Der Autor

Prof. Dr. Christian Hacke lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bonn und ist einer der besten Kenner der deutschen Außenpolitik.

Verlust an Orientierung und Gestaltungskraft

Die Bilanz eines dreiviertel Jahrhunderts deutscher Außenpolitik ist zweigeteilt. Bis 1990 wirkte die alte Bundesrepublik als vorbildliche Zivilmacht. Sie genoss weltweit hohes Ansehen und bildete einen unverzichtbaren Pfeiler der atlantischen Demokratien. Seit der Vereinigung wirkt Deutschland als Zivilmacht ohne Zivilcourage. Zu Beginn der Regierung Scholz scheint das Land orientierungslos, hat wenig Gestaltungskraft und zeigt oftmals moralisierenden Provinzialismus statt strategischer Weitsicht.


Die Jahre von 1949 bis 2022, ein dreiviertel Jahrhundert, markieren eine wechselvolle Geschichte. Nach 1945 unterlag die deutsche Politik zunächst dem Diktat der Sieger. Der Wandel Deutschlands vom mächtigen Subjekt zum ohnmächtigen und geächteten Objekt ließ keine außenpolitischen Optionen zu. Deutschlands tiefer Sturz 1945 aus den Höhen verblendeter Machtpolitik auf das harte Pflaster der Realität ist in seinem Ausmaß für uns heute kaum noch nachzuvollziehen. Die Entwicklungsgeschichte von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands 1945 über die Bi- und Trizone bis zur Gründung der Bundesrepublik 1949 gleicht daher einem Wunder. Sie war weniger Ergebnis bewusster Planung, sondern wurde erst im Zuge der wachsenden Ost-West-Konfrontation Wirklichkeit. Entwicklungsgeschichtlich war Deutschland 1945 weder auf den Kommunismus eingestellt noch zur nachhaltigen Demokratie fähig. Erst die Bundesrepublik verwirklichte außenpolitische Westorientierung und innenpolitische Demokratisierung als sich gegenseitig bedingende Faktoren. 

Etappen deutscher Außenpolitik von Adenauer bis Merkel
Was am Ende der Weimarer Republik zusammenbrach – die Bemühungen um Kooperation mit dem Westen, Prestigegewinn im atlantischen Rahmen sowie Wirtschaftspolitik im Weltmaßstab – wurde nach 1949 für den westlichen Teil Deutschlands und dann nach 1990 für ganz Deutschland überraschend Wirklichkeit. Politische Integration, wirtschaftliche Prosperität und militärische Sicherheit – das, was der Weimarer Republik fehlte – wurde jetzt Schritt für Schritt Realität (statt vieler: Besson 1970, Hanrieder 1989, Schwarz 1985, Hacke 2003).

Konrad Adenauer: Der außenpolitische Revolutionär
Konrad Adenauer forcierte diese Entwicklung und wurde damit zum außenpolitischen Revolutionär. Im Gegensatz zu seinem innerparteilichen Rivalen, Jakob Kaiser, und auch im Gegensatz zum Führer der SPD, Kurt Schumacher, entwickelte Adenauer rasch ein sensibles Gespür für die dramatischen Veränderungen in Europa und der Welt. Adenauer erkannte, dass die neue Ost-West-Konfrontation Chancen bot, Demokratie durch Westbindung zu sichern. Der Preis war die vorübergehende Teilung Deutschlands. Aber Adenauer machte die Bundesrepublik zum zivilisatorischen Magneten, der erst später seine volle Anziehungskraft zeigen sollte. Adenauers Politik wurde in den wesentlichen Grundlinien von seinen Nachfolgern…

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