Gerechtigkeit als Utopie?
Die Völkerrechtsverletzungen im fortdauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sind evident und erschüttern, sollten sie ohne Konsequenzen bleiben, das Vertrauen in das Recht. Das Völkerrecht, so wie es sich nach 1945 entwickelt hat, stellt Instrumente zur Verfügung, um die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und Menschenrechtsverletzungen geltend zu machen. Einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung stehen in der Gegenwart dennoch noch große Hürden entgegen.
Nach über eineinhalb Jahren Ukrainekrieg mag bei
vielen der Eindruck entstanden sein, Rechtsstaatlichkeit
und Menschenrechte seien Luxusgüter für Friedenszeiten.
In Bachmut, Charkiw, Kiew, Odessa, aber
nicht nur dort, sondern auf dem gesamten Gebiet
der Ukraine, geschehen täglich Menschenrechtsverletzungen;
die Berichte darüber sind allgegenwärtig.
Davon, dass Täter zur Rechenschaft gezogen würden,
ist nur in den seltensten Fällen die Rede. Zwar werden
umfassend Beweise zu den gegen das internationale
Recht verstoßenden Straftaten gesammelt. Aber wer
glaubt schon daran, dass sie je wirklich abgeurteilt
werden könnten. Dies, so eine weit verbreitete resignative
Haltung, sei in Kriegs- und Krisenzeiten bittere
Realität und nicht zu ändern.
Würde man dies akzeptieren, wäre die Hoffnung,
dass Rechtsstaatlichkeit nicht lediglich innerhalb nationaler
Grenzen verwirklicht werden kann, sondern
auch das Völkerrecht prägt, hinfällig. Alle Ansätze, in
kleinen Schritten Rechtsstaatlichkeit auf internationaler
Ebene zu verankern, wären Makulatur. Stattdessen
hörte das Recht dann auf, adäquate Antworten zu
geben, wenn es um die schlimmsten Verstöße gegen
die grundlegendsten Normen ginge – um Völkermord,
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und systematische
Kriegsverbrechen. Und vor allem, um das Verbrechen
der Aggression, den schweren und offenkundigen
Verstoß gegen das Gewaltverbot. Denn die
Erfahrung zeigt, dass einem Angriffskrieg andere internationale
Verbrechen typischerweise nachfolgen.
Vor diesem Hintergrund gilt es, den Status quo des
internationalen Menschenrechtsschutzes und des
Völkerstrafrechts mit Blick auf den fortdauernden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine vorzustellen
und zu prüfen, welche rechtlichen Hürden einem
rechtsstaatlichen Vorgehen gegen die Brüche des Völkerrechts
in der Ukraine entgegenstehen und welche
Konsequenzen das mögliche Auseinanderfallen von
Recht und Praxis für die Idee einer internationalen
Rechtsstaatlichkeit haben könnte.
Menschenrechtsschutz
Das wohl effektivste Instrument zum Schutz von
Menschenrechten in militärischen Konflikten ist die
Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK),
auch wenn sie dafür ursprünglich nicht konzipiert war.
Über Jahrzehnte urteilte der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg auf dieser
Grundlage und sprach Opfern – etwa im Zypernkonflikt,
im Georgienkrieg, im Tschetschenienkrieg und im
Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan um
Nagorny Karabach – Schadensersatz zu. Aus Sicht des
Gerichtshofs waren die allgemeinen Menschenrechte,
insbesondere das Recht auf Leben, das Verbot der Folter
und das Verbot der willkürlichen Verhaftung, neben
den speziell für militärische Konflikte ausgearbeiteten
Regeln des humanitären Völkerrechts anwendbar.
Allerdings
besteht diese Möglichkeit im Verhältnis
zu Russland seit dem Ausschluss Russlands aus dem
Europarat am 16.3.2023 und dem damit verbundenen
Ende der Geltung der Konvention in Russland sechs
Monate später, am 16.9.2022, nicht mehr. Russland
ist nicht länger Vertragspartei. Nur soweit die Menschenrechtsverletzungen
vor dem 16.9.2022 stattgefunden
haben, ist der Gerichtshof noch zuständig. In
Straßburg anhängig sind neben einer großen Zahl von
Individualbeschwerden auch von der Ukraine gegen
Russland gerichtete Staatenbeschwerden, mit denen
Russland für die in den ersten Kriegsmonaten verursachten
Schäden und Menschenrechtsverletzungen
verantwortlich gemacht wird. Gerade in diese Zeit
fallen auch die Gräueltaten in Butscha und Mariupol.
