Der Rezensent

Prof. Dr. Michael May lehrt Didaktik der Politik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Bücher für den Politikunterricht - POLITIKUM 2/2024

David Jahr: Die Politik der Schulklasse. Dokumentarische Videoanalysen unterrichtlicher Praktiken zwischen Integration und Destruktion. Springer VS: Wiesbaden 2022, 353 S.

Politik im Fachunterricht zu unterrichten bedeutet mehr, als nur über Politik zu sprechen. Insbesondere offene Unterrichtsformate – so ein allgemeines Ergebnis der an der Universität Halle vorgelegten Dissertation – lassen die Schulklasse selbst als politisches Gebilde zum Vorschein kommen. Die vorliegende Arbeit tritt mit einem „bescheidenen“ (S. 10) Anspruch auf. Es geht um die Frage, was passiert, wenn Schüler mit fachspezifischen Anforderungssituationen konfrontiert werden. Untersucht wurden videographierte fiktive Dorfgründungen (genetische Politikdidaktik), in deren Rahmen von den Schülern drei Typen von Anforderungssituationen bearbeitet werden sollten: nach welchen Regeln wollen wir diskutieren, wie sollen allgemeinverbindliche Entscheidungen zustande kommen (Herrschaft), wie sollen die erwirtschafteten Güter verteilt werden? Die Dorfgründungen fanden in unterschiedlichen Schulformen (Jahrgänge 9 und 10) in Sachsen-Anhalt statt, in einer großstädtischen Gesamtschule (Fall Erle), einem großstädtischen Gymnasium (Fall Birke) sowie einer ländlichen (Fall Eiche) und mittelstädtischen Sekundarschule (Fall Weide). Die Hintergrundannahme und Forschungslücke besteht darin, dass Politikunterricht in der Schulklasse weder allein als Einlassung auf die Sache noch allein als soziales Geschehen zu verstehen ist. Im Politikunterricht kommt vielmehr alles zusammen, die fachunterrichtliche Sache wird durch die soziale Struktur der Schulklasse (organisationaler Rahmen, Lehrer-Schüler-Verhältnis, Peerkulturen) ‚hindurch‘ verhandelt und konstituiert, die soziale Struktur aktualisiert und entwickelt sich in Auseinandersetzung der Schulklasse mit den fachlichen Anforderungssituationen. 

Die präzise Analyse dieses Gewebes durch den Autor führt auf sehr verdienstvolle Art und Weise politikdidaktische und schulpädagogisch-soziologische Perspektiven zusammen. Der Autor untersucht die „politische Prozessstruktur“ (S. 105) der Schulklassen. Es kommen also nicht vorrangig einzelne Schüler in den Blick, sondern das Zusammenwirken der Schulklasse insgesamt, inklusive der Lehrperson. Spannend ist die Nutzung der politikwissenschaftlichen Heuristik von Policy (Welche inhaltlichen Positionen werden entwickelt?), Polity (Von welchen expliziten und unausgesprochenen Regeln gehen die Lernenden aus?) und Politics (Welche Konfliktlinien entstehen und wie verläuft der Prozess der Entscheidungsfindung?). Forschungsmethodisch innovativ ist die Verknüpfung dieser Heuristik mit den Analyseinstrumenten der dokumentarischen Methode, die für die Interpretation herangezogen werden (z. B. expliziter und immanenter Sinn, Gegenhorizonte, Interaktionsorganisation) (S. 103 f.). Der Autor rekonstruiert anhand der vier untersuchten Fälle drei Typen. Der Typ…

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