Im Interview

Prof. Dr. Dieter Rucht ist Soziologe und Mitglied im Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin. 

Das Interview für POLITIKUM  führte Hans-Jürgen Bieling.

Interview mit Dieter Rucht: Kulturelle Veränderung statt Machtgewinn

POLITIKUM: Soziale Bewegungen zeichnen sich oft durch eine gesellschaftskritische Haltung aus. Doch nicht jede Gesellschaftskritik ist gleich Kapitalismuskritik. Welche Kriterien müssen Ihres Erachtens erfüllt sein, damit die Kritik sozialer Bewegungen als kapitalismuskritisch einzustufen ist?

Rucht: Nach meinem Verständnis ist Gesellschaftskritik, also Kritik am Status quo, kein zwingendes Merkmal sozialer Bewegungen. Ein Aspekt meiner Definition von sozialen Bewegungen ist der Sachverhalt, dass Bewegungen eine fundamentale Veränderung von Gesellschaft anstreben oder aber sich dieser widersetzen. Wenn eine soziale Bewegung am Bestehenden festhält, sich also gegen die Kräfte der Veränderung richtet, ist sie nicht notwendig gesellschaftskritisch.

Auch sollte man Kapitalismuskritik und Antikapitalismus auseinanderhalten. So gibt es Kräfte, die den Kapitalismus bändigen, zügeln, dessen Auswüchse beseitigen wollen, ohne den Kapitalismus abschaffen zu wollen. In diesem Zusammenhang spreche ich von Kapitalismuskritik. Antikapitalismus ist die Verschärfung oder Zuspitzung dieser Kritik mit dem Ziel, „den“ Kapitalismus, wie auch immer er konkret ausgestaltet ist, in toto abzuschaffen. Diese Unterscheidung ist wichtig, wobei es bei den einzelnen Bewegungen eine Verlagerung vom einen zum anderen Pol geben kann. Es gibt auch Bewegungen, die zwar mehrheitlich das eine oder das andere präferieren, aber auch die andere Seite verkörpern.

POLITIKUM: Was sind für Sie die Quellen, die Ursachen, die kapitalismuskritische Bewegungen erzeugen? 

Rucht: Es gibt einige Quellen, die Kapitalismuskritik und Antikapitalismus speisen. Wenn man beide Strömungen in einer Formel zusammenfasst, dann ist es die Einsicht in die (selbst)zerstörerische Tendenz, die dem Kapitalismus innewohnt. Diese Erkenntnis ist nicht auf die linke Seite des politischen Spektrums beschränkt; sie wird auch geteilt von ordoliberaler oder konservativer Seite. Zur selbstzerstörerischen Tendenz des Kapitalismus gehören Verelendung, Ausbeutung, Entfremdung im Marx’schen Sinne, Massenarbeitslosigkeit, extreme soziale Ungleichheit, äußere, das heißt imperialistische Landnahme, aber auch die innere Landnahme in Form der Kommodifizierung lebensweltlicher Bereiche, die kapitalistisch durchdrungen werden. Zu nennen ist auch die Monopolbildung und die Umweltzerstörung. Letztere ist zwar nicht genuin kapitalistisch, stellt aber faktisch eine Begleiterscheinung des Kapitalismus dar. All diese Aspekte bieten Anknüpfungspunkte für Bewegungen: einerseits für strikt antikapitalistische Bewegungen, die diese Zerstörung in allen ihren Facetten als grundlegendes Merkmal des Kapitalismus hervorheben und dessen Beseitigung als Quelle dieser Übel einfordern; andererseits aber auch für kapitalismuskritische Bewegungen, die sich auf einzelne dieser „negativen Nebenfolgen“ spezialisieren, so etwa die Umweltzerstörung, die Geschlechterungleichheit, die Situation im Globalen Süden und auch sehr konkrete Fragen, die die Miet- und Wohnsituation in den Innenstädten oder die Lage randständiger Gruppen betreffen.

POLITIKUM: Der Kapitalismus hat sich immer wieder verändert, so auch die Kritik an ihm. Lassen sich eigentlich unterschiedliche Phasen der Kapitalismuskritik identifizieren?