Allerdings gibt es Stimmen, die auch die in der
Gegenwart fortgesetzte Aburteilung der Menschenrechtsverletzungen
Russlands in der Ukraine, die vor
dem 16.9.2022 stattgefunden haben, für nicht vereinbar
mit rechtsstaatlichen Grundsätzen halten. So
ist nach der Konvention sowie auch nach den Rules
of the Court vorgesehen, dass an jedem gegen einen
Staat gerichteten Verfahren vor dem Straßburger Gericht
ex officio (von Amts wegen) ein in seinem Namen
berufener Richter teilnimmt (Art. 24 § 2 (b) Rules
of the Court). Seit dem 16.9.2022 hat Russland aber
jede Kooperation und sogar jede Kommunikation
mit dem Gerichtshof verweigert. Der letzte russische
Richter Mikhail Lobov hat den Gerichtshof verlassen,
und einen von Russland autorisierten ad hoc-Richter
gibt es nicht. Der Gerichtshof tritt dieser Obstruktionspolitik
entgegen und beruft nunmehr auch ohne
russische Zustimmung ad hoc-Richter für Verfahren
mit russischer Beteiligung. Diese Praxis steht in
klarem Gegensatz zum Wortlaut von Art. 26 Abs. 4
EMRK, der die Zusammensetzung von Kammern und
Großer Kammer am Gericht regelt. Gerechtfertigt
wird dies damit, dass andernfalls die von der Konvention
vorgesehene Fortsetzung der Rechtsprechung
bis zum endgültigen Austrittsdatum Russlands (Art. 58 Abs. 2 EMRK) nicht möglich wäre. Dabei wendet
der Gerichtshof eine Regelung der Rules of the Court
(Art 29 § 2) zur Ergänzung von unzureichenden ad
hoc-Richter-Listen durch den Präsidenten des Gerichts
analog an, obwohl es dort um einen völlig anders gelagerten
Sachverhalt geht. Der Gerichtshof versucht
erkennbar, einen Ausweg aus einem Dilemma zu finden;
unanfechtbar ist dies indessen nicht.
Auch wenn die EMRK in Russland nicht mehr gilt, ist
Russland aus völkerrechtlicher Perspektive nun nicht
etwa ein menschenrechtsfreier Raum. Vielmehr gibt
es noch eine Vielzahl von im Rahmen der Vereinten
Nationen ausgehandelten Menschenrechtsverträgen,
an die Russland nach wie vor gebunden ist. Allerdings
sind die vor allem auf Dialog aufbauenden Durchsetzungsmechanismen
zu schwach, um nach gravierenden
Menschenrechtsverletzungen Gerechtigkeit
tatsächlich wiederherstellen zu können. Die Nicht-
Einhaltung nicht-bindender Empfehlungen lässt sich
noch nicht einmal als Bruch des Völkerrechts brandmarken.
Völkerstrafrecht
Rechtsstaatlichkeit bedeutet nicht nur, dass das Recht
den Opfern effektive Verfahren zur Verfügung stellt,
um ihre Ansprüche geltend zu machen. Daneben gilt
es auch, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Die
entsprechenden Instrumentarien stellt das Völkerstrafrecht
bereit. Die meisten völkerrechtlichen Verbrechen
(Völkerstraftaten) sind im Römischen Statut
des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) aufgeführt;
es handelt sich um Völkermord, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das
Verbrechen der Aggression.
Zwar sind weder Russland noch die Ukraine Vertragsparteien
des Römischen Statuts. Doch ist dem IStGH
eine Strafverfolgung auch dann möglich, wenn der
Staat, auf dessen Gebiet die geltend gemachten Völkerstraftaten
stattfinden, die gerichtliche Zuständigkeit
des Internationalen Strafgerichtshofs anerkennt. Dies
hat die Ukraine bereits 2014 und 2015 mit Erklärungen
getan, die auch zukünftige Verbrechen erfassen.
Dies gilt aber nur für Kriegsverbrechen, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Die Voraussetzungen
für die Verfolgung von Verbrechen der
Aggression sind noch enger gefasst. Soweit es um einen
Angriffskrieg geht, der von einem Nichtvertragsstaat
wie Russland geführt wird, kann der IStGH nur
auf der Grundlage eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrats tätig werden. Dieser wird aufgrund von
Russlands Vetorecht nicht zu erreichen sein. Aufgrund
dessen werden gegenwärtig eine Reihe von Ansätzen
geprüft, um die Lücke bei der Strafverfolgung des
Aggressionsverbrechens zu schließen: Hierzu zählen
die Erweiterung des Handlungsspielraums des Internationalen
Strafgerichtshofs, die Einsetzung eines internationalen
Sonderstrafgerichts unter Mitwirkung
der UN-Vollversammlung und die Schaffung eines „internationalisierten“,
z. B. mit internationalen Richtern
besetzten, Sondergerichts ukrainischen Ursprungs.
