Der Autor

Magnus Brechtken ist seit 2012 Stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin und Professor an der LMU München.

Globales Britannien?

Wer Großbritannien zu verstehen sucht, stößt auf ein Land voller Widersprüche und mächtiger Illusionen. Das Bild einer großartigen Vergangenheit soll als Versprechen für eine globale Zukunft dienen. Aber es sind gerade solche Selbsttäuschungen, die rationalen Analysen aktueller Herausforderungen regelmäßig im Weg stehen. Sie befeuern einen Populismus, dessen Unberechenbarkeit verstörend wirkt.

„Diese Leute in der Regierung sind Lügner“, erklärte Bestsellerautor Robert Harris 2019 im Spiegel und spottete: „Für England ist die Vergangenheit wie ein warmes Feuer, an dem man sich an langen Winterabenden die Hände wärmen kann“. 

Der National Trust (NT), mit fast sechs Millionen Mitgliedern die vermutlich größte Institution zur Vermittlung nationaler Geschichte in Großbritannien, veröffentlichte im September 2020 einen vorläufigen Bericht über Kolonialismus und Sklavenhandel, der eine Übersicht zur Forschungsdiskussion und der einschlägigen Literatur enthält. Der NT ist einer der größten Landeigentümer und betreibt mehrere hundert Immobilien, von veritablen Schlössern bis zu Leuchttürmen. Markant sind darunter zahlreiche „herrschaftliche“ Häuser, die einst als Inbegriff englischer Weltläufigkeit für Wohlstand, Stil und Selbstbewusstsein standen. Dem NT gehören rund zweihundert solcher ehemaligen Repräsentationssitze. Die Trust-Mitglieder zahlen, weil sie die Häuser besichtigen, deren Erhalt unterstützen wollen und damit ein je eigenes Interesse für Geschichte bekunden. Man tritt ihnen wohl nicht zu nahe mit der Feststellung, dass bis vor wenigen Jahren eher national-romantisierende als politisch-analytische Zugänge den Blick der meisten Besucher prägte. Das Eingangszitat von Robert Harris bringt dies ebenso auf den Punkt wie etwa die Fernsehserie Downton Abbey, die in einer langen Tradition solcher Bildwelten steht. Von Jane Austen über Brideshead Revisited bis zum „Haus am Eaton Place“ – der Originaltitel „Up­stairs, Downstairs“ ist weitaus treffender – finden sich illustrative Beispiele für dergleichen Imagination der Vergangenheit, die bis heute dominiert. 

Die dunkleren Seiten der Geschichte, namentlich die Frage, wie die Vermögen entstanden, die sich in so herrschaftlichen Bauten und Ländereien repräsentieren, hat erst in jüngster Zeit eine Öffentlichkeit jenseits weniger Spezialisten erreicht. Viele der Landsitze des National Trust kamen im Zuge von Erbschaftsverfahren in seinen Besitz. Nun zeigt sich beim Blick in deren Geschichte, dass nicht wenige mit Geschäften aus Sklaven- und Kolonialhandel verwoben sind. Allein vom Hafen in Bristol wurden zwischen 1698 und 1807 insgesamt 2.108 Sklavenhandels-Schiffsreisen abgefertigt (Giles 2001). Ging der Sklavenhandel vor allem Richtung Karibik und Nordamerika, waren die Gewinne durch die Ausbeutung Indiens ebenso exorbitant und wurden regelmäßig in Landsitzen angelegt. Die Ausbeutungsmechanismen und Geldflüsse werden seit einigen Jahren systematisch bekannt. Auch beim nationalen Heroen Winston Churchill, dessen Landsitz Chartwell ebenfalls zum NT zählt, wird seine herablassende Haltung gegen die Völker des Kolonialreiches hervorgehoben. Während die einen darauf verweisen, dass eine spezifische Form des Rassismus zweifellos zu seinem Charakter gehörte, verweisen andere auf die Notwendigkeit, die Balance der Gesamtpersönlichkeit und ihres Wirkens deutlicher im Blick zu behalten. 

