Autor*innen

Prof. Dr. Nils C. Bandelow ist Professor für Politikwissenschaft an der TU Braunschweig.

Dr. Colette S. Vogeler ist Post-Doc im Fach Politikwissenschaft an der TU Braunschweig.

Warum eskalieren Protestbewegungen?

Stuttgart 21, Pegida, Angriffe auf Flüchtlingsheime – in den letzten Jahren scheint es zunehmend auch aus dem Bürgertum heraus eine Protestbereitschaft zu geben, die in gewaltsame Konflikte mündet. Wodurch entstehen diese Konflikte, warum eskalieren sie und wie kann mit dem Eskalationspotential umgegangen werden?

Seit den gewaltsamen Auseinandersetzungen um das Großprojekt „Stuttgart 21“ im September 2010 steht die Frage nach den Ursachen für die Eskalation politischer Konflikte wieder verstärkt im politischen und wissenschaftlichen Interesse. Inwiefern ist ein grundsätzlicher gesellschaftlicher Wandel, gekennzeichnet auch durch eine wachsende Bedeutung von „Wutbürgern“, verantwortlich für Konflikteskalationen? Oder beinhaltet das Phänomen des „Wutbürgers“ wenig Neues und entzünden sich Konflikte an konkreten Gegenständen? Wie lassen sich politische Entscheidungen so legitimieren, dass Gewalt vermieden wird?

Um eskalierende Konflikte verstehen zu können, muss beides betrachtet werden: das jeweils eigene Konfliktpotential spezifischer politischer Entscheidungen und das Umfeld der Konflikte. Mit besonderem Blick auf Entscheidungen zu Großprojekten soll hier zunächst der sozialwissenschaftliche Diskussionsstand zu gegenstandsbezogenen Konflikttypen einerseits und gesellschaftsbezogenen Erklärungen einer möglicherweise „neuen“ Form der Konflikteskalation andererseits vorgestellt werden. Im Anschluss werden auf Grundlage aktueller Forschungsergebnisse die Bedeutung des spezifischen Phänomens der gegenseitigen Verteufelung von Konfliktparteien sowie mögliche Lösungsstrategien präsentiert. Grundlage sind bisherige Ergebnisse eines seit 2015 vom niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und der VolkswagenStiftung geförderten interdisziplinären Projektverbunds zur Eskalationsforschung.

Typen gegenstandsbezogener Konflikte
Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive lassen sich zwei gegenstandsbezogene Konfliktdimensionen unterscheiden (Scharpf 2010). Auf der einen Seite steht die Problematik des Problemlösens, also das Finden einer „besten“ Lösung. Auf der anderen Seite stellt sich die Herausforderung, die jeweils unterschiedliche Betroffenheit von Kosten und Nutzen innerhalb der Gesellschaft zum Ausgleich zu bringen.

Bereits die Suche nach einer „besten“ Lösung kann zu grundlegenden Konflikten führen. Diese Konflikte sind besonders erbittert, wenn fundamentale Normen und Weltanschauungen betroffen sind. Dies gilt etwa für die Auseinandersetzungen um Militärstützpunkte, Atomkraftwerke oder andere umstrittene Technologien wie Gentechnik oder Fracking. Bei Verkehrsprojekten, insbesondere im Bahnbereich, ist dieses Konfliktpotential zunächst geringer, da es keine grundsätzliche Ablehnung der Technologie selbst gibt, sondern nur einzelne Vorhaben unterschiedlich bewertet werden. Aber selbst die formalisierten Nutzen-Kosten-Berechnungen, die etwa der Bundesverkehrswegeplanung zugrunde liegen, beinhalten viele strittige Voraussetzungen und Unklarheiten. Bei Großprojekten gibt es zudem eine systematische Tendenz, die erst Jahre nach der Entscheidung für einen Bau anfallenden Kosten zu unterschätzen und gleichzeitig den Nutzen zu überschätzen (Flyvbjerg 2014). Dies führt dazu, dass auch anfänglich konsensual beschlossene Projekte im Laufe von teilweise jahre- und jahrzehntelangen Umsetzungen Widerstände produzieren.

