Zu "Stefan Schieren" wurden 8 Titel gefunden

Die Vermessung der Ampel
„Zeitenwende“ – dieses Wort steht über dem ersten Jahr der Ampelkoalition. Dabei hatten sich die drei Koalitionsparteien so viel vorgenommen. Eine Zukunftskoalition sollte es sein, die „mehr Zukunft wagen“ wollte. Ein sozio-ökologische Wende war geplant. Die Außenpolitik sollte wertegeleitet sein und feministischer werden. Ein neuer Stil sollte Einzug halten in die Politik, wofür die Koalitionsverhandlungen einen Vorgeschmack hatten geben sollen. Das waren ambitionierte Pläne, und zunächst gelang ein guter Start. Dann kehrte der Krieg nach Europa zurück und verschob alle Koordinaten. Die Vorhaben des Koalitionsvertrags gerieten zwar nicht gänzlich aus dem Blick, doch seither bestimmt die neue Weltlage die Politik, die die Regierung wegen ihrer Auswirkungen auf die soziale und wirtschaftliche Lage im Land vor ungeplante und ungeahnte Aufgaben stellt. Die Inflation ist zurückgekehrt, der Winter 2022/23 könnte im Sinne des Wortes ein kalter werden, die Russlandpolitik der letzten zwanzig Jahre liegt in Trümmern, die Chinapolitik steht vor schmerzlichen Korrekturen, der deutsch-französische Motor stottert, in Italien und Schweden triumphieren rechtspopulistische Parteien, in der Energiepolitik rächen sich die zahlreichen Versäumnisse und Fehlentscheidungen. Die Deutschen werden sich auf mehr Unsicherheit einstellen müssen – sozial und sicherheitspolitisch. Kein Zweifel. Die Bundesregierung steht vor einer großen Bewährungsprobe. Die Koalition tut sich angesichts der weltanschaulichen Distanz von FDP und Grünen schwer damit, geräuschlos zu Lösungen zu finden. Doch genauso wahr ist, dass sich die Regierung mit einer Reihe von Entscheidungen gegen die vielfältigen Auswirkungen der Krise stemmt, die vor einem Jahr noch undenkbar gewesen wären und größtes Erstaunen hervorgerufen hätten. Ob es sich dabei um die richtigen Entscheidungen gehandelt hat, wird die Zeit zeigen müssen. Das sollte uns aber nicht daran hindern, nach einem Jahr eine erste Bilanz der Ampelkoalition zu ziehen.
Das schwierige koloniale Erbe
Mit der Eröffnung des Humboldt Forums hat sich die Debatte um den Umgang mit unserem schwierigen kolonialen Erbe intensiviert. Sie hat gezeigt, dass es um weit mehr geht als um die Restitution von geraubten oder auch rechtmäßig erworbenen Kulturgütern an die Herkunftsgesellschaften. Es geht darum, wie wir uns selbst und andere sehen, es geht um Versöhnung und Gerechtigkeit, gegenseitige Wertschätzung und Vertrauen. Globale Krisen – 80 Millionen Flüchtlinge, die Verbreitung tödlicher Seuchen, der gerechte Zugang zu natürlichen Ressourcen, die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen weltweit etc. – lassen sich nur durch internationale Zusammenarbeit lösen. Das gelingt nicht, wenn die Vergangenheit zwischen den früheren Kolonialmächten und den von diesen unterdrückten und ausgebeuteten Menschen steht. Die Frage ist also keine nationale, sondern eine internationale. Dieses Heft nimmt daher eine internationale Perspektive ein und lässt Wissenschaftler*innen und Fachleute aus verschiedenen Ländern zu Wort kommen. Dabei zeigt sich, dass strittige Restitutionsfragen nicht die Gegensätze verschärfen müssen, sondern der Umgang mit ihnen die Möglichkeit bietet, eine weitergehende Verständigung oder zumindest ein größeres gegenseitiges Verständnis zu erreichen. Die Museen übernehmen dabei eine wichtige Aufgabe. Das ist deswegen nötig, weil das geltende Recht nicht geeignet ist, die anstehenden Probleme zu lösen. Wie ein Recht aussehen kann, dass zumindest ein Anfang sein kann, um zu einem Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu kommen, zeigt ein Blick über den Atlantik. Der Native American Grave and Protection Repatriation Act 1990 könnte hier Anschauungsmaterial für die früheren Kolonialmächte bzw. die Herkunftsgesellschaften in Europa liefern. Wie nötig eine sachkundige und historisch korrekte Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit für die Gegenwart ist, zeigt das Beispiel Großbritannien. In Verklärung einer so wahrgenommenen glorreichen Geschichte wird das Heil in einem „global Britain“ gesehen. Dabei ist es „wahrscheinlich nur möglich, beim britischen Empire nostalgisch zu werden, wenn man den Großteil seiner Geschichte vergisst“ (Robert Saunders).