All dies sind unbequeme Herausforderungen in einem Land, das es gewohnt ist, sich in nationalistischer Vergangenheitsverklärung zu sonnen statt selbstkritisch die dunkleren Seiten des eigenen Herkommens zu beleuchten. Die Frage folglich, wie intensiv man ernüchternde Hintergründe recherchieren, wie selbstkritisch man das Wissen in den Häusern präsentieren und überhaupt gesellschaftlich mit diesen kaum mehr glorreichen Aspekten der Geschichte umgehen soll, verweist auf die Komplexität jedes Versuchs, das Großbritannien der Gegenwart verständlich zu machen. Wer folglich britische Politik und sein Herrschaftssystem mit seiner Geschichte als Kolonialmacht sowie seinem Verhalten in Europa und der Welt der jüngeren Gegenwart analytisch zu verbinden sucht, der stößt auf ein Bild voller Widersprüche. 

Das Selbstbild der englischen Mehrheitsgesellschaft – und England muss hier als der dominierende Landesteil in den Mittelpunkt gestellt werden – bleibt geprägt von Imaginationen vergangener Größe: im 19. Jahrhundert die beherrschende Kolonialmacht der Welt, im 20. Jahrhundert aufrechte Kämpferin gegen autoritäre Herrschaftsbedrohungen auf dem europäischen Kontinent und in der weiten Welt – vom Deutschen Kaiserreich über den Nationalsozialismus und die Sowjetunion bis zur heutigen Volksrepublik China. Die Verselbstständigung der einstigen Kolonialgebiete seit den Weltkriegen und der reale Machtverlust als globale Wirtschafts- und Militärmacht wird in diesem Selbstbild aufgehoben durch den Anspruch der moralischen Autorität des Landes als Vorbild für Demokratie, Parlamentarismus, Freihandel und Transformation. Für die zwei ersten Aspekte folgt dann der Verweis auf die Jahrhunderte alte Tradition Westminsters, für letzteren soll der Commonwealth stehen. In ihm sind 53 Staaten verbunden, Queen Elizabeth II. steht nominell an der Spitze. Ohne das Empire zuvor gäbe es weder den Verbund noch ein solches „Oberhaupt“. 

Es war auch diese imaginierte Stärke aus der Tradition des Weltmachterbes mit der Vorstellung „eigentlicher“ Größe, die ihren Teil dazu beitrug, dass sich 2016 eine knappe Mehrheit der Briten für den Brexit entschied. Der anhaltende Glaube an die nationale Überlegenheit wird seit Jahrzehnten von Zeitungen in Millionen-Auflagen, allen voran Daily Mail und Daily Telegraph, ebenso gepredigt wie von weiten Teilen der Konservativen Partei. Auch in Arbeiterkreisen erscheint dieses Bild attraktiv, weil es den Verwerfungen des technisch-industriellen Wandels, den alle modernen Gesellschaften durchlaufen, einfache Lösungen entgegensetzt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt im Erfolg der United Kingdom Independence Party (UKIP), deren Programm sich auf ein Thema reduzierte: weg von der Europäischen Union – und alles wird gut. Entsprechend glauben Millionen Briten, dass einem von den „Fesseln der EU“ befreiten „globalen Britannien“ gerade wegen seiner Geschichte eine glorreiche Zeit bevorstehe. 

Dieses Selbstbild ist, nüchtern betrachtet, eine Erzählung voller Täuschungen und Selbsttäuschungen. Aber als Selbstbild ist es real und bedeutend, weil die führenden Köpfe der politischen Klasse, nicht zuletzt Boris Johnsons Regierung und seine Unterstützer in Parlament und Öffentlichkeit, diese Imagination von einem Land, das aufgrund seiner großartigen Vergangenheit eine grandiose Zukunft habe, ins Zentrum ihres Selbstverständnisses rücken. 

Um den Charakter dieser gleichermaßen nationalistischen wie regelmäßig irrationalen Herausforderung zu verstehen, müssen wir einige Schlüsselbegriffe in Erinnerung rufen, die für die Analyse zentral sind. 