Wenn die grundsätzliche Entscheidung für ein Vorhaben getroffen wurde, stehen viele politische Entscheidungen vor einer zweiten Herausforderung: Kosten und Nutzen betreffen oft verschiedene Personen(gruppen). Dies gilt besonders bei Großprojekten, die etwa für Anwohner besondere Belastungen bedeuten können. Grundsätzlich ist naheliegend, dass in einer Gesellschaft Menschen oder auch Rechtspersonen wie z. B. Unternehmen von Nutznießern eines Großvorhabens für besondere individuelle Kosten entschädigt werden. Wie aber soll ein solcher Ausgleich geregelt werden? Eine theoretische Lösung wäre ein allgemeines Reglement, das unabhängig vom Einzelfall zu einem Ausgleich führt, der gesamtgesellschaftlich vor dem „Schleier des Nichtwissens“ (Rawls 2003) als gerecht empfunden wird. Diese Idee stammt aus der politischen Theorie der 1970er Jahre und ist Bestandteil einer einflussreichen Theorie der Gerechtigkeit. Eine Entscheidung über mögliche Ausgleiche dürfte nicht von den direkt Betroffenen in ihrer Situation getroffen werden, sondern müsste von Menschen zu entscheiden sein, die losgelöst von der konkreten Situation sind. Sie stehen also unter dem Schleier eines Nichtwissens über mögliche eigene Betroffenheit. Dies ermöglicht theoretisch Gerechtigkeit für alle. Danach wäre denkbar, dass angestrebt wird, Menschen die einen Wertverlust einer Immobilie durch ein Bahnprojekt erleiden, in Höhe dieses Wertverlustes zu entschädigen. Möglich wäre auch, ihnen eine höhere oder niedrigere Entschädigung zukommen zu lassen. 

In der Praxis obliegt die Bewertung von möglichen Ausgleichen etwa für Anwohner bei Bahnprojekten meist Sachverständigen. Tatsächlich ist die Bewertung von Nutzen und Kosten gesellschaftlich und individuell aber deutlich komplizierter. Der Schaden, den ein Individuum erleidet, also beispielsweise der Wertverlust einer Immobilie, hängt in der subjektiven Wahrnehmung nicht nur davon ab, wie hoch ein solcher Schaden aus einer wirtschafts- oder ingenieurswissenschaftlichen Perspektive heraus bewertet wird. Selbst scheinbar objektive Gerechtigkeit schützt daher nicht immer vor Konflikten. Grundsätzlich beinhaltet damit jedes Großprojekt Potential, tiefgehende Konflikte zu produzieren. Umso überraschender ist es, wenn es gelingt, Projekte relativ konfliktfrei zu planen und umzusetzen. Dennoch gibt es viele Beispiele für konfliktarm ausgetragene Entscheidungen. Dazu gehören nicht nur „erfolgreich“ verwirklichte Maßnahmen: Selbst einige hochproblematische Großprojekte, wie etwa der durch zahlreiche Planungsfehler immer wieder verzögerte Großflughafen in Berlin, kommen (bisher) ohne gewaltsame Auseinandersetzungen aus. Auf der anderen Seite führen weniger kontroverse Gegenstände zu stärkeren Eskalationsprozessen. Im Kontext des breiten Widerstands gegen Stuttgart 21 ist die These entstanden, dass weniger der Gegenstand selbst als vielmehr ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel verantwortlich für aktuelle Eskalationen sein könnte. Grundsätzlicher Widerstand gegen bestehende gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Strukturen wird von der neu entstandenen Gruppe der „Wutbürger“ im Rahmen von Großprojekten artikuliert.

Konflikteskalation durch „Wutbürger“?
Ausgehend von der Sozialstruktur der Montags­demonstrationen gegen Stuttgart 21 hat die Bewegungsforschung ein neues Potential gesellschaftlichen Protests bei älteren und gut gebildeten Menschen ausgemacht, denen trotz der grundsätzlich bürgerlichen Werte die Bereitschaft zum eskalierenden Widerstand zugeschrieben wird (Baumgarten/Rucht 2013). Heute, mehr als sechs Jahre nach dem Beginn der Wutbürger-Diskussion, lässt sich eine erste Bilanz zu dieser These ziehen. 

