Die Autor*innen

Dr. Angelika Nußberger ist Professorin für Verfassungsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln und Direktorin der Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz.

Dr. Claus Kreß ist Professor für Straf- und Völkerrecht an der Universität zu Köln und Direktor des dortigen Instituts für Friedenssicherungsrechts.

Gerechtigkeit als Utopie?

Die Völkerrechtsverletzungen im fortdauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sind evident und erschüttern, sollten sie ohne Konsequenzen bleiben, das Vertrauen in das Recht. Das Völkerrecht, so wie es sich nach 1945 entwickelt hat, stellt Instrumente zur Verfügung, um die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und Menschenrechtsverletzungen geltend zu machen. Einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung stehen in der Gegenwart dennoch noch große Hürden entgegen.

Nach über eineinhalb Jahren Ukrainekrieg mag bei vielen der Eindruck entstanden sein, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte seien Luxusgüter für Friedenszeiten. In Bachmut, Charkiw, Kiew, Odessa, aber nicht nur dort, sondern auf dem gesamten Gebiet der Ukraine, geschehen täglich Menschenrechtsverletzungen; die Berichte darüber sind allgegenwärtig. Davon, dass Täter zur Rechenschaft gezogen würden, ist nur in den seltensten Fällen die Rede. Zwar werden umfassend Beweise zu den gegen das internationale Recht verstoßenden Straftaten gesammelt. Aber wer glaubt schon daran, dass sie je wirklich abgeurteilt werden könnten. Dies, so eine weit verbreitete resignative Haltung, sei in Kriegs- und Krisenzeiten bittere Realität und nicht zu ändern. Würde man dies akzeptieren, wäre die Hoffnung, dass Rechtsstaatlichkeit nicht lediglich innerhalb nationaler Grenzen verwirklicht werden kann, sondern auch das Völkerrecht prägt, hinfällig. Alle Ansätze, in kleinen Schritten Rechtsstaatlichkeit auf internationaler Ebene zu verankern, wären Makulatur. Stattdessen hörte das Recht dann auf, adäquate Antworten zu geben, wenn es um die schlimmsten Verstöße gegen die grundlegendsten Normen ginge – um Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und systematische Kriegsverbrechen. Und vor allem, um das Verbrechen der Aggression, den schweren und offenkundigen Verstoß gegen das Gewaltverbot. Denn die Erfahrung zeigt, dass einem Angriffskrieg andere internationale Verbrechen typischerweise nachfolgen. Vor diesem Hintergrund gilt es, den Status quo des internationalen Menschenrechtsschutzes und des Völkerstrafrechts mit Blick auf den fortdauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine vorzustellen und zu prüfen, welche rechtlichen Hürden einem rechtsstaatlichen Vorgehen gegen die Brüche des Völkerrechts in der Ukraine entgegenstehen und welche Konsequenzen das mögliche Auseinanderfallen von Recht und Praxis für die Idee einer internationalen Rechtsstaatlichkeit haben könnte.