Gleichwertige Lebensverhältnisse - Vision oder Illusion
Für viele Jahrzehnte sind in Deutschland tausende Kilometer an Gleisstrecken stillgelegt worden. Nach der Privatisierung der Bundesbahn sollte die Bahn AG auf Gewinn getrimmt und für den Börsengang attraktiv gemacht werden. Während der Fernverkehr auf den Magistralen alle Aufmerksamkeit genoss, zog sich die Bahn aus der Fläche weiter zurück. Die volks- und betriebswirtschaftlichen Daten sprachen eine deutliche Sprache: unrentabel. Es bedurfte der beiden Dürrejahre 2018 und 2019, alarmierender Berichte über das Artensterben und der Fridays-for-Future-Bewegung, um die Erkenntnis mehrheitsfähig zu machen, dass der auf der Verbrennungstechnologie beruhende Individualverkehr nicht auf ewig zu annehmbaren gesamtgesellschaftlichen und -wirtschaftlichen Kosten die Hauptlast des Verkehrs tragen kann. Die Antwort ist unter anderem die Senkung der Mehrwertsteuer auf Bahntickets, es sollen sogar einige Strecken wieder an das Schienennetz angeschlossen werden. Das ist eine gute Nachricht. Doch sie hat einen bitteren Beigeschmack. Lange war kein sozial- oder regionalpolitisches Argument und kein Hinweis auf verödende Städte und sterbende Dörfer stark genug, um bei den Verantwortlichen einen verkehrspolitischen Sinneswandel auszulösen. Dazu bedurfte es des Bienensterbens. Die Menschen in den buchstäblich abgehängten Regionen fragen sich mit einiger Berechtigung, ob das mehr zählt als sie. Diese Sorge ist zwar nicht ganz schlüssig, weil es letztendlich um unterschiedliche Dinge geht. Verständlich ist sie dennoch. Daran zeigt sich, dass die Stadt-Land-Problematik nicht allein eine Frage „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ist, sondern eine der gegenseitigen Achtung. Denn die Zahlen weisen darauf hin, dass die Infrastruktur in Deutschland von wenigen Ausnahmen abgesehen auch im ländlichen Raum gut ist. Doch was soll ein Wolfratshausener davon halten, dass die Münchener Metropole zunehmend auf die Wasserreserven des Voralpenlands zugreift, die erholungsbedürftigen Großstädter die dortige Infrastruktur massiv in Anspruch nimmt und die Ankunft des Wolfes bejubeln, wohl wissend, dass dieser auf der Theresienwiese keine Schafe schlagen wird? Hier sind Nutzen und Belastung – gefühlt oder tatsächlich – zu ungleich verteilt. Das wird eine zukünftige Infrastrukturpolitik zu beachten haben. Die Schattenseite der Großstadt zeigt sich hingegen bei der Wohnungssuche. Hier gehen Politik- und Marktversagen Hand in Hand, haben einen langsamen Prozess der „Gentrifizierung“ nach sich gezogen, der das Gesicht zunächst eines Quartiers, dann eines Stadtteils und schließlich einer ganzen Stadt verändern kann. Soll diesen Entwicklungen Einhalt geboten werden, wird den Kommunen eine Schlüsselrolle zukommen müssen. Ob sie dazu – rechtlich und vor allem finanziell – in die Lage versetzt werden, steht in den Sternen. Dabei wird sich an dieser Frage auch entscheiden, ob die Menschen den Eindruck zurückgewinnen, durch ihr Votum bei der Wahl einen Unterschied zu bewirken, weil die Kommunen mehr als ihre Pflichtaufgaben zu erfüllen in der Lage sein werden.
