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Kapitalismuskritik
Die Corona-Pandemie überdeckt zwar vieles, an beklagenswerten gesellschaftlichen Missständen besteht jedoch kein Mangel. Probleme wie Arbeitslosigkeit, prekären Beschäftigung, Obdachlosigkeit sind weiterhin virulent, durch unser Produktions- und Lebensmodell werden Böden ausgebeutet, die Natur verschmutzt und die Klimakrise zugespitzt. Umstritten ist allerdings, ob und in welchem Maße die gesellschaftlichen Missstände dem Kapitalismus zuzuschreiben sind. Einige sehen die Quelle gesellschaftlicher Übel anderswo: in der natürlichen Gier oder Faulheit der Menschen, der demographischen Entwicklung, dem Machttrieb politischer Entscheidungsträger oder industriell-technologischen Entwicklungen. Sie betrachten den Kapitalismus zugleich als ein hochdynamisches und äußerst produktives Wirtschaftssystem, das in erster Linie dazu beiträgt, die gesellschaftlichen Problemlagen zu bewältigen oder zumindest abzumildern. Die Gegenposition hebt hervor, dass der Kapitalismus über den Mechanismus einer profitgetriebenen Akkumulation ökonomische Krisen, soziale Notlagen und Ungleichheiten, ökologische Schäden und demokratische Deformationen systematisch generiert.Für POLITIKUM drängt sich die Frage auf, wie sich die zeitgenössische Kapitalismuskritik darstellt. Welche konzeptionellen Überlegungen leiten sie an? Welche Entwicklungen und Gegenstände – etwa die liberale Weltwirtschaftsordnung, soziale Ungleichheiten, autoritäre Verhältnisse oder ökologische Zerstörungen – geraten in die Kritik? Inwiefern thematisiert die Kritik hierbei die ökonomischen und politischen Macht- und Eigentumsverhältnisse? Welche Rolle kommt dem Staat zu? Gibt es auch eine rechte Kapitalismuskritik, und wie sieht diese aus? Und nicht zuletzt: Welche alternativen Formen des Wirtschaftens und der Lebensweise werden angedacht?
Gleichwertige Lebensverhältnisse - Vision oder Illusion
Für viele Jahrzehnte sind in Deutschland tausende Kilometer an Gleisstrecken stillgelegt worden. Nach der Privatisierung der Bundesbahn sollte die Bahn AG auf Gewinn getrimmt und für den Börsengang attraktiv gemacht werden. Während der Fernverkehr auf den Magistralen alle Aufmerksamkeit genoss, zog sich die Bahn aus der Fläche weiter zurück. Die volks- und betriebswirtschaftlichen Daten sprachen eine deutliche Sprache: unrentabel. Es bedurfte der beiden Dürrejahre 2018 und 2019, alarmierender Berichte über das Artensterben und der Fridays-for-Future-Bewegung, um die Erkenntnis mehrheitsfähig zu machen, dass der auf der Verbrennungstechnologie beruhende Individualverkehr nicht auf ewig zu annehmbaren gesamtgesellschaftlichen und -wirtschaftlichen Kosten die Hauptlast des Verkehrs tragen kann. Die Antwort ist unter anderem die Senkung der Mehrwertsteuer auf Bahntickets, es sollen sogar einige Strecken wieder an das Schienennetz angeschlossen werden. Das ist eine gute Nachricht. Doch sie hat einen bitteren Beigeschmack. Lange war kein sozial- oder regionalpolitisches Argument und kein Hinweis auf verödende Städte und sterbende Dörfer stark genug, um bei den Verantwortlichen einen verkehrspolitischen Sinneswandel auszulösen. Dazu bedurfte es des Bienensterbens. Die Menschen in den buchstäblich abgehängten Regionen fragen sich mit einiger Berechtigung, ob das mehr zählt als sie. Diese Sorge ist zwar nicht ganz schlüssig, weil es letztendlich um unterschiedliche Dinge geht. Verständlich ist sie dennoch. Daran zeigt sich, dass die Stadt-Land-Problematik nicht allein eine Frage „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ist, sondern eine der gegenseitigen Achtung. Denn die Zahlen weisen darauf hin, dass die Infrastruktur in Deutschland von wenigen Ausnahmen abgesehen auch im ländlichen Raum gut ist. Doch was soll ein Wolfratshausener davon halten, dass die Münchener Metropole zunehmend auf die Wasserreserven des Voralpenlands zugreift, die erholungsbedürftigen Großstädter die dortige Infrastruktur massiv in Anspruch nimmt und die Ankunft des Wolfes bejubeln, wohl wissend, dass dieser auf der Theresienwiese keine Schafe schlagen wird? Hier sind Nutzen und Belastung – gefühlt oder tatsächlich – zu ungleich verteilt. Das wird eine zukünftige Infrastrukturpolitik zu beachten haben. Die Schattenseite der Großstadt zeigt sich hingegen bei der Wohnungssuche. Hier gehen Politik- und Marktversagen Hand in Hand, haben einen langsamen Prozess der „Gentrifizierung“ nach sich gezogen, der das Gesicht zunächst eines Quartiers, dann eines Stadtteils und schließlich einer ganzen Stadt verändern kann. Soll diesen Entwicklungen Einhalt geboten werden, wird den Kommunen eine Schlüsselrolle zukommen müssen. Ob sie dazu – rechtlich und vor allem finanziell – in die Lage versetzt werden, steht in den Sternen. Dabei wird sich an dieser Frage auch entscheiden, ob die Menschen den Eindruck zurückgewinnen, durch ihr Votum bei der Wahl einen Unterschied zu bewirken, weil die Kommunen mehr als ihre Pflichtaufgaben zu erfüllen in der Lage sein werden.