Der Autor

Prof. Dr. Winfried Kluth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, leitet dort die Forschungsstelle Migrationsrecht – FoMig. Er war von 2000 bis 2014 Richter des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt. Seit Januar 2023 ist Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und Migration.

Lässt sich Massenmigration menschenrechtskonform steuern?

Die Gewährung von Schutz für eine große Zahl von Geflüchteten stellt nicht nur für die aufnehmenden Gesellschaften, sondern auch für das Rechtssystem eine große Herausforderung dar. Die in den letzten Jahrzehnten entwickelten anspruchsvollen menschenrechtlichen Schutzstandards werden zunehmend als hinderlich für die Steuerung von Migration empfunden. Wie kann sich das Recht mit einer solchen Kritik produktiv auseinandersetzen, ohne seine Grundlagen in Frage zu stellen? 


Der Abschied vom Friedenstraum der „Wendezeit“

Die Öffnung der Berliner Mauer im Herbst 1989 und der anschließende Öffnungsprozess in Osteuropa erzeugten zunächst eine Welle der Freude und Euphorie. Diese war nicht auf die Bevölkerung und die Politik beschränkt. Der Staatsrechtslehrer Martin Kriele entwickelte in einem Buch, das die Stimmung der Community widerspiegelte, die Vision einer demokratischen Weltrevolution. In Politik, Wissenschaft und Gesellschaft setzte man auf eine Systemtransformation hin zu einer durch Demokratie, Frieden und Freiheit geprägten Weltordnung, auch jenseits von Europa. Die Grenzöffnungen ermöglichten und erleichtern auch die Migration, innerhalb von Deutschland, aber auch aus anderen Ländern nach Deutschland. Dem in seiner Bedeutung zuletzt marginalisierten Bundesvertriebenengesetz wurde neues Leben eingehaucht. Durch die EU-Beitritte wurde in vielen östlichen Nachbarstaaten die Arbeitsmigration nach Deutschland zum unspektakulären Alltag. Schon zwei Jahre nach dem Mauerfall begann jedoch eine weniger erfreuliche zweite Entwicklung. Im Gebiet des zerfallenen Ex-Jugoslawien kam es zu bis heute nicht vollständig befriedeten Konflikten und Bürgerkriegen, die einen in diesem Umfang nach 1949 nicht mehr gekannten Zustrom von Geflüchteten auslösten. Das Asylsystem war dadurch überfordert. Eine breite politische Koalition beschloss eine doppelte Reaktion: Das Asylgrundrecht des Grundgesetzes wurde drastisch eigeschränkt und in Art. 16a GG ausgelagert, so dass Schutzsuchende kaum noch auf dieser Grundlage Asyl in Deutschland beanspruchen konnten. Zugleich wurde die kompetenzrechtliche Grundlage für den Aufbau eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geschaff en, das in den Folgejahren Schritt für Schritt verwirklicht wurde. Dieses sieht bis heute im Ergebnis sehr viel großzügigere Maßstäbe für die Gewährung von Schutz vor als das alte Asylgrundrecht des Grundgesetzes. Diese paradoxe Entwicklung wurde durch Absatz 5 des neuen Art. 16a GG ermöglicht, der eine Öffnungsklausel zugunsten von unions- und völkerrechtlichen Regelungen zum Asylrecht formuliert. Zwar kennt das GEAS auch Instrumente für den Massenzustrom und für Krisenfälle. Eine wirksame Steuerung des Zustroms von Geflüchteten einschließlich einer fairen Verteilung zwischen den Mitgliedstaaten ist mit seinen Instrumenten aber weder intendiert noch umsetzbar. Der Blick zurück offenbart ein zweites Paradox. Die Überwindung der politischen Unterdrückung von Gesellschaften, Völkern und Staaten und die Wiedergewinnung von Freiheit stärkte nicht den Frieden, sondern löste eine Vielzahl von Konflikten und Bürgerkriegen aus. Daran wird die unzureichende Fähigkeit vieler Gesellschaften und Völker zur Etablierung einer inneren und äußeren Friedensordnung deutlich, auch in Europa. Das wurde bedauert und durch intensive politische Aktivitäten wurde nach Lösungen gesucht. Zugleich wurde die damit verbundene Erkenntnis aber auch vielfach verdrängt. Die Zahl der Geflüchteten stabilisierte sich Ende der 1990er Jahre auf einem mittleren Niveau (Rückgang von 128.000 im Jahr 1995 auf 19.164 im Jahr 2007, ab 2013 wieder über 100.000), sodass die Aufnahme der Schutzsuchenden und die Durchführung der Verfahren ohne Schwierigkeiten weitgehend im Routinebetrieb bewältigt werden konnten. Die migrationskritischen Debatten wurden zwar fortgesetzt, fanden angesichts anderer Aufmerksamkeitsschwerpunkte wie der „Vollendung“ der Deutschen Einheit, der Erweiterung der Europäischen Union und der Finanzmarkt- und Bankenkrise jedoch keine große Aufmerksamkeit.