Menschenrechtsschutz

Das wohl effektivste Instrument zum Schutz von Menschenrechten in militärischen Konflikten ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), auch wenn sie dafür ursprünglich nicht konzipiert war. Über Jahrzehnte urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg auf dieser Grundlage und sprach Opfern – etwa im Zypernkonflikt, im Georgienkrieg, im Tschetschenienkrieg und im Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan um Nagorny Karabach – Schadensersatz zu. Aus Sicht des Gerichtshofs waren die allgemeinen Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben, das Verbot der Folter und das Verbot der willkürlichen Verhaftung, neben den speziell für militärische Konflikte ausgearbeiteten Regeln des humanitären Völkerrechts anwendbar.
Allerdings besteht diese Möglichkeit im Verhältnis zu Russland seit dem Ausschluss Russlands aus dem Europarat am 16.3.2023 und dem damit verbundenen Ende der Geltung der Konvention in Russland sechs Monate später, am 16.9.2022, nicht mehr. Russland ist nicht länger Vertragspartei. Nur soweit die Menschenrechtsverletzungen vor dem 16.9.2022 stattgefunden haben, ist der Gerichtshof noch zuständig. In Straßburg anhängig sind neben einer großen Zahl von Individualbeschwerden auch von der Ukraine gegen Russland gerichtete Staatenbeschwerden, mit denen Russland für die in den ersten Kriegsmonaten verursachten Schäden und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wird. Gerade in diese Zeit fallen auch die Gräueltaten in Butscha und Mariupol. Allerdings gibt es Stimmen, die auch die in der Gegenwart fortgesetzte Aburteilung der Menschenrechtsverletzungen Russlands in der Ukraine, die vor dem 16.9.2022 stattgefunden haben, für nicht vereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen halten. So ist nach der Konvention sowie auch nach den Rules of the Court vorgesehen, dass an jedem gegen einen Staat gerichteten Verfahren vor dem Straßburger Gericht ex officio (von Amts wegen) ein in seinem Namen berufener Richter teilnimmt (Art. 24 § 2 (b) Rules of the Court). Seit dem 16.9.2022 hat Russland aber jede Kooperation und sogar jede Kommunikation mit dem Gerichtshof verweigert. Der letzte russische Richter Mikhail Lobov hat den Gerichtshof verlassen, und einen von Russland autorisierten ad hoc-Richter gibt es nicht. Der Gerichtshof tritt dieser Obstruktionspolitik entgegen und beruft nunmehr auch ohne russische Zustimmung ad hoc-Richter für Verfahren mit russischer Beteiligung. Diese Praxis steht in klarem Gegensatz zum Wortlaut von Art. 26 Abs. 4 EMRK, der die Zusammensetzung von Kammern und Großer Kammer am Gericht regelt. Gerechtfertigt wird dies damit, dass andernfalls die von der Konvention vorgesehene Fortsetzung der Rechtsprechung bis zum endgültigen Austrittsdatum Russlands (Art. 58 Abs. 2 EMRK) nicht möglich wäre. Dabei wendet der Gerichtshof eine Regelung der Rules of the Court (Art 29 § 2) zur Ergänzung von unzureichenden ad hoc-Richter-Listen durch den Präsidenten des Gerichts analog an, obwohl es dort um einen völlig anders gelagerten Sachverhalt geht. Der Gerichtshof versucht erkennbar, einen Ausweg aus einem Dilemma zu finden; unanfechtbar ist dies indessen nicht. Auch wenn die EMRK in Russland nicht mehr gilt, ist Russland aus völkerrechtlicher Perspektive nun nicht etwa ein menschenrechtsfreier Raum. Vielmehr gibt es noch eine Vielzahl von im Rahmen der Vereinten Nationen ausgehandelten Menschenrechtsverträgen, an die Russland nach wie vor gebunden ist. Allerdings sind die vor allem auf Dialog aufbauenden Durchsetzungsmechanismen zu schwach, um nach gravierenden Menschenrechtsverletzungen Gerechtigkeit tatsächlich wiederherstellen zu können. Die Nicht- Einhaltung nicht-bindender Empfehlungen lässt sich noch nicht einmal als Bruch des Völkerrechts brandmarken.

