Klimaentwicklung und Klimaprognosen
Angemessene Prognosen über die zukünftigen Klimaentwicklungen
müssen sowohl die Klimaphysik als auch klimarelevante gesellschaftliche Dynamiken berücksichtigen. Dies erfordert die Kombination
unterschiedlicher erkenntnistheoretischer Grundlagen, die sich bislang
aber weitgehend unabhängig voneinander entwickelt haben.
Worin bestehen die gemeinsamen Prognose-Herausforderungen?
Wissenschaftliche Herausforderung Klimaprognosen
Jahrzehntelange Forschung hat zweifelsfrei nachgewiesen, dass der menschengemachte Klimawandel stattfindet, und tiefgreifende Veränderungen sind zu erwarten. Wollen wir diese Veränderungen prognostizieren, müssen wir zwei Grundsatzfragen beantworten. Erstens, welche künftigen klimarelevanten gesellschaftlichen Dynamiken betrachten wir als plausibel, und zu welchen Emissionen klimawirksamer Substanzen wie CO2 führen diese Dynamiken? Zweitens, wie reagiert das physikalische Klimasystem auf diese Emissionen? Die beiden Fragen werden traditionell von sehr unterschiedlichen und unabhängig voneinander agierenden Wissenssystemen behandelt, wobei die zweite Frage seit weitaus längerer Zeit im Zentrum einer großen und gut strukturierten Wissenschaftsgemeinde steht. Wie behandeln die beiden unterschiedlichen Wissenschaftskulturen den menschengemachten Klimawandel? Und lassen sich aus dem Verstehen der Unterschiedlichkeiten Möglichkeiten gemeinsamen Vorgehens entwickeln?
Die Prognose-Herausforderung klimarelevanter gesellschaftlicher Dynamiken stößt unmittelbar auf die Frage nach dem Umgang mit der prinzipiellen Unvorhersagbarkeit sozialer Systeme. Eine Antwort besteht darin, dass es zunächst einmal um eine Weiterentwicklung der Analyseinstrumente gehen muss, dass also zunächst geklärt werden muss, welche Fragen zur gesellschaftlichen Entwicklung sinnvoll gestellt werden sollten. Die Prognose-Herausforderung in der Klimaphysik hat es hier leichter, seit Jahrzehnten behandelt sie sinnvollerweise „was-wäre-wenn“-Fragen. Sie nimmt also gewisse Szenarien für künftige Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen als gegeben an und erforscht die physikalischen Konsequenzen, immer konditioniert auf einen bestimmten Emissionspfad (siehe z. B. IPCC 2013). Die Plausibilität eines bestimmten Emissionspfads kann die Klimaphysik jedoch nicht hinterfragen.
Was wir über die Entwicklung des physikalischen Klimasystems sagen können
Wir betrachten hier zwei zentrale Aspekte des physikalischen Klimasystems: erstens die Erhöhung der global gemittelten Oberflächentemperatur als der wichtigsten Kenngröße des menschengemachten Klimawandels und zweitens, wie regionales Wetter sich mit dem Klima ändert, als entscheidende Größe für die notwendige Anpassung an den Klimawandel.
Empfindlichkeit des Klimas
Wir wissen, dass eine Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre die mittlere Temperatur am Erdboden erhöht, aber das genaue Ausmaß dieser Erwärmung ist ungewiss. Die entscheidende Maßzahl ist die so genannte Klimasensitivität, die Erhöhung der global gemittelten Oberflächentemperatur bei einer gedachten Verdoppelung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre, von 280 ppm (parts per million, Teile pro Millionen), wie es dem vorindustriellen Zustand entsprach, auf 560 ppm. Es geht dabei um diejenige Temperaturerhöhung, bei der das Klima einen neuen Gleichgewichtszustand erreicht hat. Kennen wir diese Temperaturerhöhung genau, können wir auch präzise abschätzen, welche CO2-Konzentration noch kompatibel ist mit dem im Pariser Klimaabkommen festgehaltenen Ziel, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1.5 °C zu begrenzen. Daraus können wir wiederum herleiten, welche künftigen CO2-Emissionen noch mit dem Pariser Klimaabkommen kompatibel wären.