Rucht: Es gibt eindeutige Phasen. Der Durchbruch des modernen Kapitalismus ist verbunden mit dem Zeitalter der Aufklärung, mit dem liberalen Bürgertum, das eigene, dem Feudalismus entgegengesetzte Interessen verfochten hat. Hierzu zählt die freie ökonomische Entfaltung. Auch die Arbeitskraft sollte freigesetzt werden und sich auf dem Markt behaupten müssen. Das war eine eindeutig prokapitalistische Bewegung. Diese hat allerdings Gegenreaktionen hervorgerufen. Einerseits konservative Reaktionen, zum Beispiel romantische Bestrebungen, auch Restaurationsbewegungen, die die Ordnung des Ancien Régime wiederherstellen wollten. Andererseits gab es linke, progressive Kräfte, die sich zunächst als utopischer Sozialismus dargestellt haben, später als Wissenschaftlichkeit beanspruchender Sozialismus und Kommunismus. Diese Kräfte erstarkten im Laufe des 19. Jahrhunderts, hatten bei genauem Zusehen aber viele Facetten. Es gab z. B. sozialistisches Gedankengut bei den Diggers und den Luditten in England. Es gab die frühe Gesellenbewegung, die Sozialrebellen, auch religiös grundierte, kommunitäre Experimente der Wiedertäufer, der Amish, der Hutterer, der Quäker und wie sie alle heißen. Sie hatten durchaus kommunistische und sozialistische Lebenspraktiken propagiert und zum Teil auch realisiert, ohne dabei das Wort des Sozialismus oder Kommunismus in den Mund zu nehmen.

In den 1920er Jahren setzten sich kommunitäre Experimente fort, etwa in Spanien, wo der Anarchismus eine große Rolle spielte. Nach 1945 war sozialistisches Gedankengut nicht nur in der sowjetisch besetzten Zone, sondern auch in der Trizone im Westen durchaus präsent. Ich erinnere z. B. an den Generalstreik 1948, der erste und einzige Generalstreik nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem sich immerhin neun Millionen Arbeitnehmer*innen beteiligt haben und in dem es auch um die Wirtschaftsverfassung ging. Damals war durchaus die Vorstellung vorhanden – nicht nur bei den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, auch bei Teilen der damaligen CDU –, dass ein anderes als das bestehende kapitalistische System zu schaffen sei. Das heißt, der Antikapitalismus rückt zeitbedingt immer mal wieder in den Vordergrund.

Jetzt nur ein paar Stichworte zu den jüngeren Wellen, damit sie nicht ganz vergessen werden: Wir haben eine Welle der Globalisierungskritik erlebt, die ihre Hochphase in den 1990er und frühen Nullerjahren hatte. In den Jahren 2010/11 gab es die Occupy-Bewegung, in Mitteleuropa auch „Blockupy“, die beide kurzlebig waren. Diese und andere Bewegungen haben die Kapitalismuskritik, zuweilen auch einen dezidierten Antikapitalismus, geltend gemacht. Sie haben Hochphasen durchlaufen, verschwanden dann aber wieder. 

POLITIKUM: Wie stellt sich aus Ihrer Perspektive der Einfluss kapitalismuskritischer Bewegungen gegenwärtig dar? 

Rucht: Grundsätzlich ist zwischen zwei Dimensionen zu unterscheiden: Wenn wir die Mobilisierungskraft jener Bewegungen betrachten, die unter dem Vorzeichen der Kapitalismuskritik starten, so sehen wir keine lineare Entwicklung, sondern eine sehr ausgeprägte Wellenbewegung. Eine zweite Dimension ist die öffentlich kommunizierte Kapitalismuskritik, die von verschiedenen Seiten eingebracht wird, aber nicht in Protestbewegungen mündet. Diese Kritik ist in der Regel moderat. Es gibt allerdings besondere Anlässe, die diese in der Öffentlichkeit präsente und nicht bewegungsförmige Variante der Kapitalismuskritik befördern. Dazu gehört beispielsweise die Finanzkrise 2007/8, die für manche, durchaus auch liberale Kommentatoren, ein Aha-Erlebnis bedeutete, nämlich den erneuten Beweis, dass dieser Kapitalismus als Selbstläufer destruktive Tendenzen beinhaltet und dass es deshalb einer Einhegung des Kapitalismus bedarf. 

