene Wirtschaft zu modernisieren, an Erfordernisse des Klimawandels anzupassen und den Lebensstandard der eigenen Bevölkerung weiter zu erhöhen. 

Noch ist Russland von einer Stagnation der Breschnew-Zeit weit entfernt. Aber wenn es nicht gelingt, die kontinuierlichen Verluste in der Ukraine zu stoppen, könnte Russland darauf zusteuern. Noch gibt es keine verlässlichen Schätzungen, was der Ukrainekrieg Russland gekostet hat und noch kosten wird. Nimmt man allein die halbwegs zuverlässigen Verluste an militärischer Ausrüstung, die geschätzten Kosten für einen Wiederaufbau in den besetzten Gebieten und die Übernahme der sozialen Kosten für Gesundheit, Alterssicherung usw., kommt man auf Summen, die größenordnungsmäßig im hohen dreistelligen Milliardenbereich liegen – bei jährlichen Staatsausgaben von ca. 300 Mrd. Euro.

Russlands Wirtschaft treibt auf eine Autarkie mit steigendem Staatsanteil zu. Militärische und sicherheitspolitische Erfordernisse werden über Jahre hin­aus Investitionen lenken. China hat bisher wenig Enthusiasmus gezeigt, die Lücken zu füllen, die der Abzug westlicher Investoren gerissen hat. Die Inva­sion der Ukraine könnte für Russland noch kostspieliger werden als die Invasion Afghanistans für die Sowjetunion. Der Außenhandel wird schrumpfen, der Ausfall westlicher Kapitalgeber Russland wirtschaftlich und technologisch zurückwerfen. Sobald es Europa gelingt, die bisherige Abhängigkeit von russischen Energieimporten abzustreifen, wird Russland sich schwertun, neue, ebenso bequeme und lukrative Märkte für die Hauptquelle seines Wohlstands zu finden.

Russland ist zu groß und zu mächtig, um sich auf Dauer ignorieren, geschweige denn isolieren zu lassen. Sei es Klimawandel, Terror- oder Pandemiebekämpfung, Abrüstung und Rüstungskontrolle, eine Verständigung über die Arktis oder die Antarktis, seien es Regionalkonflikte oder Abstimmungen im Sicherheitsrat – ohne Russland wird wenig, gegen Russland kaum etwas gehen. Russland wird mit seinen immensen Bodenschätzen und seinem enormen Militärpotential ein Machtfaktor bleiben. Die Sowjet­union hatte China gegen sich; Russland dominiert zusammen mit China den eurasischen Kontinent, das ‚Herzland‘ der Geopolitiker des vorigen Jahrhunderts.

Kooperative Sicherheit ist tot 
Der Kalte Krieg kehrt zurück. Unser Umgang mit Russland wird erneut von Eindämmung, Abschreckung und der Suche nach Kooperationsansätzen umschrieben bleiben. Der Harmel-Bericht der Nato aus dem Jahr 1967 gewinnt neue Aktualität. Er hatte starke militärische Abschreckung mit der Bereitschaft zu friedlicher Kooperation in zivilen Bereichen verknüpft. Russland hat mit dem Begriff kooperativer Sicherheit immer gefremdelt. Es denkt in Nullsummenspielen und glaubt, anderen absprechen zu müssen, was es für sich selbst fordert. Was an Abrüstung und Rüstungskontrolle in drei Jahrzehnten erreicht wurde, ist verloren. Der Westen hat den ABM- und INF-Vertrag, Russland die konventionellen Verträge (KSE, Open Skies) gekündigt. Russland hat das Nervengift Novitschok eingesetzt und gegen das Chemiewaffenübereinkommen verstoßen. Ohne ein Minimum an gegenseitigem Vertrauen wird es hier keinen Neuanfang geben. Die Ukraine hatte nach 1991 das drittgrößte Arsenal an Nuklearwaffen freiwillig Russland ausgeliefert. Mit seinem Überfall hat Russland dem Nichtverbreitungsregime einen Todesstoß versetzt. Denn die Lektion dieses Angriffs lautet: Wer Nuklearwaffen hat, sollte sie niemals hergeben, schon gar nicht gegen papierene Garantien, und wer sich einem Gegner mit Nuklearwaffen gegenübersieht, sollte sich so schnell wie möglich welche zulegen! 

Sollte die Ukraine in zwei Teile zerfallen, die beide in unterschiedliche Wirtschaftsräume integriert werden und deren gegensätzliche politisch Ordnung die nationale Spaltung vertieft, wird die Ukraine von einem neuen eisernen Vorhang durchzogen werden. Solange in Russland ein Denken vorherrscht, das den Westen als existentielle Bedrohung sieht und Zuflucht in einem exklusiven, fremdenfeindlichen Russentum sucht, werden die konfrontativen Elemente in den Beziehungen des Westens zu Russland überwiegen. Unser Einfluss, diese Mentalität von außen zu verändern, ist gering. Vielleicht kann hier die neue russische Diaspora – über 300.000 Russen sollen seit Kriegsbeginn ihr Land verlassen haben – als Transmissionsriemen fungieren. Die Erfahrungen mit der russischen Emigration von 1917 sind freilich wenig ermutigend, und unter den Dissidenten gab es sowohl die Kopelews wie auch die Solschenizyns. 

