"This time is different"
In der EU überlagern und verstärken sich in den letzten Jahren immer neue Krisenprozesse. Zweifel an der Tragfähigkeit des eingeschlagenen Integrationspfads bis hin zu Formen eines offenen Euroskeptizismus prägen die Diskussion in den europäischen Gesellschaften. Die Krisenstimmung scheint sich zu verfestigen. Gibt es im Unterschied zu früher heute keinen Ausweg aus der Krise mehr?
Keine Entwicklungs-, sondern eine Existenzkrise
Eigentlich sind Krisen der europäischen Integration nichts Ungewöhnliches. Im historischen Rückblick lässt sich eine Vielzahl von Krisen identifizieren, deren politische Bearbeitung den Integrationsprozess sogar vorangebracht hat. Dies galt bereits für das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Jahr 1954, das durch den NATO-Beitritt Deutschlands und die damit verbundene sicherheitspolitische Einbindung aufgefangen wurde, oder auch für die Politik des „Leeren Stuhls“ von Charles De Gaulle (1965/66), die durch den „Luxemburger Kompromiss“ deutlich entschärft werden konnte. In den 1970er Jahren folgten auf das Scheitern des „Werner-Plans“, eines ersten Anlaufs zur Etablierung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS); und letztlich lässt sich das Projekt des EG-Binnenmarktes in den 1980er Jahren auch maßgeblich als Reaktion auf die zuvor diagnostizierte „Eurosklerose“ interpretieren. Kurzum, in der Vergangenheit wirkten Krisen häufig als Schrittmacher oder Katalysatoren der Integration. Es handelte sich mithin nicht um „Existenzkrisen“, sondern um „Entwicklungskrisen“ (Deppe 1993), die den Integrationsprozess durch eine weiter fortschreitende Vergemeinschaftung auf eine neue Stufe gehoben haben.
Inzwischen mehren sich jedoch die Anzeichen, dass diese Logik nicht mehr gilt. Einige Aspekte verweisen – im Sinne einer „großen Krise“ – zumindest auf eine besondere Qualität der jüngeren Krisenprozesse:
Erstens dauern die Krise und die Krisenstimmung – seit dem Ausbruch der transatlantischen Finanzkrise im Jahr 2008 – ungewöhnlich lange an. Zweitens ist angesichts der Tatsache, dass infolge des ökonomischen und migrationspolitischen Krisenmanagements vielfältige soziale Verwerfungen entstanden sind, die soziokulturell nicht selten mit Tendenzen der Renationalisierung korrespondieren (Eppler/Scheller 2013), eine Rückkehr zur alten „Normalität“ schwer vorstellbar. Und drittens handelt es sich bei der Renationalisierung nicht nur um ein diskursives, sondern – zumindest teilweise – auch praktisch-politisches Phänomen.
Um einige Beispiele zu nennen: Das Krisenmanagement ist stark intergouvernemental geprägt, beruht also auf der zentralen Rolle des Europäischen Rats und der Eurogruppe; die deutsche Kanzlerin sprach in diesem Kontext von der Unionsmethode in Abgrenzung von der alten Gemeinschaftsmethode. Das europäische Grenzregime des Schengen-Raums wird durch nationale Sonderwege und Grenzschließungen faktisch ausgehebelt. In Fragen der Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung werden die rechtsstaatlichen Vorgaben des acquis communautaire in einigen Ländern – Ungarn oder Polen – vielfach verletzt. Und natürlich stellt der avisierte Brexit eine besonders eindeutige Form der Renationalisierung dar. Angesichts dieser Tendenzen gehen wir davon aus, dass sich die EU derzeit nicht wie früher in einer „Entwicklungs“-, sondern in einer tiefen und zunehmend manifesten „Bestands“- oder „Existenzkrise“ befindet.