Völkerstrafrecht

Rechtsstaatlichkeit bedeutet nicht nur, dass das Recht den Opfern effektive Verfahren zur Verfügung stellt, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Daneben gilt es auch, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Die entsprechenden Instrumentarien stellt das Völkerstrafrecht bereit. Die meisten völkerrechtlichen Verbrechen (Völkerstraftaten) sind im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) aufgeführt; es handelt sich um Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Zwar sind weder Russland noch die Ukraine Vertragsparteien des Römischen Statuts. Doch ist dem IStGH eine Strafverfolgung auch dann möglich, wenn der Staat, auf dessen Gebiet die geltend gemachten Völkerstraftaten stattfinden, die gerichtliche Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs anerkennt. Dies hat die Ukraine bereits 2014 und 2015 mit Erklärungen getan, die auch zukünftige Verbrechen erfassen. Dies gilt aber nur für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Die Voraussetzungen für die Verfolgung von Verbrechen der Aggression sind noch enger gefasst. Soweit es um einen Angriffskrieg geht, der von einem Nichtvertragsstaat wie Russland geführt wird, kann der IStGH nur auf der Grundlage eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrats tätig werden. Dieser wird aufgrund von Russlands Vetorecht nicht zu erreichen sein. Aufgrund dessen werden gegenwärtig eine Reihe von Ansätzen geprüft, um die Lücke bei der Strafverfolgung des Aggressionsverbrechens zu schließen: Hierzu zählen die Erweiterung des Handlungsspielraums des Internationalen Strafgerichtshofs, die Einsetzung eines internationalen Sonderstrafgerichts unter Mitwirkung der UN-Vollversammlung und die Schaffung eines „internationalisierten“, z. B. mit internationalen Richtern besetzten, Sondergerichts ukrainischen Ursprungs. Da die mutmaßlichen russischen Völkerstraftaten vielfach von Staatsorganen begangen worden sind (und werden), stellt sich im Hinblick auf die Durchführung von Strafverfahren vielfach die Frage der völkerrechtlichen Immunität. Unterschieden wird zwischen funktionaler und persönlicher Immunität. Staats- und Regierungschefs sowie Außenminister genießen (auch) Letztere. Diese ist in der Sache umfassend, erfasst also auch in privater Eigenschaft begangene Handlungen, sie endet freilich mit der Amtszeit. Grundsätzlich gilt diese Form der Immunität sogar bei Völkerstraftaten. Nach der Rechtsprechung internationaler Strafgerichtshöfe, insbesondere derjenigen des Internationalen Strafgerichtshofs, scheidet eine Berufung auf persönliche Immunität indessen dann aus, wenn ein internationaler Strafgerichtshof wegen einer Völkerstraftat tätig wird. Dies ist für die Strafverfolgung von Putin und Lawrow zentral. Die funktionale Immunität ist nicht auf wenige höchste Staatsorgane beschränkt, sondern sie gilt allgemein für Handeln in offizieller Funktion, also etwa auch für das Handeln einfacher Soldaten. Diese Form der Immunität endet nicht mit der Amtszeit, wenn die entsprechenden Verbrechen in amtlicher Funktion begangen wurden. Die mit hoher Autorität versehene Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen plädiert in einem aktuellen Entwurf dafür, dass funktionelle Immunität bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nicht zur Anwendung kommt. In dem Entwurf fehlt bislang indessen das Verbrechen der Aggression, woran vor der demnächst anstehenden zweiten Lesung gerade viel Kritik geübt wird.

Aktuelle Entwicklungen

141 Staaten und damit eine deutliche Mehrheit der internationalen Gemeinschaft haben den russischen Angriffskrieg als völkerrechtswidrig verurteilt; nur sieben Staaten (Russland, Belarus, Syrien, Nordkorea, Eritrea, Mali, Nicaragua) haben dieser Einschätzung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen bei der unmittelbar nach Kriegsbeginn stattfindenden Abstimmung widersprochen. Entsprechend groß ist auch die grundsätzliche Bereitschaft, Russland strafund menschenrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Noch während die Kriegshandlungen andauern, wurden hierzu auf internationaler Ebene eine ganze Reihe von Instrumenten genutzt. So hat der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine Unabhängige Internationale Untersuchungskommission eingesetzt, die in ihrem Bericht Ende August 2023 zahlreiche unerlaubte Formen der Kampfführung wie Angriffe auf zivile Ziele, vorsätzliche Tötungen, unrechtmäßige Freiheitsentziehungen, Folter, Vergewaltigung und die Deportation von Kindern festgestellt hat. Diese Handlungen seien als Kriegsverbrechen zu qualifizieren. Im Hinblick auf Folterhandlungen handele es sich womöglich auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil es so aussehe, als fügten sich die Einzeltaten in einen ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung in der Ukraine ein. Dasselbe gelte für die Welle von Angriffen gegen ukrainische Ziele im Zusammenhang mit der Energieversorgung, die Russland im Oktober 2022 begonnen hat. Außerdem eröffnete der Ankläger des IStGH, Karim Khan, Anfang März 2022 ein förmliches Ermittlungsverfahren zur „Situation der Ukraine“, nachdem ihn 39 Vertragsstaaten des Römischen Statuts dazu ersucht hatten. Von großer Tragweite ist, dass die zuständige Vorverfahrenskammer des IStGH am 17. März 2023 Haftbefehle gegen Präsident Putin und seine Beauftragte für Kinderrechte Lwowa-Belowa erließ, da gegen beide der Verdacht des Kriegsverbrechens der unrechtmäßigen Deportation von ukrainischen Kindern aus von Russland militärisch besetztem ukrainischen Staatsgebiet auf russisches Staatsgebiet bestehe. Der Haftbefehl gegen Putin, der dazu führte, dass dieser an dem im August 2023 in Südafrika abgehaltenen Treffen der sogenannten BRICS-Staaten nicht persönlich teilnahm, entspricht der oben skizzierten Linie der internationalen Rechtsprechung zur Verneinung persönlicher Immunität in internationalen Strafverfahren wegen des Verdachts einer Völkerstraftat. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind vier zwischenstaatliche Verfahren der Ukraine gegen Russland anhängig, die unter anderem die Krimfrage, das militärische Vorgehen Russlands im Donbass, die Festnahme von Seeleuten in der Bucht von Kertsch, systematische politische Morde und die illegale Invasion des ukrainischen Staatsgebiets betreffen. Auch vor dem Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag sind zwei zwischenstaatliche Verfahren zwischen der Ukraine und Russland anhängig. In dem jüngeren der beiden Verfahren wirft die Ukraine Russland vor, sich fälschlicherweise auf einen Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine berufen zu haben, um die Invasion zu rechtfertigen. All diese Verfahren zeigen, wie sehr die Ukraine auf das Völkerrecht setzt und wie sie alle Instrumente nutzt, die ihr zur Verfügung stehen, um vor Gerichten Recht zu bekommen und Russland zur Verantwortung zu ziehen.