Optionen des Westens 
Wenn Russen uns nicht verstehen, ist es umso wichtiger, dass wir sie verstehen. Deshalb sollte das Wort ‚Putin-‘ oder ‚Russlandversteher‘ nicht abschätzig, sondern positiv aufgefasst werden. Einem Freund kann man vertrauen, einen Feind muss man verstehen! Putin wird weit über seine Amtszeit hinaus Spuren im Denken und in Reflexen der Russen hinterlassen. Müssen wir Putinismus als höchstes Stadium des Stalinismus begreifen? Eine der vielen Asymmetrien in unserem Verhältnis zu Russland liegt darin, dass wir ein Übermaß an Empathie an den Tag legen und uns den Kopf zerbrechen, wie die Welt aus russischer Sicht aussehen mag. Umgekehrt gibt es wenig Russen, die bemüht sind, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen. Um russischer Propaganda nicht unnötig Stoff zu liefern, sollten Äußerungen, die nach regime-change in Moskau klingen, unterbleiben. 

Die vordringlichste Aufgabe wird darin liegen, die verzerrende und hasserfüllte Propaganda zurechtzurücken und so vielen Russen wie möglich die Augen zu öffnen, wie wir sie und ihre Regierung sehen und wie Rechtsstaatlichkeit und offene Gesellschaften tatsächlich funktionieren. Mit dem Rückzug westlicher Unternehmen haben wir uns eines wichtigen Multiplikators beraubt. Wer als Russe bei VW oder BMW arbeitete, erhielt zugleich Einblicke in die Wirklichkeit westlicher Gesellschaft. Im kulturellen Bereich sollten so wenig Beziehungen wie möglich gekappt werden. Wir brauchen den offenen, kritischen Dialog mit Russen über ihre Geschichte. Wir brauchen den Dialog über gegenseitige Perzeptionen und gemeinsame Sicherheit. Erfolg werden wir nur haben, wenn unser Angebot auf genuines russisches Interesse stößt. Bisher war solchen Bemühungen wenig Erfolg beschieden. Aber es gibt keinen anderen erfolgversprechenden Ansatz. Wir werden einen langen Atem brauchen. Dennoch sollten wir unsere Kooperationsbereitschaft immer wieder betonen, sie allerdings mit nachdrücklichen Bedingungen verknüpfen: 

  • Russen können innerhalb ihres Landes so leben, wie sie wollen – aber nur, solange sie auch ihre Nachbarn so leben lassen, wie diese wollen. 
  • Grenzen sind nur gewaltlos und im Einvernehmen mit den Betroffenen verrückbar. 

Russen müssen sich fragen, weshalb Deutschland und Japan heute engste Verbündete ihrer ehemaligen Feinde sind, wohingegen Länder, die zwischen 1941 und 1945 an der Seite Russland gekämpft haben, sich heute eher als Gegner ihres ehemaligen Verbündeten sehen. Die zaristische und sowjetische Vergangenheit gehört nicht Russland allein. Sie gehört ebenso den Nachbarn, die diese gemeinsame Vergangenheit ganz anders bewerten. Solange hier unvereinbare Narrative aufeinanderprallen, wird die unbewältigte Vergangenheit Gegenwart und Zukunft belasten. Die Ukraine zu stärken bedeutet nicht, Russland zu schwächen. Russland wird sich in den eigenen Grenzen nicht eher sicher fühlen können, bevor es die gleiche Sicherheit nicht auch anderen Staaten gewährt. Was Russen als ‚Russophobie‘ anprangern, ist lediglich das Spiegelbild ihrer eigenen ‚Europhobie‘. Russen müssen keine Angst vor anderen haben, wenn andere keine Angst vor Russen haben.

Literatur
Gemeinsame Erklärung des Gipfeltreffens zwischen Putin und Xi Jinping vom 4. Februar 2022, http://en.kremlin.ru/supplement/5770

Kennan, George (Mr. X) 1947: The Sources of Soviet Conduct, Foreign Affairs, July 1947, https://www.foreignaffairs.com/articles/russian-federation/1947-07-01/sources-soviet-conduct

Putin, Wladimir 2022: Rede am 18. März im Luschniki-Stadion, Moskau, https://www.youtube.com/watch?v=crviTauRRDQ

Putin, Wladimir 2021: Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern, vom 12. Juli, https://www.prlib.ru/en/article-vladimir-putin-historical-unity-russians-and-ukrainians

Snyder, Timothy 2010: Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin. New York.

Snyder, Timothy 2021: Russia’s genocide handbook, 8. April 2021, https://snyder.substack.com/p/russias-genocide-handbook?s=r

Vertragsentwürfe vom 17. Dezember 2021, https://augengeradeaus.net/wp-content/uploads/2021/12/20211217_Draft_Russia_NATO_security_guarantees.pdf und https://augengeradeaus.net/wp-content/uploads/2021/12/20211217_Draft_RUS_USA_security_guarantees.pdf

Alle Links zuletzt aufgerufen am 25.8.2022.

Zitation
Adam, Rudolf G. (2022). Russlands Sonderweg: Die Rückkehr des Kalten Krieges, in: POLITIKUM Sonderheft 2022, S. 4-11, DOI https://doi.org/10.46499/1835.2541. 

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