Der Unsicherheitsbereich für die Klimasensitivität stagnierte seit Ende der 1970er Jahre bei 1,5 °C bis 4,5 °C, wobei dieser Bereich als ein „plausibler“ zu interpretieren ist, Werte darunter und darüber aber durchaus möglich sind. Im letzten Jahr ist viel Bewegung in diese Abschätzung gekommen, mehrere unabhängige Arbeiten kommen zu dem Schluss, dass der plausible Bereich der Klimasensitivität wohl eher 2,5 °C bis 4 °C umfasst, also um die Hälfte kleiner als zuvor angenommen ist (z. B. Jiménez-de-la-Cuesta/Mauritsen 2019). Eine Erwärmung von deutlich unter 2 °C bei einer CO2-Verdoppelung kann praktisch ausgeschlossen werden, Werte über 5 °C sind sehr unwahrscheinlich, aber denkbar.
Regionale Änderungen und interne Klimavariabilität
Selbst wenn die Erwärmung der Erde im globalen Mittel ausgemacht ist, hilft diese Information für konkrete Anpassungsstrategien erst einmal noch nicht. Niemand lebt im globalen Mittel, es sind regionale Änderungen, die uns betreffen – wir müssen wissen, wie sich das Wetter mit dem Klima ändert (Marotzke u. a. 2017). Regionale Klimaänderungen sind jedoch noch deutlich ungewisser als globale. Dies liegt zum einen daran, dass regionale Änderungen von langfristigen Änderungen der atmosphärischen Strömungsmuster stark beeinflusst werden, und letztere unterscheiden sich gravierend zwischen verschieden Modellprognosen (Shepherd 2014). Zum anderen kommt ein Phänomen ins Spiel, das wir „interne Klimavariabilität“ nennen. Ebenso wie das Wetter an zwei aufeinanderfolgenden Tagen niemals genau dasselbe ist oder das Wetter an einem Kalendertag zweier unterschiedlicher Jahre nie dasselbe ist, schwankt auch das Klima in einem gewissen Maße, ohne dass hierfür eine bestimmte Ursache identifiziert werden könnte – diese Schwankungen entstehen rein zufällig. Ein Beispiel hierfür ist das El Niño-Phänomen, die massive Erwärmung des östlichen tropischen Pazifiks um Weihnachten herum, mit weltweiten Wetterfolgen. Wir können nicht vorhersagen, ob etwa in zwei Jahren ein El Niño auftritt, er passiert einfach oder auch nicht. Aber das Jahr nach einem starken El Niño zeigt üblicherweise eine anomal hohe globale Mitteltemperatur – eine Manifestation interner Klimavariabilität. Generell beeinflusst die interne Klimavariabilität das regionale Klima noch deutlich stärker als das globale.
Die Bedeutung der internen Klimavariabilität für die Notwendigkeit von Anpassung an den Klimawandel wird in Abbildung 1 illustriert. Sie zeigt als Gedankenspiel, wie sich eine gedachte Erhöhung der globalen Mitteltemperatur um 1.5 °C oder 2 °C auf mögliche europäische Sommertemperaturen auswirkt. Hier ist der globale Wert so zu verstehen, dass das Mittel über eine ganze Dekade etwa 1,5 °C bzw. 2 °C höher liegt als der vorindustrielle Wert, für den wir das Mittel über die Jahre 1851 bis 1880 benutzen. Wir haben die Simulation mit demselben Modell so oft wiederholt, dass wir 300 Dekaden erhalten mit um 1,5 °C bzw. 2 °C erhöhtem globalen Mittel und somit in beiden Fällen jeweils 3000 Jahre europäischer Sommertemperaturen. Bei gegebener Erhöhung des globalen Mittels ergeben sich die Unterschiede zwischen einzelnen Jahren rein zufällig, als Folge interner Klimavariabilität.