Gewaltsame Konflikte um Großprojekte sind grundsätzlich auch in der Bundesrepublik Deutschland kein neues Ereignis. In der „Bonner Republik“ spielten vor allem jüngere, linke Gruppen im Anschluss an die Studierendenproteste der 1960er Jahre eine führende Rolle etwa bei der Eskalation des Konflikts um die erste Erweiterung des Frankfurter Flughafens (Bandelow/Thies 2014). Die Befragungen der Protestierenden in Stuttgart deuten aber darauf hin, dass sich hier eine neue Gruppe von Demonstranten engagiert hat. Dies gilt vor allem für die andere Altersstruktur im Vergleich zu den Protesten in den 1980er Jahren. Aber auch im Konflikt um Stuttgart 21 wurde radikaler Widerstand primär von Menschen getragen, die sich nicht nur gegen das Projekt selbst gerichtet haben, sondern deren Vertrauen in die Institutionen und Personen der parlamentarischen Parteiendemokratie gering war (Vogeler/Bandelow 2016). Der eigentliche Konfliktgegenstand kann als Auslöser und regionaler Anziehungspunkt für viel allgemeineren Protest interpretiert werden. Eskalierte Konflikte sind damit immer auch ein Symptom für grundsätzliche Legitimitäts- und Vertrauenskrisen. 

Jedes politische System muss sich ausreichend diffus legitimieren, wenn es inhaltlich strittige Entscheidungen durchsetzen will. Es braucht also eine generelle Akzeptanz von politischen Strukturen und Verfahren. Diese Legitimation kann idealtypisch auf unterschiedliche Weise erfolgen, wie schon Max Weber (1919) dargelegt hat. Weber unterscheidet drei Legitimationsgründe: historisch gewachsene Traditionen, die Rechtmäßigkeit der gesatzten Ordnung und die Bindungskraft charismatischer Personen. Heute werden teilweise weitere Einteilungen und Legitimationsgründe genannt: Zentral für die bundesdeutsche Diskussion ist etwa die spezifische Wirksamkeit demokratischer Prinzipien. Auch die soziale Bindungskraft von homogenen Gruppen und die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen kann für die Anerkennung von Regeln und die Legitimation politischer Strukturen wichtig sein. 

Sowohl der jugendliche Widerstand gegen die als zu rückständig empfundenen Strukturen der jungen Bundesrepublik in den 1960er Jahren als auch der spätere Protest gegen eine als intransparent und exklusiv wahrgenommene Herrschaftsstruktur des aktuellen Jahrzehnts sind somit Symptome für allgemeine Defizite der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen. Der Aufstieg der AfD, die inzwischen in mehreren Landesparlamenten vertreten ist und aktuellen Prognosen zufolge gute Chancen hat, 2017 in den Bundestag einzuziehen, verdeutlicht den Vertrauensverlust vieler Wähler in die etablierten Parteien. Unter anderem die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 hat die Befürchtung vieler Bürger verstärkt, dass ihre Interessen und Wünsche im bisherigen Parteiensystem nicht ausreichend berücksichtigt werden. Viele Bürger äußerten ihre Unzufriedenheit mit aktuellen politischen Entscheidungen auch in der Teilnahme an Demonstrationen etwa im Rahmen von PEGIDA. Umfragen zeigen zudem teilweise konstant niedrige und teilweise sinkende Vertrauenszuschreibungen zu wichtigen Personen und Institutionen des politischen Systems, etwa zu Regierung, Politikern und Massenmedien. Dies legt nahe, entweder die Strukturen demokratischer Beteiligung zu stärken und/oder zusätzliche Legitimationswege zu finden. In Deutschland besteht aus historischen Gründen eine spezifische Skepsis gegenüber charismatischen Personen und den diese Personen hervorbringenden direktdemokratischen Strukturen. Daher sind es in Deutschland primär machtbegrenzende und scheinbar unpolitische Institutionen wie Gerichte und Wissenschaft, die Legitimität bereitstellen können. Aber auch diese Institutionen müssen sich ständig bewähren, um breite Akzeptanz und Unabhängigkeit gegenüber Einzelinteressen zu gewährleisten. 