Tatsächliche Durchsetzbarkeit des Rechts?

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie berechtigt die Hoffnung ist, dass Menschenrechtsverletzungen tatsächlich festgestellt und dafür Entschädigungen zugesprochen werden, und wie groß die Chance ist, diejenigen, die für Straftaten verantwortlich sind, strafrechtlich auch wirklich zu sanktionieren. Die Beantwortung dieser Frage erfordert einen Blick in die Zukunft. Niemand kann vorhersagen, wie der militärische Konflikt enden wird. Wird die gesamte Ukraine von russischen Truppen besetzt, wäre der Staat Ukraine nicht mehr handlungsfähig. Eine Rechtsverfolgung wäre der Ukraine dann nicht mehr möglich. Weder könnten die bereits begonnenen Verfahren vor internationalen Gerichten fortgeführt werden noch könnte die ukrainische Justiz weiterhin russische Verdächtige verfolgen. Bliebe am Ende des Krieges der gegenwärtige Status quo mit den völkerrechtswidrigen Annexionen der vier ostukrainischen Gebiete und der Krim erhalten, bliebe die Ukraine zwar weiter handlungsfähig und auch die – mit internationaler Unterstützung – vorbereiteten Strafverfahren könnten weitergeführt werden. Allerdings wäre bei diesem Szenario wenig wahrscheinlich, dass die Ukraine der Straftäter tatsächlich habhaft würde. Sie könnten in Russland Zuflucht finden; eine Auslieferung in die Ukraine wäre nicht zu erwarten. Im Zweifel könnten Strafverfahren in Abwesenheit der Verdächtigen durchgeführt werden; diese wären aber für die Betroffenen erst einmal weitgehend folgenlos, sieht man davon ab, dass sich für sie internationale Reisen als risikoreich mit Blick auf eine mögliche Auslieferung erweisen könnten. Auch die vor dem EGMR anhängigen Verfahren könnten zu Ende geführt werden. Es wäre anzunehmen, dass dabei nicht nur in großem Umfang schwerste Menschenrechtsverletzungen festgestellt, sondern auch sehr hohe Entschädigungssummen gewährt werden. Allerdings wäre die Chance, dass Russland sich an diese Urteile hält, wohl eher gering. Auch in der Zeit, als Russland noch Mitglied des Europarats war, hat es Schadensersatzforderungen aus Urteilen, die im Zusammenhang mit militärischen Konflikten standen, nicht vollstreckt. Dies gilt insbesondere für das 2021 ergangene Urteil im Streitfall zwischen Georgien und Russland. Nur in den Individualbeschwerden zum Tschetschenienkonflikt wurden die geforderten Summen in der Regel beglichen. Aufgrund des Ausschlusses aus dem Europarat und dem damit verbundenen Abbruch aller diplomatischen Beziehungen zum Gerichtshof wäre nun davon auszugehen, dass Russland auf Urteile aus Straßburg entweder überhaupt nicht reagiert oder aber argumentiert, der Gerichtshof sei nicht legimitiert zu entscheiden. Anders könnte sich die Situation allenfalls dann darstellen, wenn die Regierung in Russland gestürzt wird und eine neue Regierung Interesse daran entwickeln sollte, wieder in die europäische Staatenfamilie zurückzukehren. Die Erfüllung der Urteile könnte zur Voraussetzung für eine solche Reintegration gemacht werden. Ein Regimewechsel in Russland könnte auch Bewegung in die strafrechtlichen Verfolgungen bringen, da eine neue Regierung eventuell ein Interesse daran haben könnte, ehemalige Regierungsmitglieder auszuliefern und zur Verantwortung zu ziehen, um einen Neuanfang zu ermöglichen. Selbst eine strafrechtliche Verurteilung der Hauptverantwortlichen sollte dann nicht mehr ausgeschlossen sein, vorausgesetzt, die internationale Gemeinschaft zeigte sich hinreichend einig, zusammenzuarbeiten. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Regimewechsels in Russland stiege wohl dann beträchtlich an, wenn es der Ukraine gelänge, die besetzten Gebiete zurückzuerobern und die russischen Truppen hinter die international anerkannten Grenzen der Ukraine zurückzudrängen. Zweifellos gibt es noch viele weitere Szenarien, die auf unterschiedlichen Formen der Kompromissfindung zwischen der Ukraine und Russland, ggf. vermittelt durch Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft, beruhen könnten. Zudem können weitere Elemente wie insbesondere die wirtschaftliche Lage Russlands oder die geopolitische Situation weltweit eine Rolle spielen, so dass die Entwicklungen auch nach ganz anderen Drehbüchern ablaufen könnten.