Bei einem dekadisch und global um 1,5 °C wärmeren Klima kann die europäische Temperaturerhöhung alle Werte zwischen 0 °C und fast 5 °C annehmen. Werte um 2 °C treten am häufigsten auf, sind also am wahrscheinlichsten bei einer globalen Erwärmung von 1,5 °C, aber die anderen Werte sind ebenso möglich, wenn auch weniger wahrscheinlich. Und alle Werte sind gleich gültig, es ist reiner Zufall, welcher Wert für Europa in einem bestimmten Jahrzehnt mit 1,5 °C globaler Erwärmung auftaucht. Nach heutigem Verständnis wird niemals vorhersagbar sein – auch nicht durch zusätzliches Wissen! –, welcher der Werte in der dargestellten Verteilung tatsächlich eintreten wird. Auf eine Schwankung zwischen praktisch keiner Erwärmung und fast 5 °C muss man sich in Europa also einstellen, selbst wenn die globale Temperaturerhöhung bei 1,5 °C stabilisiert werden kann. Dies bedeutet eine große Herausforderung für künftige Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel. Bei 2 °C globaler Erwärmung ergibt sich alles analog, nur mit etwas verschobener Bandbreite, von etwa 0.7 °C bis 6 °C Erhöhung in europäischen Sommertemperaturen.
Fazit Klimaphysik
Wir haben hier zwei Aspekte ins Zentrum gerückt, zum einen die unvorhersehbaren Schwankungen vor allem auf regionaler Skala, die eine klare Anpassung an den Klimawandel erfordern, und zum anderen die Reaktion der globalen Mitteltemperatur auf eine Erhöhung der CO2-Konzentration. Natürlich gibt es noch andere Treibhausgase wie Methan oder Lachgas, die ebenfalls zur Erwärmung beitragen, aber im Kern ist der anthropogene Klimawandel ein CO2-Problem. Wegen seiner langen Verweildauer in der Atmosphäre und des fast universellen Auftretens von CO2-Emissionen in praktisch allen menschlichen Aktivitäten ist CO2 einerseits das physikalisch wichtigste anthropogene Treibhausgas und erfordert andererseits die umfassendsten Maßnahmen, um seine Emissionen zu vermeiden. Die Entwicklung des zukünftigen Klimawandels hängt also entscheidend davon ab, wie die CO2-Zukunft von den gesellschaftlichen Dynamiken geprägt wird.
Was wir für die Einschätzung der klimarelevanten gesellschaftlichen Entwicklungen fragen müssen
Wenn die weitere Entwicklung des Klimasystems also im Wesentlichen davon abhängt, wie sich die globalen CO2-Emissionen verändern, besteht die Kernfrage für die klimarelevanten gesellschaftlichen Entwicklungen darin, wodurch diese globalen Emissionen beeinflusst werden und was das Veränderungspotential in den gesellschaftlichen Strukturen ist (Engels 2016). Wir wissen bereits sehr viel darüber, wie diese gesellschaftlichen Strukturen in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass die globalen CO2-Emissionen immer weiter angestiegen sind (Dunlap/Brulle 2015) – und zwar auch zuletzt wieder, trotz inzwischen jahrzehntelanger Bemühungen um weltweiten Klimaschutz (Christensen/Olhoff 2019). Daraus ergibt sich vor allem ein Verständnis dafür, dass die Pariser Klimaziele eine gewaltige gesellschaftliche Herausforderung darstellen.
Wissenschaftlich auf die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Transformation hinzuweisen, hilft leider kaum für das Verständnis der gesellschaftlichen Voraussetzungen einer solchen Transformation. Die gesellschaftlichen Dynamiken sind – anders als das durch Naturgesetze beschreibbare Klimasystem – prinzipiell zukunftsoffen. Wenn wir aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit eine Lehre ziehen können, dann ist es die, dass die meisten großen Veränderungen sich ungesteuert ergeben (z. B. Digitalisierung) und dass wir umwälzende Veränderungen im Vorhinein nicht vorhergesehen haben (z. B. die deutsche Wiedervereinigung).
Zwar sind die Möglichkeiten einer globalen Entwicklungssteuerung nicht gegeben, aber dennoch wird die gesellschaftliche Zukunft auf vielfältige Art gestaltet. Man kann sich die Gesellschaft als lernendes System vorstellen – nur ist keineswegs garantiert, dass die Gesellschaft als Ganzes die gleichen Schlüsse zieht und dass sie lernt, sich in eine klimaneutrale Form zu entwickeln. Die zentrale Frage für die Prognose zukünftiger Klimaentwicklungen im Bereich der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften lautet daher, wie plausibel verschiedene zukünftige Emissionspfade sind, und zwar sowohl weiter steigende als auch stagnierende und stark fallende Emissionsmengen. Wenn man von der normativen Aussage über die Notwendigkeit der Transformation absieht und ernsthaft versucht, die realen Möglichkeiten gesellschaftlicher Dynamiken zu verstehen, muss man von einer großen Bandbreite an zukünftig möglichen Entwicklungen ausgehen.