Trotz der bestehenden Legitimationsdefizite stellen gewaltsame Eskalationen in der Bundesrepublik zu allen Zeiten bisher seltene Ausnahmen dar. Bei allen immer wieder auftretenden Krisensymptomen funktioniert das Herrschaftssystem der Bundesrepublik im internationalen und historischen Vergleich noch sehr gut, eine Mehrheit der Bevölkerung unterstützt die Grundstrukturen der Herrschaftsordnung. Dass es vereinzelt dennoch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, ergibt sich aus dem jeweiligen prozessualen Zusammenspiel von Faktoren. 

Eskalation als Prozess 
Politische Konflikte basieren in der Regel auf einem Zusammenspiel externer und gegenstandbezogener Faktoren. Konkrete Anlässe können zu scharfen Ausein­andersetzungen führen, sie tun das aber nicht immer. So löste der Unfall von Fukushima im März 2011 nur wenig Reaktionen in der japanischen Atompolitik aus, während sich im „fernen“ Deutschland durch denselben Anlass die kernkraftpolitische Debatte zuspitzte und letztlich zum Atomausstieg führte. Hintergrund ist, dass der Anlass in Deutschland auf ein bereits polarisiertes Politikfeld gestoßen ist, es hier also ein grundsätzliches Eskalationspotential gab (Rinscheid 2015). Eskalation ist dabei zu verstehen als eine „Intensivierung (überwiegend als negative Verschärfung verstanden) der Austragung von Konflikten, die mit der Wahl zunehmend drastischer Mittel, bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, einhergehen kann“ (Bandelow/Thies 2014: 25). Während der Beginn eines Eskalationsprozesses mit dem Zusammenfall von Eskalationspotential und Eskalationsauslöser relativ voraussetzungsreich ist, nimmt die einmal begonnene Eskalation oft aufgrund relativ geringfügiger Anlässe einen schnellen Verlauf. 

Der Eskalationsforscher 
Friedrich Glasl beschreibt auf Grundlage vielfältiger Einzelfallbeobachtungen den typischen Ablauf mit einem Stufenmodell, bei dem sich die Konfliktparteien schrittweise von der Fähigkeit zum sachlichen Austausch lösen und im Extremfall zu einer destruktiven Auseinandersetzung übergehen. Dieses Modell findet inzwischen sowohl bei innerorganisatorischen Konflikten (etwa in Betrieben) als auch in der Innenpolitik und in den Internationalen Beziehungen Anwendung (siehe Abbildung 1). 

Folgt man diesem Modell, dann lassen sich in Konfliktverläufen Einzelereignisse benennen, die jeweils von den Konfliktparteien als subjektive Verletzungen empfunden werden und zu einer Verschärfung des eigenen Verhaltens geführt haben und dann wiederum die nächste Eskalationsstufe im Verhalten der Gegenseite provozierten. Das Stufenmodell lässt sich auf Stuttgart 21 anwenden: Seit 2009 kam es zu regelmäßigen Demonstrationen und öffentlichen Schuldzuweisungen. Hier ist also schrittweise ein Eskalationspotential entstanden. Viele aufeinander bezogene Einzelschritte wie der symbolische Baubeginn, die Besetzung des leerstehenden Bahnhofsnordflügels, die Errichtung des Bauzauns, Dauermahnwachen, Informationen über einen geplanten Polizeieinsatz und Baumbesetzungen zeigen die schnelle Eskalationsspirale. Die Kombination dieser Ereignisse mündete schließlich im „schwarzen Donnerstag“ im September 2010, also der Anwendung umfassender physischer Gewalt gegen Menschen und somit dem Erreichen einer für deutsche Innenpolitik seltenen Eskalationsstufe. Die Folge war ein starker Anstieg der Teilnehmerzahl bei der nächsten Demonstration und eine Verstetigung des Konflikts (Baumgarten/Rucht 2013). Das hohe Eskalationsniveau und die überregionale mediale Aufmerksamkeit trugen dazu bei, dass der Konflikt um Stuttgart 21 zum zentralen Gegenstand des Landtagswahlkampfes 2013 wurde. Seitdem wird das traditionell von der CDU regierte Baden-Württemberg von einem grünen Ministerpräsidenten regiert, der sich klar gegen das Projekt aussprach. Selbst mit der anschließenden Schlichtung, und der Volksabstimmung zur Entschärfung des Konflikts ist keine vollständige Deeskalation gelungen, noch heute gibt es tiefes gegenseitiges Misstrauen der Konfliktparteien. Warum aber ist es so schwierig, einmal eskalierte Konflikte wieder in eine vertrauensvolle Kommunikation zurückzuführen? Eine wesentliche Erklärung dafür bieten jüngere Studien aus der Politikfeldanalyse und der politischen Psychologie. 