Wettbewerb ist das erste Schlüsselwort. Wer verstehen will, wie die Mehrheit der politischen Klasse, der führenden Köpfe in Wirtschaft und Medienwelt „tickt“, sollte mit diesem Begriff beginnen und das Gefühl der Besonderheit („exceptionalism“), ja die Imagination der Überlegenheit ernst nehmen, die in vielen Köpfen der britischen „Elite“ weiterhin vorherrscht.

Eine perfekte Zusammenfassung dieses Selbstbildes lieferte – ein Beispiel von vielen – der Brexit-Verhandler David Davis in einem Video für Rupert Murdochs Boulevardzeitung Sun: Davis behauptete eine britische Stärke und Überlegenheit in allen Bereichen, die einzig von den „Remainern“ unterminiert werde; mit Boris Johnsons satter Mehrheit im Parlament könnten alle Trümpfe gegen die schwache, anfällige, bürokratische, im Wettbewerb unterliegende EU ausgespielt werden. Davis‘ Sicht auf die EU kann als repräsentativ für die Mehrheit seiner Partei gelten. Davis trat mit diesem Weltbild an, als er 2016 Brexit Secretary wurde (Secretary of State for Exiting the European Union). Sein Nachfolger Dominic Raab unterschied sich allenfalls durch ein noch vehementeres öffentliches Auftreten und wurde gar zum Außenminister befördert. Auch David Frost, ursprünglich kein Politiker, sondern Diplomat, stand in dieser Linie. Das Weltbild dieser Männer und seine Konsequenzen – Großbritannien verfolgt seine Interessen bei Bedarf auch gegen einstige Verhandlungszusagen und sucht Verträge auszuhebeln, die sich als nachteilig erweisen – gilt es ernst zu nehmen. 

Zumal dann, wenn mit Boris Johnson an der Spitze der Regierung eine seit Jahrzehnten bekannte Person steht, deren Ruf als Lügner und Opportunist im Dienst der eigenen Karriere selbst in den eigenen Reihen notorisch ist. Aber Johnson lieferte Mehrheiten. Solange das so bleibt, folgen ihm die Conservatives. Der von Johnsons Apparat im Oktober 2021 organisierte Anbetungsparteitag in Manchester kann als Exempel der Selbstentleibung der Partei in die Geschichtsbücher eingehen. 

Klasse ist das zweite Schlüsselwort. Großbritannien war über Jahrhunderte und ist bis heute eine Klassengesellschaft, in der die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen getrieben ist von der Vorstellung des eigenen Status im Verhältnis zu anderen: woher man kommt, wieviel man besitzt, wo zu wohnen man sich leisten kann. Davon hängt zugleich ab, welche Schule die Kinder besuchen können und ob eine Universitätsausbildung erreichbar und finanzierbar ist. Das wiederum bestimmt die Optionen der eigenen Position von neuem. Es ist ein immerwährender Prozess, in dem sich Wettbewerb und Klasse verbinden.

Für den Arbeitsmarkt verbindet sich dies direkt mit kolonialer Vergangenheit und globaler Ausrichtung. Über Jahrzehnte war die Zuwanderung aus den ehemaligen Kolonien ein ergiebiges Reservoir billiger und williger Arbeitskräfte. Es ist vergleichsweise einfach, anonym auf der Insel zu leben und Geld auf den grauen und schwarzen Märkten einfacher Dienstleistungen zu verdienen. Jahrzehntelang war das ein probates Mittel, die Lohnkosten niedrig und das Land mit billiger Arbeit am Laufen zu halten.

Wie in einem Brennglas verdichtet zeigte dies der sogenannte Windrush-Skandal. Als am 22. Juni 1948 ein ehemals deutsches Kreuzfahrtschiff namens „Empire Windrush“ am Tilbury Dock in London einlief, waren 492 Commonwealth-Bürger an Bord. Bis 1973 kamen – auf Einladung Britanniens – weitere 550.000 ins Land. Sie arbeiteten unter härtesten Bedingungen, halfen, das Land nach dem Krieg wieder aufzubauen, zahlten ihre Steuern und Beiträge in die Sozialversicherungssysteme und gründeten Familien. Die Erinnerungen von Alan Johnson (2013) zeichnen ein plastisches Bild dieser Lebenswelt.