Internationale Rechtsstaatlichkeit – eine Utopie?

Wie man es aber dreht und wendet, immer kommt man zu einem bedrückenden Ergebnis: Die Chancen einer den rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechenden Aufarbeitung des Konflikts in straf- und menschenrechtlicher Sicht – nicht zuletzt auf internationaler Ebene – richten sich in beträchtlichem Umfang danach, wer sich wie militärisch durchsetzt. Dies zeigt die Fragilität internationaler Rechtsstaatlichkeit. Zugleich macht es einmal mehr deutlich, was aufgrund des völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands gegen die Ukraine auf dem Spiel steht. Es geht nicht um einen begrenzten, schwer durchschaubaren territorialen Konflikt zwischen zwei Nachbarstaaten. Vielmehr wird sich an diesem Konflikt, in dem zwischen Recht und Unrecht so klar unterschieden werden kann, wie dies selten der Fall ist, entscheiden, ob und wenn ja, wie weit sich die nach dem Zweiten Weltkrieg angelegte internationale Rechtsordnung behaupten kann. Diese Rechtsordnung ist noch an vielen Stellen brüchig; die Regeln passen nicht immer zusammen; die Normen sind vielfach offen und vage und vermögen auch auf grundlegende Fragen mitunter keine klaren Antworten zu geben. Aber es ist immerhin eine Ordnung, die sich an der Vorstellung orientiert, das Recht müsse die Macht und nicht die Macht das Recht bestimmen. Dass die Durchsetzung des Rechts und mithin seine Autorität für die Zukunft nunmehr auch stark davon abhängen, dass militärischer Macht mit militärischer Macht effektiv entgegengetreten wird, mag man als Rückschritt sehen. Vielleicht ist es aber mehr noch die Rückbindung zu hochfliegender Träume an die Realität.


Literatur

Independent International Commission of Inquiry for Ukraine, UN Doc. A/HRC/52/CRP.4, 29.8.2023.

Kreß, Claus 2023: Die völkerstrafrechtliche Dimension des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. In: Kriminalpolitische Zeitschrift 5, S. 342 ff.

Kreß, Claus 2022: The Ukraine War and the Prohibition of the Use of Force in International Law. Brüssel.

Lange, Felix 2023: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und das Völkerrecht. Berlin.

Nußberger, Angelika 2022: Tabubruch mit Ansage. Putins Krieg und das Recht. In: Osteuropa 72, S. 51 ff.

Tomuschat, Christian 2022: Russlands Überfall auf die Ukraine. Der Krieg und die Grundfragen des Rechts. In: Osteuropa 72, S. 33 ff.
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