Verteufelung des Gegners: „Devil Shift“ und „Angel Shift“ 
Ein zentraler Einflussfaktor auf das Eskalationsniveau im politischen Konflikt ist die verzerrte Fremd- und Eigenwahrnehmung der beteiligten Akteure. Dieses Phänomen wird in der Politikwissenschaft als Devil Shift bezeichnet (Sabatier et al. 1987). Diese verzerrte Wahrnehmung beinhaltet in politikfeldanalytischen Modellen mindestens zwei Dimensionen: eine wahrgenommene Machtasymmetrie im Vergleich zum Gegner und einen überschätzten Grad der Bösartigkeit des Gegners. Empirisch konnte zudem eine dritte Dimension aufgezeigt werden: Dem Gegner wird im Konflikt die Bereitschaft zu konstruktivem Verhalten abgesprochen. Diese Verteufelung der Gegenseite geht in der Regel einher mit einer starken Idealisierung der eigenen Seite, dem sogenannten Angel Shift (Vogeler/Bandelow 2016). Konfliktparteien nehmen die Eskalationsbereitschaft und das Eskalationsverhalten der Gegenseite als extrem stark wahr, während den Akteuren der eigenen Koalition minimale Eskalationsbereitschaft und wenig eskalative Strategien attestiert werden. 
 
Aktuelle Forschung unter anderem zum Konflikt um Stuttgart 21 legt nahe, dass es sich bei Devil Shift und Angel Shift um nahezu universelle Phänomene handelt. Sie betreffen alle sozialen Gruppen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Bildungsstand. Somit hat letztlich jede und jeder das Potential zum „Wutbürger“. Dabei gilt fast durchgängig: Je radikaler die Überzeugungen von Personen sind, desto negativer werden die Personen der Gegenseite und desto positiver werden die eigenen Koalitionspartner wahrgenommen. Demnach ist die Verteufelung der Gegenseite umso ausgeprägter, je größer die ideologische Distanz zwischen den Konfliktparteien ist. Gleiches gilt für die Idealisierung der eigenen Seite: Bei größerer ideologischer Nähe wird die eigene Seite stärker idealisiert. Geteilte Überzeugungen wirken aus psychologischer Perspektive vertrauensbildend. Aus politikfeldanalytischer Sicht führt die ideologische Distanz oder Nähe zur Bildung von Koalitionen in politischen Konflikten. Diese Koalitionen basieren auf jeweils geteilten, auf spezifische Politikgegenstände bezogene Grundannahmen und geteilten Wertvorstellungen. Zwischen Koalitionen mit weit entfernten Vorstellungen ist das Vertrauen hingegen am geringsten ausgeprägt. Stark verfestigte Koalitionen mit einer hohen ideologischen Distanz haben sich etwa im Konflikt um Stuttgart 21 formiert. Für beide Konfliktparteien konnte ein stark ausgeprägter Devil Shift sowie ein starker Angel Shift empirisch nachgewiesen werden (Vogeler/Bandelow 2016). Einmal verschärfte Konflikte können also unter anderem aufgrund der gegenseitigen Verteufelung der Konfliktparteien kaum noch befriedet werden. 