Es gibt zahlreiche denkbare gesellschaftliche Dynamiken, durch die das CO2-Problem gelöst würde. Im Prinzip ist denkbar, dass ein weltweit geltendes schlagkräftiges Klimaschutzregime geschaffen wird, auch wenn das bisher nicht ansatzweise gelungen ist. Vorstellbar ist auch, dass ein umfassender kultureller Wandel von Konsummustern und Lebensstilen einsetzt, der die Nachfrage nach klimafreundlichen Lösungen so sehr anheizt, dass sich das Wirtschaftssystem allmählich darauf ausrichtet. Und es sind technologische Optionen vorhanden, die zu einer weltweiten Durchsetzung gelangen und so das CO2-Problem lösen könnten.
Aber genauso gibt es auch viele denkbare gesellschaftliche Dynamiken, durch die das CO2-Problem verschärft würde. So ist zum Beispiel jede Form von umfassendem bewaffneten Konflikt zwischen Staaten eher dazu geeignet, den CO2-Ausstoß anzutreiben und Klimaschutzziele vollkommen in den Hintergrund treten zu lassen. Die Schwächung des Multilateralismus könnte so weit voranschreiten, dass globale Abkommen generell ihre Wirkung verlieren und das bereits nur schwach wirksame Klimaregime vollends zerfällt. Ebenso ist denkbar, dass sich in einer wachsenden Zahl von Staaten Klimawandel-leugnende populistische Regierungen etablieren, die Klimaschutz als Ziel schlicht ablehnen. Welche von diesen denkbaren gesellschaftlichen Dynamiken sind plausibel? Und wie können wir die Plausibilität von steigenden, sinkenden oder stagnierenden Emissionsmengen einschätzen, ohne dem Wunschdenken zu unterliegen? Dazu müssen wir erstens genau verstehen, welche Mechanismen uns derzeit immer noch fest im fossilen Modus gefangen halten. Auf dieser Grundlage kann man zweitens analysieren, ob und wie diese Mechanismen durch Maßnahmen zum Klimaschutz aufgebrochen und umgelenkt werden können. Drittens müssen wir uns aber damit beschäftigen, welche Dynamiken jenseits des Klimaschutzes relevant werden und wie diese in ihrer Wirkung auf den CO2-Ausstoß einzuschätzen sind.
Der fossile Lock-In
Derzeit sind weltweit die Konsummuster, die Produktionsweisen und die Finanzierungsmodalitäten so strukturiert, dass ein hoher Einsatz fossiler Energieträger nicht bestraft bzw. der Einsatz nicht-fossiler Energieträger nicht genügend belohnt wird. Diese Dynamik führt zu einem fortgesetzten hohen weltweiten CO2-Ausstoß (Seto u. a. 2016). In jedem einzelnen dieser Bereiche sind klimafreundliche Alternativen denkbar. Allerdings ist dort, wo die materiellen Möglichkeiten des Konsums überhaupt gegeben sind, typischerweise die Freiheit der Konsumentscheidung sehr stark institutionell (rechtlich) abgesichert. Produzenten könnten auf Klimaschutzziele verpflichtet werden, jedoch ist gerade in den fossilen Industrien das Vetopotential sehr groß, und Regierungen verzichten auf allzu weitreichende Zwangsmaßnahmen – auch, weil sie große wirtschaftliche Verwerfungen und die daraus entstehenden Protestbewegungen befürchten. Stabilisiert werden CO2-intensive Formen des Konsums und der Produktion zudem dadurch, dass nach wie vor die höchsten Profite im Bereich fossiler Energien erzielt werden können. So basiert unser derzeitiger gesellschaftlicher Entwicklungspfad auf einem historisch gewachsenen, engen institutionellen Geflecht, das sehr schwer zu durchbrechen ist. Selbst wenn es einen merklichen Ausbau im Bereich erneuerbarer Energien und CO2-freier Technologien gibt, ist damit noch lange kein Abbau von CO2-intensiven Formen des Konsums und der Produktion verbunden.