Da die mutmaßlichen russischen Völkerstraftaten
vielfach von Staatsorganen begangen worden sind
(und werden), stellt sich im Hinblick auf die Durchführung
von Strafverfahren vielfach die Frage der
völkerrechtlichen Immunität. Unterschieden wird
zwischen funktionaler und persönlicher Immunität.
Staats- und Regierungschefs sowie Außenminister genießen
(auch) Letztere. Diese ist in der Sache umfassend,
erfasst also auch in privater Eigenschaft begangene
Handlungen, sie endet freilich mit der Amtszeit.
Grundsätzlich gilt diese Form der Immunität sogar bei
Völkerstraftaten. Nach der Rechtsprechung internationaler
Strafgerichtshöfe, insbesondere derjenigen
des Internationalen Strafgerichtshofs, scheidet eine
Berufung auf persönliche Immunität indessen dann aus, wenn ein internationaler Strafgerichtshof wegen
einer Völkerstraftat tätig wird. Dies ist für die
Strafverfolgung von Putin und Lawrow zentral. Die
funktionale Immunität ist nicht auf wenige höchste
Staatsorgane beschränkt, sondern sie gilt allgemein für Handeln in offizieller Funktion, also etwa auch
für das Handeln einfacher Soldaten. Diese Form der
Immunität endet nicht mit der Amtszeit, wenn die
entsprechenden Verbrechen in amtlicher Funktion
begangen wurden. Die mit hoher Autorität versehene
Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen
plädiert in einem aktuellen Entwurf dafür, dass funktionelle
Immunität bei Völkermord, Verbrechen gegen
die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nicht zur
Anwendung kommt. In dem Entwurf fehlt bislang
indessen das Verbrechen der Aggression, woran vor
der demnächst anstehenden zweiten Lesung gerade
viel Kritik geübt wird.
Aktuelle Entwicklungen
141 Staaten und damit eine deutliche Mehrheit der
internationalen Gemeinschaft haben den russischen
Angriffskrieg als völkerrechtswidrig verurteilt; nur
sieben Staaten (Russland, Belarus, Syrien, Nordkorea,
Eritrea, Mali, Nicaragua) haben dieser Einschätzung in
der Generalversammlung der Vereinten Nationen bei
der unmittelbar nach Kriegsbeginn stattfindenden
Abstimmung widersprochen. Entsprechend groß ist
auch die grundsätzliche Bereitschaft, Russland strafund
menschenrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
Noch während die Kriegshandlungen andauern, wurden
hierzu auf internationaler Ebene eine ganze Reihe
von Instrumenten genutzt.
So hat der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen
eine Unabhängige Internationale Untersuchungskommission
eingesetzt, die in ihrem Bericht
Ende August 2023 zahlreiche unerlaubte Formen der
Kampfführung wie Angriffe auf zivile Ziele, vorsätzliche
Tötungen, unrechtmäßige Freiheitsentziehungen,
Folter, Vergewaltigung und die Deportation von
Kindern festgestellt hat. Diese Handlungen seien als
Kriegsverbrechen zu qualifizieren. Im Hinblick auf
Folterhandlungen handele es sich womöglich auch
um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil es so
aussehe, als fügten sich die Einzeltaten in einen ausgedehnten
oder systematischen Angriff gegen die
Zivilbevölkerung in der Ukraine ein. Dasselbe gelte
für die Welle von Angriffen gegen ukrainische Ziele
im Zusammenhang mit der Energieversorgung, die
Russland im Oktober 2022 begonnen hat.
Außerdem eröffnete der Ankläger des IStGH, Karim
Khan, Anfang März 2022 ein förmliches Ermittlungsverfahren zur „Situation der Ukraine“, nachdem ihn 39
Vertragsstaaten des Römischen Statuts dazu ersucht
hatten. Von großer Tragweite ist, dass die zuständige
Vorverfahrenskammer des IStGH am 17. März 2023
Haftbefehle gegen Präsident Putin und seine Beauftragte
für Kinderrechte Lwowa-Belowa erließ, da gegen
beide der Verdacht des Kriegsverbrechens der unrechtmäßigen
Deportation von ukrainischen Kindern
aus von Russland militärisch besetztem ukrainischen
Staatsgebiet auf russisches Staatsgebiet bestehe. Der
Haftbefehl gegen Putin, der dazu führte, dass dieser
an dem im August 2023 in Südafrika abgehaltenen
Treffen der sogenannten BRICS-Staaten nicht persönlich
teilnahm, entspricht der oben skizzierten Linie
der internationalen Rechtsprechung zur Verneinung
persönlicher Immunität in internationalen Strafverfahren
wegen des Verdachts einer Völkerstraftat.
Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
sind vier zwischenstaatliche Verfahren der Ukraine
gegen Russland anhängig, die unter anderem die
Krimfrage, das militärische Vorgehen Russlands im Donbass,
die Festnahme von Seeleuten in der Bucht von
Kertsch, systematische politische Morde und die illegale
Invasion des ukrainischen Staatsgebiets betreffen.
Auch vor dem Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten
Nationen, dem Internationalen Gerichtshof in
Den Haag sind zwei zwischenstaatliche Verfahren
zwischen der Ukraine und Russland anhängig. In dem
jüngeren der beiden Verfahren wirft die Ukraine Russland
vor, sich fälschlicherweise auf einen Völkermord
an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine
berufen zu haben, um die Invasion zu rechtfertigen.
All diese Verfahren zeigen, wie sehr die Ukraine auf
das Völkerrecht setzt und wie sie alle Instrumente
nutzt, die ihr zur Verfügung stehen, um vor Gerichten
Recht zu bekommen und Russland zur Verantwortung
zu ziehen.
Tatsächliche Durchsetzbarkeit des Rechts?
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie berechtigt
die Hoffnung ist, dass Menschenrechtsverletzungen
tatsächlich festgestellt und dafür Entschädigungen
zugesprochen werden, und wie groß die
Chance ist, diejenigen, die für Straftaten verantwortlich
sind, strafrechtlich auch wirklich zu sanktionieren.
Die Beantwortung dieser Frage erfordert einen
Blick in die Zukunft. Niemand kann vorhersagen, wie
der militärische Konflikt enden wird. Wird die gesamte
Ukraine von russischen Truppen besetzt, wäre der Staat Ukraine nicht mehr handlungsfähig. Eine
Rechtsverfolgung wäre der Ukraine dann nicht mehr
möglich. Weder könnten die bereits begonnenen
Verfahren vor internationalen Gerichten fortgeführt
werden noch könnte die ukrainische Justiz weiterhin
russische Verdächtige verfolgen.
Bliebe am Ende des Krieges der gegenwärtige Status
quo mit den völkerrechtswidrigen Annexionen der
vier ostukrainischen Gebiete und der Krim erhalten,
bliebe die Ukraine zwar weiter handlungsfähig und
auch die – mit internationaler Unterstützung – vorbereiteten
Strafverfahren könnten weitergeführt
werden. Allerdings wäre bei diesem Szenario wenig
wahrscheinlich, dass die Ukraine der Straftäter tatsächlich
habhaft würde. Sie könnten in Russland Zuflucht
finden; eine Auslieferung in die Ukraine wäre
nicht zu erwarten. Im Zweifel könnten Strafverfahren
in Abwesenheit der Verdächtigen durchgeführt werden;
diese wären aber für die Betroffenen erst einmal
weitgehend folgenlos, sieht man davon ab, dass sich
für sie internationale Reisen als risikoreich mit Blick
auf eine mögliche Auslieferung erweisen könnten.
Auch die vor dem EGMR anhängigen Verfahren könnten
zu Ende geführt werden. Es wäre anzunehmen,
dass dabei nicht nur in großem Umfang schwerste
Menschenrechtsverletzungen festgestellt, sondern auch sehr hohe Entschädigungssummen gewährt
werden. Allerdings wäre die Chance, dass Russland
sich an diese Urteile hält, wohl eher gering. Auch in
der Zeit, als Russland noch Mitglied des Europarats
war, hat es Schadensersatzforderungen aus Urteilen,
die im Zusammenhang mit militärischen Konflikten
standen, nicht vollstreckt. Dies gilt insbesondere für
das 2021 ergangene Urteil im Streitfall zwischen Georgien
und Russland. Nur in den Individualbeschwerden
zum Tschetschenienkonflikt wurden die geforderten
Summen in der Regel beglichen. Aufgrund
des Ausschlusses aus dem Europarat und dem damit
verbundenen Abbruch aller diplomatischen Beziehungen
zum Gerichtshof wäre nun davon auszugehen,
dass Russland auf Urteile aus Straßburg entweder
überhaupt nicht reagiert oder aber argumentiert, der
Gerichtshof sei nicht legimitiert zu entscheiden.