Lösungen: Kommunikation, Partizipation, Kompromisse 
Was bedeutet dies nun für eine konfliktarme Lösung politischer Konflikte? Die verschiedenen Erklärungen und Aspekte von Konflikten zeigen, dass hier keine einfache Lösung möglich ist. Vielmehr müssen alle Konfliktdimensionen und möglichen Konfliktverstärker beachtet werden. Zur Minimierung des gegenstandsbezogenen Konfliktniveaus empfiehlt die Politikwissenschaft eine systematische Trennung des Problemlösens von der Verhandlung mit den unmittelbar Betroffenen zur Findung eines Ausgleichs (Scharpf 2010). Eine frühzeitige explizite Berücksichtigung von Partikular­interessen – etwa von Unternehmen als potentiellen Profiteuren oder auch von Anwohnern spezifischer Varianten bei der Planung von Infrastrukturprojekten wie Bahnlinien und Stromtrassen bietet nicht nur Befriedung: Sie kann auch den gegenseitigen Devil Shift verstärken. Zudem steht jede frühe Beteiligung vor rechtlichen Herausforderungen, wenn spätere Klagemöglichkeiten frühzeitig Beteiligter erhalten werden sollen.

Auf der anderen Seite verlangt die politikwissenschaftliche Partizipationsforschung gerade eine solche frühzeitige Beteiligung. Stuttgart 21 hat hier bereits zu realen politischen Veränderungen geführt. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Vorhabenträger von Großprojekten sind heute verstärkt bereit, durch eine aufwändige frühzeitige Information und Beteiligung möglicher Betroffener schon in der Planungsphase späteren Protest- und Gewaltereignissen vorzubeugen. So ist die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung seit 2013 im Verwaltungsverfahrensgesetz verankert (§ 25 Abs. 3 VwVfG). Schon vor einer Antragstellung muss die Öffentlichkeit beteiligt werden, wenn „die Belange einer größeren Anzahl von Dritten“ betroffen sein könnten. Auf kommunaler Ebene bestehen schon länger rechtliche Möglichkeiten zur Durchführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden, die sowohl in ihren Voraussetzungen als auch in der praktischen Nutzung in den Bundesländern variieren. Formate der frühen Beteiligung wurden beispielsweise beim Ausbau der Stromtrassen in Deutschland (Suedlink) umfassend genutzt. 

Hinzu kommen informelle Beteiligungsverfahren wie beim Dialogverfahren Schiene Nord in Niedersachen (2015). Bei diesem Verfahren wurden neben der Deutschen Bahn AG und den betroffenen Bundesländern vor allem die Kommunen und Vertreter von Bürgerinitiativen und Umweltschutzverbänden eingebunden. Dabei ist es im Ergebnis gelungen, sich unter vielen alternativen Planungsvorschlägen für einen Ausbau der Schieneninfrastruktur gemeinsam für eine Variante auszusprechen. Diese Variante wurde in den aktuellen Bundesverkehrswegeplan aufgenommen. Allerdings bleibt zu beachten, dass das Verfahren fast ein Jahr dauerte, entsprechend kostenintensiv war und in seiner Bindungskraft zwischen den beteiligten Akteuren umstritten geblieben ist. Auch nach der Entscheidung gab es Demonstrationen, die sich teilweise für und teilweise gegen das Ergebnis des Dialogverfahrens gerichtet haben. Es bleibt abzuwarten, ob das Beteiligungsverfahren eine konfliktarme Umsetzung des anvisierten Trassenausbaus ermöglicht. Außerdem ist strittig, inwiefern die gemeinsame Lösung auch sachlich gut begründet ist. Sie beinhaltet einen weitgehenden Ausbau bestehender Strecken, während der teilweise von Fachleuten geforderte Neubau zusätzlicher Schieneninfrastruktur in dem Forum nicht unterstützt wurde. 

Grundsätzlich ist für vorgeschaltete Deeskalationsstrategien wie die vorgestellten partizipativen Verfahren ein Verständnis der Motive und Interessenlagen des Protests wichtig. Gerade für nicht repräsentativ-parlamentarische Entscheidungsverfahren ist zentral, welche Bedeutung regionale Interessen haben. Dabei müssen aber jeweils klare rechtliche Regeln beachtet werden. Zudem bedarf es unabhängiger Vermittler, denen alle Konfliktparteien sowohl institutionell als auch personell hohes Vertrauen entgegenbringen sollten. Wichtig ist auch, dass die letztlich verabschiedeten Lösungen inhaltlich vertretbar sind, also systematische Fehler bei der Prognose von Kosten und Nutzen minimiert werden. 