Krisendiagnosen und Krisensemantiken
Jeder Versuch einer Krisen- und Zeitdiagnose ist nun freilich mit dem Problem konfrontiert, dass sich der Charakter von Krisen – Krisen sind per definitionem Situationen der Erschütterung und Verunsicherung bisheriger Reproduktionsmuster – eigentlich immer erst von ihrem Ausgang her bestimmen lässt, sich also im Nachhinein erschließt (Koselleck 1989 [1973], 145). Dieser Sachverhalt versetzt Historiker mit ihrer Perspektive des geschichtlichen Rückblicks zweifelsohne in eine privilegierte Position. Im Unterschied zu ihnen bewegen sich Sozialwissenschaftler und andere Intellektuelle auf weitaus unsichererem Terrain. Sie begeben sich mit ihren Krisen- und Zeitdiagnosen notgedrungen ins Kampfgetümmel der öffentlichen Diskurse. Das heißt, sie wirken mit ihren Analysen und Interpretationen daran mit, den jeweiligen Charakter von Krisen – diese sind nicht einfach nur gegeben – im öffentlichen Diskurs zu konstruieren.
Jenseits aller Unsicherheiten bieten Krisen aber auch eine Chance, wissenschaftliche Analysen und Reflektionen praktisch relevant werden zu lassen. Dies gilt umso mehr, als – politikwissenschaftlich betrachtet – Krisen sog. critical junctures, d. h. Situationen potenzieller Veränderungen oder sogar Strategiewechsel darstellen. In Anlehnung an die Medizin (Schlüsselphasen im Krankheitsverlauf) oder militärstrategische Diskussionen (das Gefühl der existenziellen Unsicherheit am Vorabend einer großen Schlacht) repräsentieren Krisen kritische Entscheidungskonstellationen. In ihnen werden die gewohnten Orientierungen und Praktiken, wenn auch nicht von allen, vermehrt in Frage gestellt, wobei die Charakterisierung der jeweiligen Krise zugleich spezifische Reaktionen und Antworten nahelegt. So bedeutet es schon einen Unterschied, ob von einer „Finanzkrise“ oder einer „Staatsschuldenkrise“ die Rede ist oder ob migrationspolitisch eine „Flüchtlingskrise“ oder einer „Krise des europäischen Grenzregimes“ diagnostiziert wird. Obgleich selten reflektiert, fungieren die semantischen Konnotationen der konkurrierenden Krisendiskurse als ein wichtiges Medium der politischen Auseinandersetzung.
Auch die Frage, ob die seit 2008 identifizierbaren Krisenprozesse auf eine „Entwicklungs-“ oder „Existenzkrise“ der EU verweisen, ist keineswegs frei von den angedeuteten politischen Implikationen. Da die Unterscheidung aber nur sehr allgemein, nicht gerade spezifisch die Ursachen der Krisen adressiert, bleiben die politischen Bezüge eher vage. Die Annahme einer „Entwicklungskrise“ legt nahe, dass eine Politik der Krisenbewältigung im Rahmen des eingeschlagenen Entwicklungspfads – im Sinne eines „weiter so“, eventuell etwas modifiziert – durchaus erfolgreich sein kann. Im Unterschied hierzu suggeriert die Diagnose einer „Existenzkrise“ eine substanzielle Reflexion und gegebenenfalls auch Revision der bisherigen integrationspolitischen Praktiken, wenngleich hiermit noch keine Aussage über die Art und Richtung der Revision verbunden ist.
Verlauf, Kontexte und Implikationen der Krise
Doch haben wir es wirklich mit einer Existenzkrise der europäischen Integration zu tun? Dafür spricht neben der bereits angesprochenen sehr langen Dauer der Krise, dass sich ihre Schwerpunkte und Dimensionen im Zeitverlauf wiederholt verschoben haben. Mehr noch, die Dimensionen überlagern und verstärken sich häufig. Manchmal entstehen Rückkopplungseffekte, die die ursprüngliche – zwischenzeitlich überwunden geglaubte – Krisendimension erneut befeuern und wiederaufleben lassen. Eine kurze Skizze der jüngeren Krisengeschichte mag diese Problematik der Verschiebung, Überlagerung und Rückkopplung veranschaulichen.