Seit 1971 wurden die Bürger des Commonwealth, die bereits auf der Insel leben, unbefristet geduldet, erhielten aber keine Papiere, die ihre Herkunft und ihren Status bestätigten. Einwohnermeldeämter gibt es in Großbritannien bis heute nicht, jeder kann hinziehen, wo er möchte, wenn er eine Wohnung findet. Auch Personalausweise gab es nicht. Nur wer auf eine Auslandsreise gehen will, braucht einen Pass. Sonst lebt man, wie man mag. Individualität, möglichst wenig Staat und das Versprechen von Aufstieg und Profit machen die Verlockungen aus, die bis heute Menschen motivieren, sich selbst vom sicheren europäischen Festland aus in Schlauchbooten in Richtung der britischen Küste zu wagen. 

Die Ambivalenz – billige Arbeitskräfte ja, Einwanderung aber nicht – beschäftigt die Innenpolitik seit Jahrzehnten. 2012 suchte Innenministerin Theresa May nach Instrumenten gegen (illegale) Einwanderung. Wer eine Wohnung mieten oder eine Arbeit antreten will, auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, der muss nun nachweisen, dass er britischer Staatsbürger ist. Das wäre eine Selbstverständlichkeit, wenn die einschlägigen Verwaltungsinstrumente das auch vorsähen. Aber diese gelten vielen als Tabu im Land der vermeintlich allgültigen individuellen Freiheit. 2006 hatte die Labour-Regierung nach langem Ringen eine Identity Card eingeführt. Das Gesetz wurde 2011 von der Regierung unter David Cameron widerrufen, das National Identity Register (NIR) gelöscht. So landeten Menschen, die fünf Jahrzehnte im Vereinigten Königreich gelebt hatten, plötzlich in Abschiebehaft, einige wurden tatsächlich in ihre Herkunftsländer verbracht oder konnten nach Verlassen des Landes nicht wieder einreisen. Großbritannien zeigte sich als Land des institutionalisierten Zynismus. 

Für eine andere Sorte „Flüchtlinge“ will das Land dagegen unbedingt attraktiv bleiben und noch anziehender werden: Geldmigranten. So wie einst Vermögen aus dem Handel mit Indien, Afrika, der Karibik und den beiden Amerikas in englischen Landhäusern angelegt und für die eigenen politischen Interessen investiert wurde, so bietet sich Großbritannien bis heute als Hort für alle an, die Geld in Sicherheit bringen möchten. 

Nicht nur, dass die britische Demokratie und der Rechtsstaat als stabil gelten, die Londoner Gesellschaft ist traditionell international und weltoffen. Mit Geld lassen sich die meisten Türen öffnen. Im Herbst 2021 erinnerten die Pandora Papers, die von einer weltweiten Gruppe investigativer Journalisten ausgewertet und veröffentlicht wurden, an ein Phänomen, das seit Jahren bekannt ist, aber gern aus der Wahrnehmung verdrängt wird. Großbritannien bietet sich als Paradies für all diejenigen an, die Vermögen aus dem eigenen Land entfernen und „anlegen“ wollen. Die Anführungszeichen sind bewusst gewählt, es ist Geld aus fremden Staaten, oft von autoritären Regimen aus der heimatlichen Wirtschaft entnommen. Hier ist über die vergangenen Jahrzehnte ein deutlicher Trend sichtbar. Von den Kindern afrikanischer Potentaten über russische Oligarchen bis zu arabischen Scheichs und asiatischen Tycoons, sie alle waren (und sind) gern bereit, Millionensummen in Londoner Immobilien zu investieren. Wenn arabische Herrscherfamilien und russische Oligarchen Milliarden Pfund in britischen Fußballklubs oder Pferdezuchten auf der Insel investieren, um „dazuzugehören“, verweist dies auf zweierlei. Das Vermögen wird den ursprünglichen nationalen Volkswirtschaften entzogen, ohne dass dem eine genuine Leistung Großbritanniens gegenübersteht. Gleichwohl tragen diese Transfers erheblich zu Wertschöpfung und Wohlstand auf der Insel bei – zu Lasten der Menschen, deren Herrscher das Geld Richtung London tragen. Die BBC (2021) hat analysiert, dass allein in den Pandora Papers rund 1.500 britische Immobilien im Wert von mehr als vier Milliarden Pfund auftauchen, die von reichen Ausländern über Briefkastenfirmen in England erworben wurden. Inzwischen haben Analytiker in zahlreichen Publikationen (vgl. Shaxson 2021) beschrieben, wie die City of London, also das Finanzzentrum auf der Insel, das Geld der Autokraten und Kleptokraten dieser Welt anzieht. Wer sein Vermögen hier parkt, bekommt selten Fragen gestellt und kann mit etwas Engagement selbst Zutritt zu den einschlägigen Klassen der „guten“ Gesellschaft erwerben. 

