Der Autor

Uwe Spiekermann ist Sozial- und Wirtschaftshistoriker. 2008–2015 war er stv. Direktor des Deutschen Historischen Instituts Washington. Er forscht zur Geschichte der Ernährung im 19. und 20. Jahrhundert.

Die neue Lust am Ersatz

Eine Rückbesinnung

„The future is vegan“ oder doch lieber Currywurst? Der gegenwärtige Kulturkampf um Ernährungsweisen aus geschichtlicher Perspektive: Welche Rolle spielten pflanzliche Ersatzprodukte vom 18. Jahrhundert bis heute? Und welche Erkenntnisse lassen sich hieraus für die aktuellen Debatten um die „richtige“ Ernährung gewinnen?

Im August 2021 wagte VW Wolfsburg eine kleine Revolution. Der „Kraftriegel des Facharbeiters“, die Currywurst, wurde aus der Kantine im Markenhochhaus verdammt, pflanzliche Ersatzprodukte inklusive einer veganen Variante traten an ihre Stelle. Empörung folgte, denn der vermeintlich zeitgemäße Ersatz wurde als Angriff auf die Identität der Mehrzahl verstanden. Zwei Jahre hielt die Kantine durch, doch angesichts öffentlicher Kritik und der Abwanderung zu anderen Kantinen kapitulierte sie im August letzten Jahres. Die Currywurst, die vermeintlich echte, war wieder erhältlich – doch nun lamentierten andere. Wir wissen doch: „The future is vegan“. Wo sich einreihen? Mir scheint Distanz zur neuen Lust am Ersatz erforderlich. Solche Kämpfe sind nämlich keineswegs neu. Wir schlagen heutzutage lediglich ein neues Kapitel einer Geschichte auf, die im späten 18. Jahrhundert begann. Damals zerbrachen langsam die ständischen Strukturen der vorindustriellen Welt, eines trans- und vornationalen bäuerlichen Universums, geprägt von steten Nahrungsmittelkrisen, von der elementaren Sorge um das tägliche Brot. Essen war existenziell, nur selten Lust. Essen war noch nicht Wahlhandeln, die geringe Produktivität der Landwirtschaft ließ selbst bei guter Ernte kaum mehr zu.

Ersatz als Teilhabe

Ersatz war im späten 18. Jahrhundert noch nicht verengt auf bestimmte Produktgruppen, hieß Notnahrung im Falle des Hungers. Der Begriff „Ersatz“ kam um 1780 auf, ergänzte den zuvor genutzten Gelehrtenbegriff, das „Surrogat“. Für den gemeinen Mann war beides fern, ihm ging es um einen Anteil an der von Gott für alle geschaffenen Welt. Als Kolonialwaren aufkamen, waren Rohrzucker, Schokolade, Tabak und Destillate umkämpft. Rasch entstand eine Kultur der Aneignung dieser Genussmittel durch das Bürgertum – und eine nachholende Bewegung der breiten Bevölkerung. Die deutschen Lande waren damals jedoch relativ arm und verglichen mit dem Westen ökonomisch rückständig. Das Land war von Kriegen zerfurcht, Hunger gab es alle sieben Jahre, Hungerkrisen jede Generation. Es fehlten Binnenmärkte, Zölle und Transportkosten waren hoch, merkantilistische Industriepolitik behinderte Importe. Deutsche Herrscher besaßen keine Kolonien. Ressourcenarmut verwies auf Surrogate. Ersatz als Teilhabe bedeutete anfangs Substitute der teuren Kolonialwaren. Auf der Tafel der Begüterten umrahmten sie Geselligkeit und Feste. Surrogate standen nicht für Nährwerte, sondern für ein wenig Wärme, für befreiende Trunkenheit, für…

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