Geographisch betrachtet sind die kapitalismuskritischen Bewegungen unterschiedlich stark. Das gilt im globalen Maßstab, aber auch innerhalb Europas. In Lateinamerika war vor einiger Zeit ein bemerkenswerter Aufstieg kapitalismuskritischer Bewegungen zu verzeichnen. In einzelnen Ländern, so etwa Venezuela, wurde der Antikapitalismus sogar zur Staatsdoktrin und somit gestaltungsmächtig. Aber schon seit einigen Jahren ist absehbar, dass auch diese Phase ausläuft. Es gibt noch Sonderfälle wie Kuba, das sich als Regime nach wie vor dem Antikapitalismus verpflichtet fühlt, aber weltpolitisch bedeutungslos ist. In Europa stellt sich die Situation anders dar. In einigen Ländern, z. B. Griechenland, haben kapitalismuskritische Kräfte einen größeren Einfluss als in Österreich, der Schweiz oder auch Deutschland. Obwohl eine klare Gesamttendenz nicht so recht erkennbar ist, sind diese Kräfte zumeist nur eine Randerscheinung. Innerhalb der okzidentalen Welt erlangen sie derzeit nirgends Gestaltungskraft. 

POLITIKUM: Auch die Bewegungsakteure im Umfeld der „Neuen Rechten“ haben zuweilen den Anspruch, eine kapitalismuskritische Position einzunehmen. Ist ein solches Selbstverständnis Ihres Erachtens zutreffend oder führt es in die Irre? 

Rucht: Nach meinem Eindruck vertreten die Neue Rechte und ihr Umfeld keine kapitalismuskritische Position. Rein rhetorisch mögen einige Worthülsen vorkommen, die eine solche Einordnung nahelegen. Aber es handelt sich um keine Position, der eine substanzielle Analyse oder Theorie zugrunde liegt. Es werden vor allem Ressentiments bedient, bei denen kapitalismuskritische Schlagworte eine Rolle spielen können. Mitunter wird das „Großkapital“ oder „das jüdische Finanzkapital“ als finstere Macht im Hintergrund benannt. In erster Linie geht es jedoch darum, Ressentiments zu schüren und Abstiegsängste und Bedrohungslagen auszunutzen. Aber wenn man davon absieht, gibt es keine halbwegs konsistente Kapitalismuskritik auf rechter Seite. Deutlicher ist die Zurückweisung der Globalisierung – nicht im Sinne der linken Globalisierungskritik, sondern im Sinne einer Anti-Globalisierungshaltung. Diese fällt in manchen rechten Kreisen sehr pauschal und zugleich sehr dezidiert aus, fußt aber auch in diesem Fall nicht auf einer Analyse, sondern auf einer Abwehr des Fremden, des Internationalistischen, des Kosmopolitischen. 

POLITIKUM: Ein anderer Fall ist „Fridays for Future“ (FFF). Wie würden Sie diese Bewegung einordnen? 

Rucht: Ich spitze mal zu: FFF ist eine absolut systemimmanente Bewegung und der Indikator dafür ist ihre Hauptforderung, nämlich: „Ihr gewählten Politiker und Regierungschefs dieser Welt, ihr habt euch in Paris im Dezember 2015 zu diesem Klimaabkommen verpflichtet. Löst mal gefälligst ein, was ihr versprochen habt.“ Systemimmanenter geht es kaum. Man kann natürlich die schleppende Umsetzung dieser Beschlüsse kritisieren, aber da ist erst einmal kein Funken von Kapitalismuskritik oder gar Antikapitalismus enthalten. Nun ist FFF eine heterogene und diffuse Bewegung, die sich insgesamt lediglich in dieser Kernforderung einig weiß. Einzelne Sprecher*innen können durchaus systemkritische Positionen formulieren, aber dies ist dann nicht die Position von FFF. 

An den Rändern dieser Bewegung gibt es aber Kräfte, die die Systemfrage stellen. Ebenso sind Schnittmengen zu anderen Gruppierungen erkennbar, etwa „Ende Gelände“, die sich gegen den Braunkohleabbau in verschiedenen deutschen Regionen wenden. Ende Gelände pflegt und predigt nicht nur zivilen Ungehorsam, sondern vertritt in einzelnen Ortsgruppen durchaus antikapitalistische Positionen. Aber dies sind nicht die Positionen von FFF. Nochmals: FFF ist – zumindest bislang – eine rein systemimmanente Bewegung.

POLITIKUM: Kapitalismuskritik wird oft durch gravierende Probleme, Krisen oder Katastrophen stimuliert, zumindest haben sie ein solches Potential. Ob dieses Potential genutzt wird, ist zunächst offen. Wie schätzen Sie das Potenzial der Corona-Pandemie ein?