Anders könnte sich die Situation allenfalls dann
darstellen, wenn die Regierung in Russland gestürzt
wird und eine neue Regierung Interesse daran entwickeln
sollte, wieder in die europäische Staatenfamilie
zurückzukehren. Die Erfüllung der Urteile könnte zur
Voraussetzung für eine solche Reintegration gemacht
werden. Ein Regimewechsel in Russland könnte auch
Bewegung in die strafrechtlichen Verfolgungen bringen,
da eine neue Regierung eventuell ein Interesse daran haben könnte, ehemalige Regierungsmitglieder
auszuliefern und zur Verantwortung zu ziehen,
um einen Neuanfang zu ermöglichen. Selbst eine
strafrechtliche Verurteilung der Hauptverantwortlichen
sollte dann nicht mehr ausgeschlossen sein,
vorausgesetzt, die internationale Gemeinschaft
zeigte sich hinreichend einig, zusammenzuarbeiten.
Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Regimewechsels
in Russland stiege wohl dann beträchtlich an,
wenn es der Ukraine gelänge, die besetzten Gebiete
zurückzuerobern und die russischen Truppen hinter
die international anerkannten Grenzen der Ukraine
zurückzudrängen.
Zweifellos gibt es noch viele weitere Szenarien, die
auf unterschiedlichen Formen der Kompromissfindung
zwischen der Ukraine und Russland, ggf. vermittelt
durch Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft,
beruhen könnten. Zudem können weitere
Elemente wie insbesondere die wirtschaftliche Lage
Russlands oder die geopolitische Situation weltweit
eine Rolle spielen, so dass die Entwicklungen auch
nach ganz anderen Drehbüchern ablaufen könnten.
Internationale Rechtsstaatlichkeit – eine Utopie?
Wie man es aber dreht und wendet, immer kommt
man zu einem bedrückenden Ergebnis: Die Chancen
einer den rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechenden
Aufarbeitung des Konflikts in straf- und
menschenrechtlicher Sicht – nicht zuletzt auf internationaler
Ebene – richten sich in beträchtlichem
Umfang danach, wer sich wie militärisch durchsetzt.
Dies zeigt die Fragilität internationaler Rechtsstaatlichkeit.
Zugleich macht es einmal mehr deutlich, was
aufgrund des völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands
gegen die Ukraine auf dem Spiel steht. Es geht nicht
um einen begrenzten, schwer durchschaubaren territorialen
Konflikt zwischen zwei Nachbarstaaten.
Vielmehr wird sich an diesem Konflikt, in dem zwischen
Recht und Unrecht so klar unterschieden werden
kann, wie dies selten der Fall ist, entscheiden,
ob und wenn ja, wie weit sich die nach dem Zweiten
Weltkrieg angelegte internationale Rechtsordnung
behaupten kann. Diese Rechtsordnung ist noch an
vielen Stellen brüchig; die Regeln passen nicht immer
zusammen; die Normen sind vielfach offen und vage
und vermögen auch auf grundlegende Fragen mitunter
keine klaren Antworten zu geben. Aber es ist
immerhin eine Ordnung, die sich an der Vorstellung
orientiert, das Recht müsse die Macht und nicht die Macht das Recht bestimmen. Dass die Durchsetzung
des Rechts und mithin seine Autorität für die Zukunft
nunmehr auch stark davon abhängen, dass militärischer
Macht mit militärischer Macht effektiv entgegengetreten
wird, mag man als Rückschritt sehen.
Vielleicht ist es aber mehr noch die Rückbindung zu
hochfliegender Träume an die Realität.
Literatur
Independent International Commission of Inquiry for
Ukraine, UN Doc. A/HRC/52/CRP.4, 29.8.2023.
Kreß, Claus 2023: Die völkerstrafrechtliche Dimension des
russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. In: Kriminalpolitische
Zeitschrift 5, S. 342 ff.
Kreß, Claus 2022: The Ukraine War and the Prohibition of
the Use of Force in International Law. Brüssel.
Lange, Felix 2023: Der russische Angriffskrieg gegen die
Ukraine und das Völkerrecht. Berlin.
Nußberger, Angelika 2022: Tabubruch mit Ansage. Putins
Krieg und das Recht. In: Osteuropa 72, S. 51 ff.
Tomuschat, Christian 2022: Russlands Überfall auf die
Ukraine. Der Krieg und die Grundfragen des Rechts. In:
Osteuropa 72, S. 33 ff.