Die neue Lust am Ersatz
Eine Rückbesinnung
„The future is vegan“ oder doch lieber Currywurst?
Der gegenwärtige Kulturkampf um Ernährungsweisen aus
geschichtlicher Perspektive: Welche Rolle spielten pflanzliche
Ersatzprodukte vom 18. Jahrhundert bis heute? Und welche
Erkenntnisse lassen sich hieraus für die aktuellen Debatten
um die „richtige“ Ernährung gewinnen?
Im August 2021 wagte VW Wolfsburg eine kleine
Revolution. Der „Kraftriegel des Facharbeiters“, die
Currywurst, wurde aus der Kantine im Markenhochhaus
verdammt, pflanzliche Ersatzprodukte inklusive
einer veganen Variante traten an ihre Stelle. Empörung
folgte, denn der vermeintlich zeitgemäße Ersatz
wurde als Angriff auf die Identität der Mehrzahl verstanden.
Zwei Jahre hielt die Kantine durch, doch angesichts
öffentlicher Kritik und der Abwanderung zu
anderen Kantinen kapitulierte sie im August letzten
Jahres. Die Currywurst, die vermeintlich echte, war
wieder erhältlich – doch nun lamentierten andere.
Wir wissen doch: „The future is vegan“.
Wo sich einreihen? Mir scheint Distanz zur neuen
Lust am Ersatz erforderlich. Solche Kämpfe sind nämlich
keineswegs neu. Wir schlagen heutzutage lediglich
ein neues Kapitel einer Geschichte auf, die im späten
18. Jahrhundert begann. Damals zerbrachen langsam
die ständischen Strukturen der vorindustriellen Welt,
eines trans- und vornationalen bäuerlichen Universums,
geprägt von steten Nahrungsmittelkrisen, von
der elementaren Sorge um das tägliche Brot. Essen
war existenziell, nur selten Lust. Essen war noch nicht
Wahlhandeln, die geringe Produktivität der Landwirtschaft
ließ selbst bei guter Ernte kaum mehr zu.
Ersatz als Teilhabe
Ersatz war im späten 18. Jahrhundert noch nicht
verengt auf bestimmte Produktgruppen, hieß Notnahrung
im Falle des Hungers. Der Begriff „Ersatz“
kam um 1780 auf, ergänzte den zuvor genutzten
Gelehrtenbegriff, das „Surrogat“. Für den gemeinen
Mann war beides fern, ihm ging es um einen Anteil
an der von Gott für alle geschaffenen Welt. Als Kolonialwaren
aufkamen, waren Rohrzucker, Schokolade,
Tabak und Destillate umkämpft. Rasch entstand eine
Kultur der Aneignung dieser Genussmittel durch das Bürgertum – und eine nachholende Bewegung der
breiten Bevölkerung.
Die deutschen Lande waren damals jedoch relativ
arm und verglichen mit dem Westen ökonomisch
rückständig. Das Land war von Kriegen zerfurcht,
Hunger gab es alle sieben Jahre, Hungerkrisen jede
Generation. Es fehlten Binnenmärkte, Zölle und Transportkosten
waren hoch, merkantilistische Industriepolitik
behinderte Importe. Deutsche Herrscher besaßen
keine Kolonien. Ressourcenarmut verwies auf
Surrogate.
Ersatz als Teilhabe bedeutete anfangs Substitute
der teuren Kolonialwaren. Auf der Tafel der Begüterten
umrahmten sie Geselligkeit und Feste. Surrogate
standen nicht für Nährwerte, sondern für ein wenig
Wärme, für befreiende Trunkenheit, für…
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