Mehrheitswahlrecht ist das dritte Schlüsselwort. Es ist vielleicht der zentrale Begriff schlechthin, um zu verstehen, warum Großbritannien sich in einer Selbstblockade befindet, deren Folgen seit dem Brexit-Referendum die internationalen Beziehungen belasten und das Verhältnis zur Europäischen Union bewusst zu zerstören drohen.

Das Mehrheitswahlrecht, so lautet das Klischee seiner Anhänger, fördere eine besonders enge Verbindung zwischen den Menschen im Wahlkreis und ihren Abgeordneten. Nach der Regel „first past the post“ – wer die relativ meisten Stimmen hat, gewinnt – genügt eine einfache Wählermehrheit für den Sitz im Parlament. Empirisch bedeutet dies, dass regelmäßig Kandidaten mit weniger als der Hälfte der Stimmen ihres Wahlkreises siegen. Sie können ins Unterhaus ziehen, während die Wähler, die sich auf andere Kandidaten verteilt haben, nicht weiter zählen und entsprechend nicht repräsentiert sind. Klientelpolitik für die relativ größte Minderheit ist die Folge und damit geradezu das Gegenteil dessen, was die Anhänger des Wahlrechts behaupten.

Nehmen wir das Beispiel des aktuellen Parlaments, das im Dezember 2019 gewählt wurde. Die Konservative Partei konnte mit 13.966.454 Stimmen (43,6 Prozent) 365 der 650 Wahlkreise für sich entscheiden. Die Labour Party erhielt 10.269.051 Stimmen (32,1 Prozent) und gewann 202 Wahlkreise. Die Liberaldemokraten erhielten 3.696.419 Stimmen (11,5 Prozent), gewannen aber nur 11 Wahlkreise. Die Scottish National Party wiederum erhielt für 1.242.380 Stimmen 48 Sitze. Obwohl Labour und Liberale zusammen nahezu die gleiche Zahl von Stimmen erhielten wie die Konservativen, sind sie nur mit 213 Abgeordneten repräsentiert. Die Konservativen dagegen repräsentieren nur gut vier von zehn Wählern, haben gleichwohl eine komfortable absolute Mehrheit. 

Die Stärke der Conservatives als jahrzehntelang dominierende Regierungspartei speist sich mithin stets aus zwei Quellen: der Schwäche der „anderen“ großen Partei, die Chancen auf eine Mehrheit hat – seit hundert Jahren die Labour Party –, und dem Wahlrecht. Diese aus Sicht der Konservativen höchst komfortable stabile Kombination behindert systemisch jene Checks and Balances, die innerhalb einer modernen Gesellschaft den Abgleich vielfältig ausdifferenzierten Interessen ermöglichen. Beispielhaft zeigte dies die letzte Parlamentswahl, die im Kern auf die Frage „Boris Johnsons Konservative oder Jeremy Corbyns Labour Partei“ hinauslief. Beim Gang in die Wahlkabine erschien nur dieses „Entweder-Oder“ als realistische Option, mit allen Folgen für die konfrontative Grundstimmung des gesamten politischen Systems, das weit mehr auf Stimmungen zielt als auf rational-analytische Lösungen. 