Rucht: Mit den meisten Fragen, die sich auf Corona beziehen, wird keine Kapitalismuskritik verbunden. Allerdings gibt es ein potenzielles Einfallstor für eine mögliche Kapitalismuskritik. Ich würde diese Möglichkeit nicht sehr hoch veranschlagen, aber es ist etwas, was man beachten sollte. Es gibt eine extrem unterschiedliche Betroffenheit durch Corona aufgrund unterschiedlicher sozialer Lagen. Dies gilt für unsere westliche oder bundesdeutsche Gesellschaft wie auch in globalem Maßstab. In dem Maße, wie Impfstoffe und andere Mittel zur Eindämmung der Krise extrem ungleich in der Welt verteilt sind, entsteht nicht nur ein moralisches Gerechtigkeitsproblem – „Armut tötet“. Es kommt auch zu einem Bumerang-Effekt, der auf die reichen Länder zurückschlägt. Die Nicht-Bewältigung der Krise in armen Ländern, im Globalen Süden, fördert grundsätzlich die Verbreitung der Krankheit und mögliche Mutationen. Dagegen kann sich die reiche Welt – der kapitalistische Westen – nicht abschotten. Also liegt es nahe, dass man zu einer fairen Verteilung der Impfstoffe und Hilfsmittel im globalen Maßstab kommt. In dem Maße, wie dies nicht geschieht und der Bumerang-Effekt droht oder real eintritt, gibt es ein Einfallstor für Kapitalismuskritik. Nach dem Motto, „da seht ihr, was uns diese Konkurrenzorientierung und die Orientierung am maximalen Gewinn einträgt: Selbstzerstörung“. Aber es gibt auch eine Gegentendenz, nämlich die kapitalismusfreundliche Erzählung, dass in der Wirtschaft unglaublich kreative, flexible, innovative Player am Werk seien. Sie erlaubten es, einer Herausforderung wie der Coronakrise am Ende Herr zu werden oder sie zumindest auf ein erträgliches Maß einzudämmen. 

POLITIKUM: Kapitalismuskritische soziale Bewegungen haben sich immer auch in ihrem Modus von Politik und ihrer Haltung zum Staat unterschieden. Den auf Selbstorganisation und auf die Zivilgesellschaft fokussierten Bewegungen standen eher auf den Staat setzende Akteure gegenüber. Ist dies eigentlich noch immer so? 

Rucht: Es gibt eine Verschiebung der Akzente im Verlauf der letzten Jahrzehnte. Die traditionelle Linke zielte auf die Eroberung politischer Macht. Das kann auf parlamentarischem Wege geschehen oder durch die revolutionäre Herbeiführung einer Rätedemokratie. Aber davon unabhängig war politische Macht der Dreh- und Angelpunkt. Macht sollte erobert werden, um dann die Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Diese linke Fixierung auf Macht hat in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Sie weicht einer anderen Orientierung, die – zum Teil in Rekurs auf Gramsci – stärker auf kulturelle Veränderung setzt. Es geht darum, Leute zu überzeugen und kulturelle Hegemonie zu erlangen, das Denken und die Lebenspraxis der Menschen zu verändern. Diese Orientierung ist keineswegs auf linke Kreise beschränkt. Sie umfasst all jene, die eine vitale Zivilgesellschaft gutheißen, die sich für kommunitäre Experimente und eine präfigurative Politik einsetzen. Im Vorgriff auf eine gesellschaftliche Utopie gilt es in kleinem Rahmen Solidarität, Gleichheit und Respekt gegenüber Anderen zu praktizieren. Der Referenzpunkt können die Familie, der Freundeskreis, Wohnexperimente oder politische Gruppen sein. Es gibt eine deutliche Akzentuierung von Befindlichkeiten, Emotionen und Empathie, während die Ein- und Unterordnung in das hierarchische Gefüge einer sozialistischen Organisation an Bedeutung verliert. 

Diese veränderte Orientierung bringt auch ein anderes Kommunikationsverhalten mit sich. Man denke etwa an die K-Gruppen der 1970er Jahre, die sich an jedes Mikrofon geklammert haben und stundenlang vor geneigtem Publikum Marx-Exegesen vorgeführt haben. Das ist heute unmöglich. Wenn wir heute eine studentische Vollversammlung oder einen Unistreik betrachten, dann sehen wir ein völlig verändertes Kommunikationsverhalten. Nicht selten werden die „Verticals“, die im alten Stile argumentieren, scharf kritisiert und zurückgewiesen, die „Horizontals“, die für egalitäre Strukturen eintreten, hingegen begrüßt und unterstützt. In einer reflexiven Kommunikation sind die Moderator*innen sensibel für Rückmeldungen. Sie achten darauf, ob genug Frauen zu Wort kommen, ob sich Redner*innen bereits zum fünften Mal gemeldet haben und immer mehr Redezeit beanspruchen. Die Hinwendung zu Fragen der Kommunikation, der Überzeugungsarbeit anstelle der Indoktrination, ist eine gewaltige Veränderung, die sich natürlich nicht von gestern auf heute vollzogen hat. Es ist eine Tendenz, die kaum gesehen und auch in ihrer politischen Ausstrahlungswirkung unterschätzt wird. 