Von der Finanz- zur Euro- und Staatsschuldenkrise
Am Anfang der europäischen Krisendynamik stand die Finanzkrise, die in den USA als Subprimekrise ihren Ausgang nahm. Aufgrund der transatlantischen Verflechtungen – viele europäische Finanzinstitute hatten sich direkt oder indirekt, d. h. über sogenannte Zweckgesellschaften, am Handel mit Subprimekrediten beteiligt – erfasste sie sehr rasch auch die Mitgliedstaaten der EU. Die Auswirkungen waren dabei allerdings je nach Land unterschiedlich. Unmittelbar und sehr hart waren jene Volkswirtschaften betroffen, die als stark finanzialisiert gelten, also über einen großen, internationalisierten und in besonderem Maße durch die Kapitalmärkte, weniger durch das traditionelle Kreditgeschäft charakterisierten Finanzsektor verfügen. Neben Irland und Großbritannien galt dies für die baltischen Staaten, aber auch für viele Staaten Westeuropas (Bieling 2012). Im Kontext der Shareholder-Value-Steuerung transnationaler Unternehmen, der (Teil-)Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur (Post, Telekommunikation, Energie und Transport) bzw. der Alterssicherung hatte sich eine Finanzmarktorientierung verallgemeinert, die mit einer erhöhten und letztlich kostenintensiven Krisenanfälligkeit verbunden war, nachdem in einigen Ländern die Immobilienblase die Stabilität des Finanzmarktes erschüttert hatte.
In Reaktion auf die Finanzkrise lancierten fast alle Regierungen Programme der Bankenrettung (Finanzmarktstabilisierung) und einige zur Abmilderung der Rezession auch Konjunkturprogramme. Die Bankenrettung erzeugte nicht nur in den stark internationalisierten und kapitalmarktorientierten Ökonomien, sondern auch in den Ländern mit strukturellen Leistungsbilanzdefiziten gravierende Probleme. Mit der negativen Leistungsbilanz korrespondierte ein entsprechender ausländischer Kapitalzufluss, überwiegend in Gestalt privater Kredite, deren Bedienung unter Krisenbedingungen zunehmend fragwürdig wurde. Durch die staatliche Stützung der Banken schnellte der öffentliche Schuldenstand in der EU, der vorher weitgehend stabil gewesen war, in nur wenigen Jahren um über 30 Prozentpunkte in die Höhe, in den besonders krisengeschüttelten Ländern weitaus stärker. Die Umwandlung der vormals privaten Schulden in öffentliche Schulden wurde erstaunlich widerstandslos hingenommen. Mit der Diagnose der sogenannten Staatsschuldenkrise richtete sich der Blick stattdessen auf die fehlende Ausgabendisziplin der staatlichen Akteure. Im Sinne der Leistungsbilanzüberschussländer und internationalen Gläubiger wurde seit dem Frühjahr 2010 entsprechend eine austeritätspolitische Kehrtwende eingefordert und durch die wiederholte Reform des europäischen Wirtschaftsregierens – etwa durch die Einführung des Europäischen Semesters, eine restriktive Neudefinition des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (zunächst durch den Sixpack, dann durch den Fiskalpakt, also eine europäische Schuldenbremse) oder durch die Troika-Politik gegenüber besonders hoch verschuldeten Ländern – institutionell und rechtlich verstetigt.