Die Möglichkeiten des Klimaschutzes
Will man den fossilen Lock-In überwinden, müssen also nach Möglichkeit Produktion, Konsum und Finanzierungsmöglichkeiten der Logik des Klimaschutzes unterstellt werden. Was sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür? Um Klimaschutz möglichst umfassend zu verankern, müssen sich die Klimaziele zwangsläufig gegen konkurrierende Themen durchsetzen. Der wissenschaftliche Verweis auf die Notwendigkeit der drastischen Emissionssenkung kann dabei ein hilfreiches Argument sein, aber im Prozess dieser Themenkonkurrenz geht es auch um ganz andere Aspekte. Innerhalb von Entscheidungssystemen müssen Kompromisse eingegangen werden; der Klimaschutz muss zu einem Thema gemacht werden, das sich mit anderen Prioritäten verbinden lässt oder es muss so relevant gemacht werden, dass es andere Prioritäten ablöst. Das ist unvermeidbar ein konflikthafter politischer Prozess, der nicht durch Rückgriff auf Klimawissen ausgehebelt werden kann (Grundmann/Rödder 2019). Das gilt im Prinzip sowohl für pluralistisch verfasste wie auch für autokratisch verfasste Entscheidungssysteme, nur sind die Mechanismen dafür jeweils andere. Wie plausibel ist es, dass Klimaschutz sich im Bereich der Regulierung in der Themenkonkurrenz durchsetzt und klimafreundliche Regelungen mit den entsprechenden Umsetzungsinstrumenten flächendeckend eingeführt werden?
Gesellschaftliche Dynamiken „hinter dem Rücken“ des Klimaschutzes
Auch wenn es gelingt, immer mehr gesellschaftliche Bereiche durch die Anforderungen des Klimaschutzes prägen zu lassen, gibt es gesellschaftliche Dynamiken, die ebenfalls relevant für die zukünftige Entwicklung von CO2-Emissionen sind, sich aber der geplanten Behandlung entziehen. So ist z. B. bei jeder Art von Klimaschutz auch mit einer ganzen Reihe von nicht-intendierten Folgeproblemen zu rechnen. Das ist aufgrund der Komplexität gesellschaftlicher Verflechtungen überhaupt nicht zu vermeiden. Manche dieser Folgeprobleme äußern sich in Form von so genannten Rebound-Effekten. Einfachstes Beispiel: die verbesserte Energieeffizienz von Geräten verleitet zu einem verstärkten Einsatz der Geräte oder zu einer Vervielfältigung elektrischer Geräte im Haushalt. Aber es sind auch negative gesellschaftliche Auswirkungen des Klimaschutzes denkbar, die Widerstand hervorrufen. Die bisher genannten Beispiele würden eher eine Zunahme oder zumindest eine Stagnation der Emissionen erwarten lassen. Andere gesellschaftliche Dynamiken können, obwohl sie in keinem direkten Verhältnis zum Klimaschutz stehen, auch zu deutlich niedrigeren Emissionen führen. Generell führt eine schrumpfende Wirtschaftsleistung auch zu weniger CO2-Emissionen. Auch ungeplante soziale und technologische Innovationen, die sich plötzlich ergeben und weltweit ausbreiten, könnten solche Effekte haben. All dies ist nicht im engen Sinne prognostizierbar. Wir können aber an der Weiterentwicklung der Analyseinstrumente in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften arbeiten, um die verschiedenen Plausibilitäten besser einschätzen zu können.
Auf der Grundlage einer möglichst nüchternen Einschätzung lässt sich die Frage besser beantworten, wie man klimaschützende gesellschaftliche Dynamiken stärken kann. Dafür ist wichtig, die Funktion von gesellschaftlichen Konflikten zu erkennen, anstatt sie mit dem Hinweis auf sachliche Notwendigkeiten auszuhebeln (Aykut u. a. 2019). Möglicherweise stellt sich heraus, dass Klimaschutz wirkungslos bleibt, wenn er nicht mit einem Abbau von extremen gesellschaftlichen Ungleichheiten und einer allgemeinen Verbesserung der gesellschaftlichen Institutionen einhergeht. Auch im Hinblick auf die Möglichkeiten der Anpassung an eine deutlich wärmere Welt ist das bedeutsam, denn dann hängt es wesentlich von den Institutionen ab, für wie viele Menschen welches Maß an Lebensqualität ermöglicht werden kann.