In der Summe heißt das: Großbritannien unter Führung Englands ist ein Staat, dessen politische Führung, wenn sie einmal die parlamentarische Mehrheit besitzt, wenig von innen zu fürchten hat. Die Checks and Balances moderner Gesellschaften, das Einbeziehen möglichst vieler gesellschaftlicher Interessen und Gruppen, um parlamentarische Mehrheiten zu erreichen, ist kaum notwendig, ja bisweilen hinderlich. Wichtiger ist die Mobilisierung der eigenen Klientel. Diese Grundkonstellation des politischen Prozesses fördert schwarz-weiß-Kontroversen mit einfachen Weltbildern („global Britain“) und klaren Gegnern („Monster EU“). Überraschend ist also nicht, dass Boris Johnsons mit seiner Regierung Verträge zu brechen bereit ist (Stichwort Nordirland-Protokoll), wenn er sich davon politische und persönliche Vorteile verspricht. Überraschend ist vielmehr, dass dies irgendjemanden zu verwundern mag, der sich in den vergangenen Jahrzehnten ernsthaft mit britischer Politik beschäftigt hat. Wenn wir die Wirkungen der Geschichte und das politisch-wirtschaftliche Selbstverständnis der britisch-englischen Gesellschaft in der Gegenwart betrachten, müssen wir deren Selbstbild ernstnehmen und stets mitdenken.

Wenn die Bundesrepublik, wenn die Europäische Union eine Lehre aus der Analyse des britischen politischen Systems und des darin angelegten Verhaltens ziehen kann, dann die, sich nicht infizieren zu lassen von einer nationalistischen Irrationalität und den offenen Versuchen des Tricksens auf internationaler Bühne, die man – zumindest in Europa – für überwunden hielt. Die Europäische Union ist kein Zauberwerk, sondern das Produkt jahrzehntelanger Interessen-Tausch-Verhandlungen. Alle mussten und müssen etwas geben, die einen, vor allem die Großen, auch viel Geld. Dafür haben wir eine Friedenszeit erhalten, wie es sie in der europäischen Geschichte nie zuvor gab. Großbritannien ist dieses Denken und diese Erfahrung weithin fremd geblieben. Der Brexit hat das nur schärfer sichtbar gemacht, vorhanden war es immer. Das bedeutet zugleich: Wir stehen in einem Wettbewerb und dürfen keine Scheu haben, unsere Interessen zu verfolgen, die nach dem Brexit nun regelmäßig damit einhergehen werden, sich gegen britische Vorteilssuche durchsetzen zu müssen. Seien wir realistisch und nehmen wir die Herausforderung an.


Literatur
BBC 2021: https://www.bbc.com/news/uk-58792393 [letzter Zugriff: 10.10.2021].

Giles, Sue 2001: ‘The Great Circuit: Making the Connection between Bristol’s Slaving History and the African-Caribbean Community’. In: Journal of Museum Ethnography, no. 13, March, S. 15–21; https://www.jstor.org/stable/40793663

Harris, Robert 2019: Interview in: Der Spiegel vom 16.10.2019, https://www.spiegel.de/kultur/robert-harris-ueber-den-brexit-die-leute-in-der-regierung-sind-luegner-a-173cc907-9566-4ed3-b854-51d4a95e3c96 [26.9.2021].

House of Commons Library: General Election 2019: results and analysis, https://researchbriefings.files.parliament.uk/documents/CBP-8749/CBP-8749.pdf [22.10.2021].

Johnson, Alan 2013: This Boy. London. National Trust 2020: Colionialism and historic slavery report; https://nt.global.ssl.fastly.net/documents/colionialism-and-historic-slavery-report.pdf [14.10.2021].

Shaxson, Nicholas 2021: The City of London Is Hiding the World’s Stolen Money. In: New York Times, 11.10., S. 20.


Zitation
Brechtken, Magnus (2022). Globales Britannien? Imaginationen großer Vergangenheit und die Welt der Gegenwart, in: POLITIKUM 1/2022, S. 50-57, DOI https://doi.org/10.46499/1836.2273.

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