Während einige Länder, so vor allem Deutschland und die mit dem deutschen Produktionsmodell eng verbundenen Nachbarländer, von der austeritätspolitischen Kehrtwende eher verschont geblieben waren, glitten andere in eine tiefe und langanhaltende Rezession. Die Folgen des wirtschaftlichen Einbruchs waren zum Teil dramatisch: ein starker Beschäftigungsrückgang und ein deutlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit; eine damit verbundene Entwertung beruflicher Qualifikationen; Auswanderungswellen und die Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit; aufgrund ausbleibender Steuereinnahmen eine weitere Erhöhung der öffentlichen Verschuldung trotz umfangreicher Ausgabenkürzungen; ein Verfall der sozial und wirtschaftspolitisch bedeutsamen öffentlichen Infrastruktur; und eine vielfach offenkundige politische Ohnmacht bei der Erfüllung staatlicher Gestaltungsaufgaben, zum Beispiel des Gesundheitssystems.
Die Flüchtlingskrise
Schon die Verschiebung und Kumulation der skizzierten Krisenphänomene – der Finanz- und Wirtschaftskrise, der Krise des sozialen Zusammenhalts und der politischen Delegitimation von nationalen Regierungen und supranationalen Institutionen – lässt erkennen, dass sich die EU seit geraumer Zeit in der Bredouille befindet. Durch die sogenannte „Flüchtlingskrise“, genauer: die Krise des europäischen Grenz- und Migrationsregimes, hat sich die Krisenkonstellation weiter verfestigt und zugespitzt. Als die Bundesregierung im September 2015 die Entscheidung traf, die Grenzen für Hunderttausende Flüchtlinge zu öffnen, um anschließend europäische Solidarität bei deren Verteilung auf die Mitgliedstaaten zu fordern, stand sie alleine da. Die Gründe für die Isolierung Deutschlands liefern eine weitere Erklärung dafür, warum wir es mit einer „Existenzkrise“ der EU zu tun haben.
Das durchsetzungsstarke Vorgehen der Bundesregierung in der Finanzkrise hatte bereits das Misstrauen gegen eine Übermacht Deutschlands befeuert. Der Alleingang vom September 2015 erweckte den Eindruck, Deutschland wolle den Europäern erneut ohne deren Mitsprache seine Politik aufzwingen. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung einseitig das Grenzregime und die Asylpolitik der EU (Dublin III) aussetzte. Als Italien und Griechenland 2013 und 2014 unter der Last des Zustroms ächzten und um Hilfe baten, verwies die Bundesregierung auf die europäische Rechtslage und verweigerte die Aufnahme von Flüchtlingen. Im Herbst 2015 sollte nun plötzlich das Gegenteil gelten. Das musste auf Ablehnung stoßen.
Nach endlos erscheinenden Verhandlungen entschied der Rat schließlich mehrheitlich, bescheidene 140 000 Flüchtlinge nach einem komplizierten Schlüssel auf die 28 Mitgliedstaaten zu verteilen. Das Schicksal dieses Beschlusses ist bekannt. Er wurde einfach nicht umgesetzt, Tschechien und Ungarn erklärten sogar offen, ihn nicht zu akzeptieren. Dabei hatten beide Länder den Verträgen zugestimmt, die die Union dazu ermächtigen. Diese offene Missachtung der Entscheidungsregeln zeigt den verheerenden Zustand, in dem sich die EU befindet (vgl. Zaun 2016). Die Umsetzung europäischer Verordnungen und Richtlinien („compliance“) ist beklagenswert (Falkner 2013).
Dabei wäre die als Rechtsgemeinschaft konzipierte Union auf nichts mehr angewiesen als auf Rechtstreue. Zerstörerisch aber ist, dass diese Missachtung vermehrt unter Verweis auf die „nationale Souveränität“ oder sogar auf den Grundsatz der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ vorgenommen wird. Das legt die Axt an die Fundamente der Union, deren Gründungsgedanke und damit Wesenskern es war, das nationale Interesse in einer europäischen Union aufgehen zu lassen. Diese Gründungsidee ist mindestens auf dem Rückzug, vielleicht sogar unwiederbringlich beschädigt, was zugleich den nicht nur materiellen oder verteilungspolitischen, sondern auch soziokulturellen Charakter der europäischen „Existenzkrise“ veranschaulicht.