Versandkostenfrei
Mittendrin - außen vor
10 Jahre Behindertenrechtskonvention (BRK) „Inklusion bedeutet, dass kein Mensch ausgeschlossen, ausgegrenzt oder an den Rand gedrängt werden darf. Wir haben alle die gleichen Rechte und den Anspruch darauf, dass der Staat sie umsetzt“, so das Deutsche Institut für Menschenrechte. Die Behindertenrechtskonvention unterstreicht den menschenrechtlichen Status von Inklusion. Menschenrechte gewährleisten den Schutz vor jeglicher Form von Diskriminierung, zum Beispiel aufgrund einer Behinderung, der Hautfarbe, der sozialen, ökonomischen, ethnisch-nationalen Herkunft, der Geschlechtsidentität oder der sexuellen Orientierung. Der Inklusionsbegriff bezieht sich also nicht mehr nur auf die Belange von Menschen mit Behinderungen – auch wenn für diese Gruppe die BRK eine besondere Errungenschaft darstellt: Sie hat erfolgreich Rechte und Ansprüche eingefordert, von denen sie lange ausgeschlossen war. Mit dieser erweiterten Perspektive erfährt das Verständnis von „Behinderung“ einen Paradigmenwechsel: Behinderung ist kein zuschreibbares Merkmal, sondern bezieht sich auf Barrieren – baulich, strukturell und in den Köpfen, durch die gesellschaftliche Teilhabe behindert oder gar versagt wird. 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Diese Ausgabe von POLITIKUM geht der Frage nach, welche Bilanz sich nach zehn Jahren für Deutschland ziehen lässt. Inklusion wirft gesellschaftliche Grundfragen auf, die nicht nur politisch, sondern von verschiedensten Akteuren diskutiert und aufgegriffen werden müssen: Wie stellen wir uns ein gleichberechtigtes Leben und Teilhabe aller in einer offenen Gesellschaft vor? Unter welchen Bedingungen wird Inklusion erst möglich? Wann sprechen wir von Exklusion? Was bedeutet das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Die Inklusionsfrage bezieht sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche, auf verfassungsrechtliche Entwicklungen, auf das System sozialer Leistungen, den Arbeitsmarkt, das Zusammenleben in migrationsbedingter Vielfalt, auf den Arbeitsmarkt und natürlich auf das System Bildung sowie die Institution Schule. Dabei sind die Entwicklungen mal fortschrittlich, mal rückläufig, mal widersprüchlich. Inklusion ist nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg.
Versandkostenfrei
Utopien
Im Alltag wird das Wort „utopisch“ gemeinhin für etwas verwendet, das als phantastisch und nicht wirklich gilt. Wer „utopischen“ Ideen anhängt, wird nicht selten als verträumt, als weltfremd angesehen. Dabei hat die Utopie in der Philosophie und in der Literatur Europas eine ebenso lange Tradition, wie sie eine wichtige Funktion im politischen Denken übernommen hat. Bereits in der Antike träumte Platon von einem Ort als Gegenentwurf zu den von ihm kritisierten Zuständen in Athen: Atlantis. Die Menschen der Antike und des Mittelalters erdachten viele weitere Sehnsuchtsorte, die als Gegenentwurf zum eigenen Jammertal zu verstehen sind: das Paradies, Montsalvech, der Gottesstaat oder das Schlaraffenland. Es war schließlich Thomas Morus, der mit seinem Roman „Utopia“ eine neue literarische Gattung schuf und ihr sogleich den Namen verlieh. Seither sind unzählige Werke in Literatur, Philosophie, Bildhauerei, Malerei, Film und Computerspiel entstanden, die Phantasiewelten erschaffen, meist zur Unterhaltung, doch häufig genug mit dem Ziel, die politischen und gesellschaftlichen Zustände zu kritisieren und zu verändern. Einige dieser Utopien – wie der Kommunismus – wurden zu wirkmächtigen Ideologien, die den Gang der Weltgeschichte entscheidend verändern sollten und ihrerseits beißende Kritik erzeugten, die um 1900 eine wieder neue Gattung hervorbrachten: die Dystopie. Diese Ausgabe von Politikum befasst sich mit den verschiedenen Facetten utopischer Entwürfe. Im Anschluss an einen Überblicksbeitrag folgt eine Einführung in die frühen Vorstellungen vom idealen Staat. Mit dem Ausgreifen Europas auf die Welt wuchs das Bedürfnis, eine Ordnung zu schaffen, die den Frieden zwischen den in Entstehung begriffenen Territorialstaaten jenseits dynastischer Arrangement garantieren könnte. Die Sehnsucht nach dem „Ewigen Frieden“ (Immanuel Kant) stand an der Wiege des Völkerbunds und der Vereinten Nationen. Die Skepsis, ob die Menschheit in der Lage sein würde, eine ideale Ordnung zu erschaffen, ließ einige Denker schon früh auf den Gedanken verfallen, dass dazu ein „neuer Mensch“ die Voraussetzung sei. Der entsprechende Beitrag zeigt, dass die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit zu eröffnen schienen, solch vage Ideen zu konkreten Plänen weiterentwickeln zu können, bis der Wahn vom „Herrenmenschen“ die zerstörerische Kraft derartiger dystopischer Vorstellungen offenbarte.Auch andere Utopien erschienen nicht als Verheißung, sondern als elementare Bedrohung und brachten ein neues Genre hervor, die Dystopie, die in Filmen und Videospielen deutlich weitere Verbreitung finden als utopische Entwürfe. Die Diskussion um ein „Grundeinkommen“ ist ebenso konkret und aktuell, wie sie kontrovers ist. Ist sie eine „Utopie, die keine bleiben muss“ und – wenn ja – wie ist es um die Finanzierbarkeit bestellt? Oder ist das Grundeinkommen ein Gedanke, der nicht zu realisieren ist? Bei der Gegenüberstellung der konträren Meinungen wird zudem deutlich, dass die Protagonisten von sehr unterschiedlichen Dingen sprechen, wenn von „Grundeinkommen“ die Rede ist. Um ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ für alle Bewohner in Deutschland geht es nämlich in aller Regel nicht, womit die Diskussion aber nicht nur auf dem Boden der harten ökonomischen Tatsachen landet, sondern ihren revolutionären Charakter einbüßt. Nicht alles, was „utopisch“ des Weges kommt, ist weltfremd oder gar überflüssig. Als Ziel oder als Kontrastprogramm zu einer möglicherweise allzu buchhalterischen Politik haben Utopien auch heute ihre politische Funktion.
EUrosion
Am 25. März 2017 jährt sich zum 60. Mal die Unterzeichnung der Römischen Verträge. Die Erinnerung an dieses zentrale Gründungsdokument der Europäischen Union wird von einigen offiziellen Feierlichkeiten begleitet. Doch so richtig zum Feiern ist derzeit allenfalls den Nationalisten, nicht aber den Befürwortern der europäischen Integration zu Mute. Schließlich befindet sich die EU in einer tiefen Krise, deren Ausgang – trotz oder wegen ihrer langen Dauer – noch immer nicht absehbar ist. Eine besondere Brisanz liegt dabei in der Unübersichtlichkeit und wechselseitigen Verstärkung unterschiedlicher Krisendimensionen: der Wirtschafts- und Finanzkrise, der Eurokrise, der Krise demokratischer Organisationsformen, der Krise der europäischen Migrationspolitik und nicht zuletzt spezifischer sozialer und kultureller Krisen. In dieser Gemengelage folgt der Integrationsprozess nicht mehr, wie noch in der Vergangenheit, dem Muster von Entwicklungskrisen. Diese hatten noch stets eine Krisenlösung in Gestalt einer weiteren Vergemeinschaftung der Politik eröffnet. Derzeit – der Brexit und die nationalistisch-populistische Aufladung der öffentlichen Debatten weisen hierauf hin – bewegt sich der europäische Geleitzug jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Vieles deutet darauf hin, dass sich die EU in einer Bestands- oder Existenzkrise befindet oder doch zumindest in einem Zwischenstadium der EUrosion, deren Verlauf ungewiss ist und europapolitisch bedenklich stimmt. Genau diese Unübersichtlichkeit und Ungewissheit soll in der vorliegenden Ausgabe von POLITIKUM ergründet, kontrovers diskutiert und, soweit möglich, auch reduziert werden. In den Beiträgen geht es unter anderem um folgende Fragen: Wie stellt sich die aktuelle Krise historisch dar? Was sind ihre zentralen Dimensionen und Ursachen? Inwiefern wird das Auseinanderdriften Europas nicht nur durch ökonomische, sondern auch durch soziale und kulturelle Prozesse begünstigt? Warum und in welchen Formen wird der nationalistische Populismus immer stärker? Und welche Folgen hat dies für den Fortgang der Integration? Kann die EU durch die Förderung eines „Europas der Regionen“ stabilisiert werden? Welche Auswege aus der Krise sind derzeit denkbar? Welche Schritte sollten ergriffen werden? Anlass zu optimistischen Szenarien gibt es momentan sicherlich kaum, so aber doch vielleicht Schimmer der Hoffnung.
