Gleichwertige Lebensverhältnisse - Vision oder Illusion

Politikum 3/2020

herausgegeben von
Stefan Schieren
unter Mitarbeit von
Hans-Jürgen Bieling, Matthias Furkert, Martin Kronauer, Kevin Kühnert, Antonia Milbert, Matthias Möhring-Hesse, Christian A. Oberst, Madlen Preuß, Joachim Ragnitz, Stefan Schieren, Klaus Stüwe

Für viele Jahrzehnte sind in Deutschland tausende Kilometer an Gleisstrecken stillgelegt worden. Nach der Privatisierung der Bundesbahn sollte die Bahn AG auf Gewinn getrimmt und für den Börsengang attraktiv gemacht werden. Während der Fernverkehr auf den Magistralen alle Aufmerksamkeit genoss, zog sich die Bahn aus der Fläche weiter zurück. Die volks- und betriebswirtschaftlichen Daten sprachen eine deutliche Sprache: unrentabel. Es bedurfte der beiden Dürrejahre 2018 und 2019, alarmierender Berichte über das Artensterben und der Fridays-for-Future-Bewegung, um die Erkenntnis mehrheitsfähig…

... mehr

Bestellnummer: Pk3_20
EAN: Pk3_20
ISBN: Pk3_20
Reihe: Politikum
Erscheinungsjahr: 2020
Seitenzahl: 80
Produktinformationen

Für viele Jahrzehnte sind in Deutschland tausende Kilometer an Gleisstrecken stillgelegt worden. Nach der Privatisierung der Bundesbahn sollte die Bahn AG auf Gewinn getrimmt und für den Börsengang attraktiv gemacht werden. Während der Fernverkehr auf den Magistralen alle Aufmerksamkeit genoss, zog sich die Bahn aus der Fläche weiter zurück. Die volks- und betriebswirtschaftlichen Daten sprachen eine deutliche Sprache: unrentabel. Es bedurfte der beiden Dürrejahre 2018 und 2019, alarmierender Berichte über das Artensterben und der Fridays-for-Future-Bewegung, um die Erkenntnis mehrheitsfähig zu machen, dass der auf der Verbrennungstechnologie beruhende Individualverkehr nicht auf ewig zu annehmbaren gesamtgesellschaftlichen und -wirtschaftlichen Kosten die Hauptlast des Verkehrs tragen kann. Die Antwort ist unter anderem die Senkung der Mehrwertsteuer auf Bahntickets, es sollen sogar einige Strecken wieder an das Schienennetz angeschlossen werden.

Das ist eine gute Nachricht. Doch sie hat einen bitteren Beigeschmack. Lange war kein sozial- oder regionalpolitisches Argument und kein Hinweis auf verödende Städte und sterbende Dörfer stark genug, um bei den Verantwortlichen einen verkehrspolitischen Sinneswandel auszulösen. Dazu bedurfte es des Bienensterbens. Die Menschen in den buchstäblich abgehängten Regionen fragen sich mit einiger Berechtigung, ob das mehr zählt als sie. Diese Sorge ist zwar nicht ganz schlüssig, weil es letztendlich um unterschiedliche Dinge geht. Verständlich ist sie dennoch.

Daran zeigt sich, dass die Stadt-Land-Problematik nicht allein eine Frage „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ist, sondern eine der gegenseitigen Achtung. Denn die Zahlen weisen darauf hin, dass die Infrastruktur in Deutschland von wenigen Ausnahmen abgesehen auch im ländlichen Raum gut ist. Doch was soll ein Wolfratshausener davon halten, dass die Münchener Metropole zunehmend auf die Wasserreserven des Voralpenlands zugreift, die erholungsbedürftigen Großstädter die dortige Infrastruktur massiv in Anspruch nimmt und die Ankunft des Wolfes bejubeln, wohl wissend, dass dieser auf der Theresienwiese keine Schafe schlagen wird? Hier sind Nutzen und Belastung – gefühlt oder tatsächlich – zu ungleich verteilt. Das wird eine zukünftige Infrastrukturpolitik zu beachten haben. Die Schattenseite der Großstadt zeigt sich hingegen bei der Wohnungssuche. Hier gehen Politik- und Marktversagen Hand in Hand, haben einen langsamen Prozess der „Gentrifizierung“ nach sich gezogen, der das Gesicht zunächst eines Quartiers, dann eines Stadtteils und schließlich einer ganzen Stadt verändern kann. Soll diesen Entwicklungen Einhalt geboten werden, wird den Kommunen eine Schlüsselrolle zukommen müssen. Ob sie dazu – rechtlich und vor allem finanziell – in die Lage versetzt werden, steht in den Sternen. Dabei wird sich an dieser Frage auch entscheiden, ob die Menschen den Eindruck zurückgewinnen, durch ihr Votum bei der Wahl einen Unterschied zu bewirken, weil die Kommunen mehr als ihre Pflichtaufgaben zu erfüllen in der Lage sein werden.