Renationalisierungsprozesse
Dies gilt umso mehr, als es im Verlauf der Krise zu einer Politisierung der EU gekommen ist, die nicht selten die Form einer verstärkten Renationalisierung der Politik annimmt. So ist das Wissen um und das Interesse an der Politik in anderen Mitgliedstaaten erheblich gewachsen, weil sich nicht mehr verdrängen lässt, dass vermittelt über die gemeinsame Währung oder die Freizügigkeit in der EU die Lage in Griechenland oder Polen für die Deutschen von erheblicher Relevanz ist. Die Reaktion darauf ist aber nicht der Weiterbau an der Integration oder der Ausbau einer europäischen Demokratie, sondern, um im Bild zu bleiben, die Errichtung von Schlagbäumen und Grenzzäunen.
In allen Mitgliedstaaten versuchen sich die politischen Eliten mehr oder minder ausgeprägt dadurch von den Krisenfolgen zu entlasten, dass sie der EU oft ziemlich unverfroren die Verantwortung für Fehlentwicklungen zuschieben. Tatsächlich waren aber weder die Finanz- und Staatsschuldenkrise noch die Massenflucht aus dem Mittleren Osten und Afrika von der EU unmittelbar verursacht worden; und auch die Entscheidungen zur Bewältigung der Schulden- und Finanzkrise wurden nicht durch die europäischen Organe in Brüssel getroffen, sondern in Paris und besonders in Berlin. Die EU blieb oft nur Zaungast der Ereignisse. Dennoch wurde die Schuld an steigender Arbeitslosigkeit, Verarmung, Überschuldung oder dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems vielfach einseitig bei der EU gesucht, verstärkt von populistischen Parteien, die angesichts der Gesamtsituation ihren Vorteil suchen. Große Teile der Bevölkerung folgen diesen Parolen bereitwillig. Populistische Positionen werden mitunter sogar mehrheitsfähig, wie die Wahlerfolge von Fidez (Ungarn), PIS (Polen) oder die „Brexit“-Kampagne in Großbritannien veranschaulichen.
In diesem Klima konnten die „Eurosceptics“ in den beiden letzten Jahrzehnten ein Übergewicht im politischen Diskurs erringen (vgl. Usherwood/Startin 2013). Die Übernahme der Regierungsgewalt durch populistische und nationalistische Parteien in vielen europäischen Hauptstädten ist Teil der europäischen „Existenzkrise“, denn über das politische System der EU wird der „Euroskeptisismus“ nicht von außen an sie herangetragen, sondern sitzt in deren Zentrum.
Strukturprobleme der europäischen Integration
So problematisch es ist, die EU unmittelbar, einseitig und überzogen für die europäischen Krisenprozesse verantwortlich zu machen, so schwer ist es ebenfalls zu übersehen, dass die aufgeführten Krisenphänomene letztlich auch auf Strukturprobleme der europäischen Integration verweisen. Mit anderen Worten: Die Finanzkrise wie auch die Krise des europäischen Grenzregimes haben die „Existenzkrise“ der EU weniger ausgelöst als offenbart. Letztere ist, wie die Phänomene der Asymmetrie von wirtschaftlicher und sozialer Integration und die Prozesse einer ungleichen Entwicklung verdeutlichen, tiefer in den Strukturen der europäischen Integration angelegt.
Die Asymmetrie von wirtschaftlicher und sozialer Integration manifestiert sich unter anderem in der Operationsweise des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), der primär normbeseitigend und nicht normschaffend agiert. Diese als „negativ“ bezeichnete Integration (Scharpf 2009) krankt indes, abgesehen von einem bedenklichen Legitimationsdefizit, an einem weiteren Grundproblem. Angesicht der Natur des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) als europäische Wirtschaftsverfassung beseitigt der EuGH auf der einen Seite markthemmende Normen der europäischen oder nationalen Gesetzgebung. Auf der anderen Seiten kann er aber nicht marktkorrigierend agieren. Das wäre wiederum Aufgabe des europäischen Gesetzgebers, der dazu aber nicht die Ermächtigung besitzt (vgl. Schieren 2012). Die Folge dieser Asymmetrie lässt sich an vielen Beispielen illustrieren: so etwa an der Liberalisierung der öffentlichen Infrastruktur oder der Unterminierung sozialer Rechte durch eine extensive Auslegung der Grundfreiheiten des EG-Binnenmarktes.