Dies befreit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aber nicht davon, systematisch die allgemeine Legitimität der Entscheidungsstrukturen zu stärken. Da Legitimität auf subjektiven Wahrnehmungen beruht, müssen die jeweils subjektiven Sichtweisen der Menschen aufgenommen werden: Wo bestehen wahrgenommene Ausgrenzungs- und Gerechtigkeitsdefizite? Welche Ängste empfinden die Menschen gegenüber der Politik? Handlungsbedarf besteht auch dann, wenn Bevölkerungsgruppen Probleme wahrnehmen, die irrational erscheinen, zumindest wenn das Eskalationspotential der Gesellschaft so niedrig wie möglich bleiben soll. Die Wissenschaft, als grundsätzlich unabhängiger und machtbegrenzender Akteur, sollte ihre Kompetenzen idealerweise im Rahmen inter- und transdisziplinärer Forschung einbringen und vermitteln. Gleichzeitig ist das Bildungssystem gefordert, mit der Stärkung kommunikativer Kompetenzen und dem reflektierten Umgang mit der Informationsvielfalt in der digitalisierten Welt Fähigkeiten nicht nur an Jugendliche zu vermitteln, um auch zukünftig eskalierte Konflikte selten zu machen. 

Auch bei bereits eskalierten Konflikten kommen dem Bildungssystem und unabhängigen Dritten eine zentrale Rolle zu. Psychologisch hat sich als beste Strategie zur Reduktion von Konfliktbereitschaft das spielerische Übernehmen der Perspektive der Gegenseite erwiesen. Dies kann in begrenzten Konflikten durch Mediatoren ermöglicht werden, ist aber bei größeren gesellschaftlichen Spaltungen eine besondere Herausforderung. Auch hier ist das Bildungssystem gefordert, Menschen aller sozialstruktureller Gruppen in der Übernahme unterschiedlicher Perspektiven zu schulen. Ein pluralistisches Mediensystem muss dies systematisch unterstützen.



Literatur
Bandelow, Nils C./Thies, Barbara 2014: Gerechtigkeitsempfindungen bei Großprojekten als Ursache von Konflikteskalationen? Vertrauen und Legitimität als moderierende Faktoren illustriert am Beispiel der Konflikte um die Erweiterung des Frankfurter Flughafens. In: Politische Psychologie, Bd. 4, H. 1, S. 24-37.
Baumgarten, Britta/Rucht, Dieter 2013: Die Protestierenden gegen „Stuttgart 21“ einzigartig oder typisch? In: Brettschneider, Frank/Schuster, Wolfgang (Hrsg.): Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz. Wiesbaden, S. 97-125. 
Flyvbjerg, Bent 2014: What You Should Know About Megaprojects and Why. An Overview. In: Project Management Journal, Bd. 45, H. 2, S. 6-19. 
Glasl, Friedrich 2013: Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte Beraterinnen und Berater. Bern. 
Rawls, John 2003: A Theory of Justice. Cambridge, Mass. 
Rinscheid, Adrian 2015: Crisis, Policy Discourse, and Major Policy Change. Exploring the Role of Subsystem Polarization in Nuclear Energy Policymaking. In: European Policy Analysis, Bd. 1, H. 2, S. 34-70. 
Sabatier, Paul A./Hunter, Susan/McLaughlin, Susan 1987: The Devil Shift: Perceptions and Misperceptions of Opponents. In: Western Political Quarterly, Bd. 40, H. 3, S. 449-476. 
Scharpf, Fritz W. 2010: Games Real Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Policy Research. Boulder, Col. 
Vogeler, Colette S./Bandelow, Nils C. 2016: Devil Shift und Angel Shift in eskalierten politischen Konflikten. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Bd. 26, H. 3, S. 301-324. 
Weber, Max 1919: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen.


Zitation
Bandelow, Nils C. & Vogeler, Colette S. (2017). Warum eskalieren Protestbewegungen? In: POLITIKUM 2/2017, S. 4-14.

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