Big Data
Was kommt da bloß auf uns zu? Eine Bedrohung, größer als die Atombombe, wie Robert Shiller vermutet, einer der schärfsten Kritiker des Internets? Oder sind die Deutschen in einem für sie typischen Kulturpessimismus und paralysiert durch ungerechtfertigte Zukunftsängste gerade dabei, ihren Wohlstand aufs Spiel zu setzen, wie Christian Illek warnt, Personalvorstand bei der Telekom?Die öffentliche Debatte über das Internet und seinen großen Bruder „Big Data“ hat erheblich an Dynamik und Schärfe zugenommen, seitdem Edward Snowden enthüllt hat, welche Möglichkeiten in Big Data stecken, zum Segen und zum Fluch der Menschen. Unsicherheit hat natürlich Unsicherheit zur Folge. Propheten des Untergangs wie des Heils haben Hochkonjunktur. Wie so oft dürfte die Wahrheit nahe der Mitte liegen. Das Internet wird die Arbeitswelt verändern, aber nicht das Oberste nach unten kehren. Die Vorratsdatenspeicherung wird die Persönlichkeitsrechte der Bürger betreffen, aber deren Freiheit nicht zerstören. Das Internet wird viele Bereiche des Lebens bereichern. Jenseits davon verändert die Datenerzeugung und die Analyse von Massendaten unser Bild von der Wirklichkeit, unsere Wahrnehmung der Welt. Dieser Vorgang ist ein eminent politischer, der größte Achtsamkeit verdient und der politischen und rechtlichen Bearbeitung bedarf. Wir brauchen mehr Governance der Algorithmenwelt, damit uns Big Data nicht aus dem Ruder läuft! (Klaus Mainzer) So wie sich unser Bild der und auf die Welt ändert, verändern sich die Wissenschaften, die sich mit deren Vermessung und Erfassung beschäftigen. Themen, Fragestellungen, Theorien und Methoden werden sich erheblich wandeln. Alle diese Aspekte und mehr behandelt das neue Heft "Politikum".
Kratzer am Demokratiemodell
Der Begriff „Demokratiemodell“ im Titel dieses Heftes verweist auf zweierlei. Zum einen erscheint das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland hier auf die zentralen Grundsätze und Grundprinzipien reduziert, nach denen das politische Gemeinwesen gestaltet wird. Zum anderen enthält dieser Begriff einen normativen Anspruch, dem die Realität der Demokratie immer nur „mehr oder weniger“ entsprechen kann, was in dem Begriff „Kratzer“ seinen Ausdruck findet. Der Titel „Kratzer am Demokratiemodell“ soll deutlich machen, dass die in Wissenschaft und Öffentlichkeit verschärft diskutierten Krisendiagnosen, die sich zunehmend im Begriff der Postdemokratie bündeln und mittlerweile sogar zu der Frage geführt haben, ob wir überhaupt noch eine „echte“ Demokratie haben, nicht geteilt werden. Ein allgemeiner Wandel hin zu einer nachdemokratischen Form ist in der Gegenwart nicht in Sicht. Selbst funktionierende Demokratien stehen heute vor großen Herausforderungen und bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zeigen sich nicht nur Mängel, sondern auf einigen Ebenen auch Fehlentwicklungen. Welche langfristigen Folgen diese für die Demokratie haben können und ob sie in Zukunft zu einer Krise führen, wird kontrovers diskutiert. Die Fragen, die sich daraus ergeben, stehen im Zentrum dieses Heftes: Inwieweit zeichnet die Diagnose „Postdemokratie“ ein zutreffendes Bild von der Gesamtlage der modernen Demokratie oder erfassen andere Demokratiekonzepte den Gestaltwandel der Demokratie präziser? Welche negativen Folgen hat die Zunahme konkordanzdemokratischer Tendenzen z. B. auf die Debattenkultur in unserer Demokratie? Welche Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf politische Beteiligung, politische Zufriedenheit und Demokratiezufriedenheit sind zu erkennen? Ein Teil der Krisendiagnosen der Demokratie betrifft das Parteiensystem. Steckt das Parteiensystem ebenfalls in einer tiefgreifenden Krise oder lässt sich nur von einem begrenzten Wandel bei gleichbleibender Stabilität sprechen? Auch der Deutsche Bundestag, dem man einen weitgehenden Machtverlust attestiert, wird so in die Krisenszenarien hineingezogen. Gefährden die Skandale um NSU und NSA die Demokratie? Inwieweit müssen Lobbyismus und Korruption als Krisensymptome der Demokratie wahrgenommen werden? Die Beantwortung all dieser Fragen zeigt: Kratzer am Demokratiemodell sind nicht zu leugnen. Dennoch: Deutschland verfügt nach wie vor über eine intakte Demokratie.