POLITIKUM: Der Kommunikationsstil der kapitalismuskritischen Kräfte hat sich also geändert. Mir scheint auch, dass die Alternativen inzwischen recht diffus, positive Leitbilder kaum greifbar sind. Ist dieser Eindruck zutreffend? Und ist dies unter dem Aspekt der politischen Mobilisierung eigentlich ein Vor- oder ein Nachteil? 

Rucht: Historisch gab es die Heroisierung sozialistischer Positionen in Worten und Bildern: das rote Fahnenmeer, die riesige Menschenmenge, kühne Frauen mit wehender Fahne, im Hintergrund die aufgehende Sonne. Diese ikonischen Elemente und auch die Rhetorik, die mit ihnen verbunden ist, sind weitgehend verschwunden. Vor allem der reale Sozialismus hat all dies diskreditiert. Für heutige Bewegungen ist es schwer, mit dieser Art von Symbolik politische Dynamik zu erzeugen. Symbole mögen vielleicht kurzfristig beflügeln. Auch können mitreißende, rhetorisch begabte Redner*innen agitieren und Emotionen wecken. Aber solche Praktiken sind nicht auf Dauer zu stellen. So gesehen ist die Selbstbescheidung kapitalismuskritischer Bewegungen etwas Positives. Der zapatistische Leitspruch „Fragend schreiten wir voran“ bringt diese Haltung gut zum Ausdruck; ebenso den Respekt vor dem, was nachfolgende Generationen als erstrebenswert definieren mögen. Die bereits von utopischen Sozialisten gleichsam auf dem Reißbrett entworfenen sozialistischen Wohn- und Arbeitsformen sind nicht attraktiv. Die heutigen Bewegungen bevorzugen einen offenen und kreativen Prozess der Selbstfindung. Dieser muss Raum für Experimente lassen, Irrtümer eingeschlossen. 

POLITIKUM: Die „alte“ Kapitalismuskritik war fortschrittsoptimistisch und hat den beteiligten Akteuren die Überzeugung verliehen, dass sie sich durchsetzen werden. Heute kommt die Kapitalismuskritik eher fortschrittsskeptisch daher. Ist dies nicht eine strukturelle Schwäche, die an der einen oder anderen Stelle durch motivierende positive Leitbilder überwunden werden müsste? 

Rucht: Ich tue mich ein wenig schwer mit einer Antwort. An dieser Stelle kommt die Rolle von Utopie ins Spiel. Auf längere Sicht kommt keine Bewegung ohne Utopien, also ohne Richtungsmarken aus, wohin die Reise gehen soll. Auch wenn sie zunächst mit dem bloßen „nein“ startet. Früher oder später kommt in der Bewegung oder von außen an sie herangetragen die Frage auf: Wo bleibt das Positive? Was sind eure konstruktiven Alternativen? Und in dem Ringen um Alternativen, die oft gar nicht so konkret ausbuchstabiert werden können, spielen Leitmotive, ein bestimmtes Menschenbild, elementare Menschenrechte eine Rolle. Aber dies bedeutet nicht, dass es einen fixen Plan gibt, wie politische Ziele zu realisieren sind. Manchmal müssen auch Umwege gemacht werden, um dem Ziel näher zu kommen. Bloch hat den Gegensatz von konkreter und abstrakter Utopie betont. Die abstrakte Utopie ist etwas, das in großen Worten an die Wand gemalt wird, aber in keiner Weise klar macht, wie man vorankommen kann. Die konkrete Utopie, die nicht zu verwechseln ist mit den Entwürfen utopischer Sozialisten, ist hingegen mehr als eine bloße Richtungsangabe. Sie leitet erste Schritte in Richtung der Utopie ein, ohne einen Plan mitzugeben, was zweitens, drittens und viertens passieren soll. Progressive Bewegungen bedürfen einer konkreten Utopie im Bloch‘schen Sinne. Das bloße Verharren auf dem „nein“ mündet in einer Sackgasse.

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