Ein zweites Strukturproblem besteht in den Problemen der ungleichen räumlichen Entwicklung (Jäger/Springler 2015). Derartige Prozesse lassen sich zwar auch im globalen Kontext und in anderen Weltregionen beobachten, innerhalb der EU sind sie jedoch besonders ausgeprägt. So sorgen der Primat der Wettbewerbspolitik und das Bestreben, ein sogenanntes „level playing field“ zu schaffen, dafür, dass tradierte Schutzmechanismen aufgrund ihrer diskriminierenden Wirkung aufgehoben, zumindest abgemildert werden. Nachdem bereits die „negative Integration“ des EG-Binnenmarktes in diese Richtung wirkte und im grenzüberschreitenden Wettbewerb die wirtschaftlich stärkeren und dynamischen Akteure und Regionen begünstigte, wurde durch die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), d. h. die Ausschaltung der Option von Wechselkursanpassungen und die einheitliche Zinspolitik der EZB, dieser Prozess nochmals verstärkt. Die Strukturfonds konnten dem nur sehr begrenzt entgegenwirken. Wie sich in der Finanzkrise mitunter dramatisch zeigte, stand die wirtschaftliche Entwicklung in der europäischen Peripherie – aufgrund einer weitreichenden Deindustrialisierung – vielfach auf tönernen Füßen.
Die Folgen der europäischen Integration stellen sich – auch in der Wahrnehmung der Betroffenen – also räumlich und sozialstrukturell sehr unterschiedlich dar. Nicht selten wird in der EU eine Gemeinschaft zum Nutzen des transnationalen Kapitals und der wirtschaftlich starken Kernländer, nicht aber der einfachen Bürger und der europäischen Peripherie gesehen. Die divergierenden Erfahrungen und Wahrnehmungen machen es nun äußerst schwierig, gemeinsame europäische Lösungen zu identifizieren. In der Vergangenheit war dies noch der Schlüssel der Krisenbewältigung und Triebkraft einer weitergehenden Integration gewesen. Die Zuständigkeiten der EU wurden Schritt für Schritt ausgeweitet und der Weg zu einer „immer engeren Union“ beschritten. Doch dazu besteht aktuell kaum eine Aussicht. Im Gegenteil, die politische Reaktion auf die Krise besteht oft darin, einen Rückbau der Integration einzufordern, d. h. die Politikbereiche, die durch die Asymmetrie beeinträchtigt worden sind, zu renationalisieren und die Regiegewalt über wirtschaftliche und soziale Aufgaben zurückgewinnen.
Die skizzierten Schwierigkeiten rühren nicht zuletzt von der Erweiterung seit 2004 her. So wichtig die Integration Osteuropas für die Stabilisierung dieser Region war, so schädlich wirkte sie sich für die Integrationsaussichten der EU aus. Die EU hatte es versäumt, auf den Gipfeln von Amsterdam 1997 und Nizza 1999 für die dringend nötige Reform der europäischen Institutionen und Verfahren zu sorgen. Die Union der 28 sollte sich schließlich als reformunfähig erweisen und für die Bewältigung der seit 2008 einsetzenden Krisen als viel zu schwerfällig. Ihre institutionellen Defizite spielten den EU-Skeptikern und -Gegnern in den Mitgliedstaaten offen in die Hände.