Klimaprognosen gemeinsam vorantreiben
Aufgabe der Wissenschaft ist nüchterne Analyse – weder Wunschdenken noch Schwarzmalerei helfen dabei, zu angemessenen Prognosen über die zukünftigen Klimaentwicklungen zu gelangen. Der schwierigste Aspekt liegt darin abzuschätzen, wie plausibel die relevanten gesellschaftlichen Dynamiken sind und wie sie die künftigen Treibhausgasemissionen beeinflussen. Bei aller Schwierigkeit sind solche Abschätzungen essentiell, um nutzbare Informationen für Entscheidungsträger zu liefern (z. B. Hausfather/Peters 2020). Gleichzeitig muss die Forschung zur Klimaphysik daran arbeiten, Unsicherheit dort zu reduzieren, wo es möglich ist – etwa in der Klimasensitivität –, und sie dort möglichst präzise zu charakterisieren, wo sie nicht reduziert werden kann – in der internen Klimavariabilität. Ferner müssen wir fragen, in welcher Gesellschaftsform wir möglicherweise in 50 Jahren den Klimawandel eingrenzen und mit den Folgen des Klimawandels umgehen werden.
P.S. Dieser Text wurde vor Ausbruch der aktuellen Pandemie verfasst. Die Aussagen über soziale Dynamiken und ihre Prognostizierbarkeit bleiben allerdings bestehen. Es ist offen, ob die Gesellschaft nach Beendigung der Pandemie langfristig in eine nicht-fossile Form wechseln wird, oder ob innerhalb kürzester Zeit die bewährten Produktions- und Konsumformen wieder hochgefahren werden, so dass der zu erwartende Rückgang von CO2-Emissionen nur temporär sein wird.
Literatur
Aykut, S. C. u. a. 2019: Energiewende ohne gesellschaftlichen Wandel? Der blinde Fleck in der aktuellen Debatte zur „Sektorkopplung“. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 3, S. 20 – 24.
Christensen, J./Olhoff, A. 2019: Lessons from a decade of emissions gap assessments. United Nations Environment Programme, Nairobi. https://www.unenvironment.org/resources/emissions-gap-report-10-year-summary
Dunlap, R. E./R. J. Brulle (Eds.) 2015: Climate change and society: Sociological perspectives. Oxford.
Engels, A. 2016: Anthropogenic climate change: how to understand the weak links between scientific evidence, public perception, and low-carbon practices. In: Energy and Emission Control Technologies, 4, S. 17 – 26.
Grundmann, R./Rödder, S. 2019: Sociological perspectives on Earth System Modeling. In: Journal of Advances in Modeling Earth Systems, 11, S. 3878 – 3892.
Hausfather, Z./Peters, G. P. 2020: Emissions – the ‘business as usual’ story is misleading. In: Nature, 577, S. 618 – 620.
IPCC 2013: Summary for Policymakers. Climate Change 2013: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, Stocker, T. F. u. a. (Eds.), Cambridge, S. 3 – 29.
Jiménez-de-la-Cuesta, D./Mauritsen, T. 2019: Emergent constraints on Earth’s transient and equilibrium response to doubled CO2 from post-1970s global warming. In: Nature Geoscience, 12, S. 902 – 905.
Marotzke, J. u. a. 2017: Climate research must sharpen its view. In: Nature Climate Change, 7, S. 89 – 91.
Seto, K. C. u. a. 2016: Carbon lock-in: types, causes, and policy implications. In: Annual Review of Environment and Resources, 41, S. 425 – 452.
Shepherd, T. G. 2014: Atmospheric circulation as a source of uncertainty in climate change projections. In: Nature Geoscience, 7, S. 703 – 708.
Suarez-Gutierrez, L. u. a. 2018: Internal variability in European summer temperatures at 1.5 °C and 2 °C of global warming. In: Environmental Research Letters, 13, 064026, doi: 10.1088/1748-9326/aaba58.
Zitation:
Engels, Anita & Marotzke, Jochem (2020). Klimaentwicklung und Klimaprognosen, in: POLITIKUM 2/2020, S. 4-12.