Die Autorin

Prof. Dr. Ursula Münch ist Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing sowie Professorin für Innenpolitik und Vergleichende Regierungslehre an der Universität der Bundeswehr München.

Überfordern Krisen den Föderalismus?

In Krisen muss schnell und entschlossen auf gesamtstaatlicher Ebene gehandelt werden. Im föderalen System Deutschlands werden die Exekutiven allerdings bewusst im Plural geschrieben, nicht zuletzt, um ungewollte Machtkonzentration zu verhindern. Das hat gewiss einen Preis, zugleich aber einen unschätzbaren Wert.

Woran misst man die Geeignetheit föderativer Strukturen? Die erste Antwort auf diese Frage muss lauten: „Kommt darauf an.“ Jenseits der grundsätzlichen Abwägung von Vor- und Nachteilen dieser Form der vertikalen Gewaltenteilung, die für die Bundesrepublik Deutschland aus bekannten Gründen nochmals anders ausfallen, hängt die Beurteilung jeder politischen Ordnung nicht zuletzt davon ab, wie die Krisentauglichkeit der jeweiligen Institutionenordnung sowie der politischen Entscheidungsfindungsprozesse eingeschätzt wird. Ob die Bundesrepublik Deutschland nur eine „Schönwetterdemokratie“ oder auch krisenfest sei, wurde gerade in der Nachkriegszeit thematisiert. Zum Phänomen der derzeitigen angeblichen „Polykrise“ gehört, dass die Frage nach dem Abschneiden unserer freiheitlichen Demokratie im Wettbewerb der Systeme intensiver denn je geführt wird. Dieser Umstand hat womöglich nicht allein mit der Zahl und der Dimension der aktuellen Krisen (Ferguson 2021) und der neuen „Weltunordnung“ zu tun (Masala 2023), sondern auch mit der Instrumentalisierung digitaler Kommunikationsmöglichkeiten zur Desinformation sowie den Interessen von Extremisten an der Delegitimierung des Staates.

Unabhängig von der Frage, ob „wir“ außergewöhnliche Krisenzeiten erleben oder nicht, ist festzustellen, dass jede Krise (auch) eine „wahrgenommene Gefährdung eines institutionalisierten Handlungsmusters“ darstellt (Friedrichs 2007, 25). Diese Feststellung gilt gerade auch für föderative Institutionen und Prozesse, die schon in „normalen“ Zeiten unter Rechtfertigungsdruck stehen (Petersen 2019). Die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik zeichnet sich – auch im Vergleich föderativer Systeme – durch ihre spezifischen Ausprägungen von Polity und Politics aus. Auch wenn die Flickenteppichrhetorik journalistischer Beiträge im Zuge der Pandemiebekämpfung besonders auffällig war, ist festzustellen, dass die Tauglichkeit unserer Staatsorganisation in jeder Krise in Frage gestellt wird. Das galt für die sogenannte Migrationskrise der Jahre 2015 und 2016 (Münch 2017), das zeigte sich bei terroristischen Anschlägen und ganz besonders während der Pandemie. In jeder dieser Krisen geriet das bekannte Spannungsverhältnis zwischen autonomieschonender und gemeinschaftsverträglicher Aufgabenbewältigung (Scharpf 1994, 131) in den Fokus. Auf der einen Seite braucht es in einer Krise schnelles Handeln, möglichst wenig kooperationsbedingte Reibungsverluste und ggf. politische Maßnahmen, die zwar auf regionale Besonderheiten reagieren, aber gleichzeitig der Nachfrage nach weitgehend gleicher Behandlung gerecht werden. Für jede Krise…

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