Beschädigung der europäischen Idee
Letztlich zeigen diese Diskussionen nur, dass die europäische Idee im Laufe der vergangenen Jahre stark beschädigt wurde. Ein Moment dieser Beschädigung besteht in der Marginalisierung der europäischen Organe. Diese erfolgte in dem Maße, wie in den Phasen einer akuten Krisenzuspitzung die „Stunde der Exekutive“, genauer: der Regierungen der nationalen Mitgliedstaaten schlug. Diese verfügen im Institutionengefüge der EU über eine sehr starke Stellung. So haben sich in erster Linie die Regierungen der einflussreichen Kernländer sowohl in der Finanzkrise als auch in der Krise des Grenzregimes darauf konzentriert, das Heft des Handels in der Hand zu behalten. Schaut man sich die Ergebnisse an, so ist ihnen dies sicherlich nur begrenzt gelungen. Institutionell und interventionspolitisch saßen sie zunächst aber am Schalthebel. Was das Management der Finanzkrise betrifft, so verfügten sie und nicht die EU über die Kompetenzen im Bereich der Wirtschafts-, Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik; und auch in der Krise des Grenzregimes erwiesen sich die administrativen Instrumente und Ressourcen der EU als unzureichend, um hinreichend stabilisieren zu können. Die zentrale Rolle der Regierungen – und mit Ausnahme der EZB gleichzeitige Marginalisierung der EU-Organe – war ressourcenpolitisch und kompetenzrechtlich gegeben. Sie wurde zugleich dadurch verstärkt, dass es den nationalen Regierungen, insbesondere in den reicheren Mitgliedstaaten, unter Legitimationsgesichtspunkten als viel zu riskant erschien, der EU die Krisenbewältigung zu überlassen.
Letztlich konnte der vornehmlich intergouvernementale Politikmodus aber nur bedingt beibehalten werden. Verdeckt und zeitverzögert sind unter dem Druck der Krisendynamik einige Integrationsschritte eingeleitet worden, in deren Folge freilich nicht das demokratisch legitimierte Parlament, sondern die europäischen Exekutivapparate kompetenzrechtlich und ressourcenmäßig gestärkt wurden: so vor allem die Europäische Kommission, die EZB oder Frontex, die perspektivisch in die „European Border and Coast Guard“ überführt wird.
Im Anschluss an die Marginalisierung kam es entsprechend zur Aufwertung einiger EU-Apparate. Auffällig ist hierbei allerdings, dass diese Apparate nicht oder nur sehr indirekt demokratisch legitimiert sind. Das in der Struktur des Integrationsprozesses angelegte Demokratie- und Legitimationsdefizit scheint sich im Verlauf der Krise somit zu reproduzieren, zum Teil sogar weiter zuzuspitzen. In gewisser Weise wurde mit der exekutivlastigen Rettung des Euros und des Grenzregimes die europäische Idee notdürftig am Leben gehalten, um die Ansprüche an ihre ohnehin bereits sehr schwache demokratische Verankerung noch weiter abzusenken.
Ausblick
Die Zeitdiagnose einer „großen Krise“ oder „Existenzkrise“ ergibt sich daraus, dass die EU institutionell, prozedural, politisch und auch legitimatorisch überfordert ist, die sich überlagernden Krisenprozesse der letzten Jahre zu bewältigen. Offenkundig erzeugt die Asymmetrie von wirtschaftlicher und sozialer Integration in Verbindung mit einer regional ungleichen Entwicklung divergierende Krisenlasten und Krisenwahrnehmungen, die gemeinschaftliche, nachhaltig tragfähige Antworten sehr schwierig machen. Die politischen Entscheidungsverfahren der EU lassen sich kaum mehr als ausbalanciert bezeichnen und auch das tradierte Selbstbild einer Union, die Wachstum und Beschäftigung fördert, die für soziale Integration und Demokratie einsteht und die friedenssichernd wirkt, ist in der öffentlichen Wahrnehmung längst nicht mehr präsent.