Inhaltsübersicht

 

Schwerpunkt
Wie eine demokratische Verheißung scheiterte
Die Ankündigung, die „Grenzen des Staates zurück-
drängen“ zu wollen, enthielt nicht nur ein Freiheits-
versprechen, sondern war auch eine demokratische
Verheißung. Sie blieb allerdings unerfüllt.

 

 

Schwerpunkt
Fundamentalökonomie
Mit diesem Begriff wird die Bedeutung materieller
und immaterieller Güter der Daseinsvorsorge für
jeden Einzelnen wie auch für Staat, Gesellschaft und
Wirtschaft beschrieben, die der Staat verantworten
muss.

 

Schwerpunkt
Gentrifizierung
Der Rückzug des Staates aus dem Wohnungsbau
und die Preisexplosion bei Immobilien in einigen
Städten hat Selektions- und Verdrängungsprozesse
ausgelöst, die das Gesicht von Stadtvierteln und
ganzen Städten verändert haben.

 

 

 

Schwerpunkt
Stadt versus Land?
Bei allen Klagen über das Gefälle zwischen Stadt
und Land ist die Versorgung mit Leistungen der
Daseinsvorsorge insgesamt überwiegend gut. Ver-
besserungsbedarf gibt es allerdings bei Vielfalt und
Qualität des Angebots.

 

Interview
Ost und West
Auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall teilt sich das
Land in Ost und West. Neben einer „Anerkennungs-
diskrepanz“ aus „ostdeutscher“ Perspektive werden
die alten Trennlinien hauptsächlich von Menschen
mit westlicher Sozialisation aufrechterhalten.

 

Pro & Contra
Gleichwertige Lebensverhältnisse
Nutzen und Zweck von Regionalfördermaßnah-
men werden unterschiedlich bewertet. Sind sie für
den sozialen Zusammenhalt erforderlich und ist
die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ ein
sinnvolles Ziel?

 

 

Interview
Die Politik hat sich selbst kastriert
Die Daseinsvorsorge in öff entlicher Hand dient
mehr als der Bereitstellung wichtiger Güter und
Dienstleistungen. Sie zähmt den Kapitalismus,
dämpft die Ungleichheit und stärkt, richtig
gemacht, Teilhabe und Demokratie.

 

Forum
Wahrheit und Lüge in postfaktischen Zeiten
Die politische Lüge kommt, selbstverständlich, auch
in der Demokratie vor. Die hält das aus. Eine Kul-
tur der Lüge, wie sie im „postfaktischen Zeitalter“
gedeiht, ist hingegen eine Bedrohung.

 

 

Gleichwertige Lebensverhältnisse –
Vision oder Illusion

Stefan Schieren
„Jeder Dollar ein Wahlzettel“. Wie eine
demokratische Verheißung scheiterte     4

Hans-Jürgen Bieling u. Matthias Möhring-Hesse
Den Staat in die Pflicht nehmen. Staatliche
Gewährleistung der öff entlichen Infrastuktur     10

Martin Kronauer
Gentrifizierung und soziale Polarisierung
in der Stadt     18

Antonia Milbert und Matthias Furkert
Überversorgte Städte, unterversorgtes Land?
Regionale Selektionsprozesse im Bereich der
Daseinsvorsorge     26

Madlen Preuß
Ein neuer „Ost-West-Konfl ikt“? Deutschland
im Jahr 30 der Wiedervereinigung     34

 

Pro & Contra

Christian A. Oberst
Warum es in der Sozialen Marktwirtschaft
der Regionalpolitik bedarf     43

Joachim Ragnitz
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse:
ein untaugliches Konzept     50


Interview mit Kevin Kühnert
Die Politik hat sich selbst kastriert     58


Forum

Klaus Stüwe
Wann Lügen zum Problem werden.
Zum Umgang mit der Wahrheit im
postfaktischen Zeitalter     66


Rezensionen

Bücher zum Thema     72
Bücher für den Politikunterricht     77
Das streitbare Buch     78
Literaturtipps

Autor*innen

Dr. Hans-Jürgen Bieling
ist Professor für Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen und Mitherausgeber von Politikum.

Dr. Matthias Furkert
ist wissenschaftlicher Referent im Referat Raumentwicklung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Er beschäftigt sich vornehmlich mit Themen der Raumordnung und Landesplanung.

Prof. Dr. Martin Kronauer
hat den Lehrstuhl für Strukturwandel und Wohlfahrtsstaat in internationaler Perspektive an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin inne.

Antonia Milbert
ist wissenschaftliche Referentin im Bereich Laufende Raumbeobachtung Deutschland im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung.

Dr. Matthias Möhring-Hesse
ist Professor für Theologische Ethik/Sozialethik an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Dr. Christian A. Oberst
ist seit 2018 Referent für Wohnungspolitik und Immobilienökonomik im Institut der deutschen Wirtschaft, Köln. Zudem ist er ehrenamtlich Vorstandsmitglied des International Network for Economic Research.

Dr. Madlen Preuß
lehrt und forscht zu den Schwerpunkten soziale Ungleichheit und empirische Sozialforschung am Fachbereich Sozialwesen an der Fachhochschule Bielefeld und ist assoziiertes Mitglied des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.

Dr. Stefan Schieren
ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Mitherausgeber von Politikum.