Doch wie geht es nun weiter mit der EU? Ist sie am Ende oder gelingt es ihr doch noch einmal, die „Existenzkrise“ zu überwinden? Grundsätzlich sind mehrere Szenarien vorstellbar (vgl. Varwick 2011). Der Einfachheit halber sollen drei solcher Szenarien hier abschließend wenigstens benannt werden:
Ein erstes – mutmaßlich das wahrscheinlichste – Szenario könnte darauf hinauslaufen, dass die EU auf absehbare Zeit im hier skizzierten Teufelskreis gefangen bleibt. Die verantwortlichen Entscheidungsträger betreiben eine Politik des muddling through, die partiell stabilisiert und Schlimmstes verhindert, aber unter den Bedingungen einer fortbestehenden ökonomischen und grenzpolitischen Unsicherheit keinen nachhaltigen Durchbruch herbeizuführen vermag.
Das zweite, durchaus realistische Szenario bestünde in einer unkoordinierten Erosion der EU. Die Renationalisierungstendenzen, nicht zuletzt der avisierte Brexit, aber auch ein Austritt einzelner Mitgliedstaaten aus der Eurozone weisen in diese Richtung. Der sukzessive Verzicht auf vormals etablierte Bestandteile des politischen Gemeinwesens EU kann sich unter Umständen rasch beschleunigen. Unklar ist dabei, ob es Grenzen der Erosion gibt und wo diese genau liegen würden.
Schließlich sollte auch das dritte Szenario einer koordinierten Reorganisation oder sogar Neugründung der europäischen Integration keineswegs ausgeschlossen werden. Hierzu bedürfte es allerdings – als Ausdruck eines revitalisierten europäischen Gemeinwillens oder Interesses – neuer ausstrahlungsfähiger Projekte oder Initiativen, deren Entwicklung und Propagierung momentan wenig greifbar ist.
Literatur
Bieling, Hans-Jürgen 2012: EU facing the crisis: social and employment policies in times of tight budgets. In: Transfer: European Review of Labour and Research 18 (3), S. 255 – 271.
Deppe, Frank 1993: Von der „Europhorie“ zur Erosion – Anmerkungen zur Post-Maastricht-Krise der EG. In: Deppe, Frank/Felder, Michael: Zur Post-Maastricht Krise der Europäischen Gemeinschaft (EG), FEG-Arbeitspapier Nr. 10, Marburg, S. 7 – 62.
Eppler, Annegret/Scheller, Henrik (Hrsg.) 2013: Zur Konzeptionalisierung europäischer Desintegration. Zug- und Gegenkräfte im europäischen Integrationsprozess. Baden-Baden.
Falkner, Gerda 2013: Is the European Union Losing its Credibility? In: Journal of Common Market Studies 51,
H. 1, S. 13 – 30.
Jäger, Johannes/Springler, Elisabeth (Hrsg.) 2015: Asymmetric Crisis in Europe and Possible Futures: Critical Political Economy and Post-Keynesian Perspectives. London/New York.
Koselleck, Reinhart 1989 [1973]: Kritik und Krise. Frankfurt/M.
Scharpf, Fritz W. 2009: Weshalb die EU nicht zur sozialen Marktwirtschaft werden kann. In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 7, S. 419 – 434.
Schieren, Stefan 2012: Europäische Sozialpolitik. Schwalbach/Ts.
Usherwood, Simon/Startin, Nick 2013: Euroscepticism as a Persistent Phenomenon. In: Journal of Common Market Studies 51, Sonderheft 1, S. 1 – 16.
Varwick, Johannes 2011: Krise und Zukunft der Europäischen Integration. In: Ders. (Hrsg.): Die Europäische Union. Krise, Neuorientierung, Zukunftsperspektiven. Schwalbach/Ts., S. 11 – 31.
Zaun, Natascha 2016: Europäische Flüchtlingspolitik. Keine Kooperation in Sicht. In: Politikum 2, H. 3, S. 16 – 25.
Zitation
Bieling, Hans-Jürgen & Schieren, Stefan (2017). "This Time is Different". Die Besonderheiten der aktuellen Krise der EU, in: POLITIKUM 1/2017, S. 4-14.