Fluchtsommer 2015

Das änderte sich erneut grundlegend mit dem Bürgerkrieg in Syrien, der ab Mitte 2015 zusammen mit den bestehenden Fluchtbewegungen aus der Region und aus Afrika eine neue große Fluchtbewegung auslöste, die vor allem Deutschland traf, das innerhalb der Europäischen Union die meisten Flüchtlinge aufnahm (2015 441.899 Asylanträge und 2016 772.270 Asylanträge) und weiterhin aufnimmt. Mit der Entwicklung und der damit verbundenen politischen Debatte („Wir schaffen das“ usw.) ist heute jeder vertraut, weshalb es hier genügt, die rechtlichen Implikationen zu betrachten. Zunächst ist bedeutsam, dass durch die Verlagerung der Hauptflüchtlingsroute in den Mittelmeerraum erstmalig die Schwächen der Zuständigkeitsordnung der Dublin-Verordnung sowie die unzureichende „Preparedness“ von Griechenland und Italien thematisiert wurden. Als „Lösung“ setzte sich in der Praxis die Nichtanwendung der Dublin-Regeln mit einem Selbsteintritt von Deutschland in vielen tausend Fällen durch, indem es die Zuständigkeit für einen bei ihm gestellten Asylantrag übernahm. Dies wurde zusammen mit den nicht angeordneten Grenzkontrollen zum Vorwurf eines Verfassungsbruchs durch die Bundesregierung hochstilisiert. Der EuGH hat später indirekt festgestellt, dass es wegen der systemischen Überforderung vor allem von Griechenland auch keine Alternative zum Selbsteintritt gab. Die auf den ersten Blick skandalöse Nichtanwendung des Rechts wurde insoweit ex post latent legitimiert. Mit Hilfe des EU-Türkei-Deals, der auf einem bereits ausgehandelten Migrationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei aufsetzte und nicht, wie oft berichtet, eine rein politische Verständigung war, wurde der Migrationsdruck auf dem Landweg abgemildert. Allerdings verlagerte sich die Flucht über den Seeweg teilweise auf andere Routen und es kam zu Kontroversen über die Seenotrettung. Dabei wurden die Grenzen des Rechts durch den Grenzschutz und Frontex vielfach ausgelotet und überschritten, etwa durch Pushbacks auf dem Mittelmeer in Richtung Libyen. In dieser Phase entwickelte sich eine bis heute andauernde Krise des Flüchtlingsrechts bzw. bestimmter Steuerungselemente, die es genauer zu betrachten gilt, weil sie mit der grundsätzlichen Infragestellung von zentralen Prinzipien wie dem Anspruch auf ein Individualprüfungsverfahren, der weiten Auslegung des Refoulement-Verbots und dem Verbot der Kollektivausweisung verbunden ist, die auch den Rechtsstaat in seiner etablierten Form gefährden kann. 

Menschenrechts-/Rechtsbruch?

Den Ausgangspunkt der Entwicklung bildete der Vorwurf der Nichtanwendung bzw. Nichtbeachtung von geltendem Recht, wobei dies wechselseitig erfolgte. Den durch die Erstaufnahme belasteten Mittelmeerstaaten wurde vorgehalten, dass die Anerkennungsverfahren nicht zügig durchgeführt und die Geflüchteten zur Weiterreise u. a. nach Deutschland animiert wurden. Dieser Vorwurf wurde auch gegenüber den Transitstaaten erhoben. Der Bundesregierung wurde wiederum vorgeworfen, dass sie ihrerseits keine Grenzschließungen zur Abwehr von illegalen Einreisen angeordnet hat. Diese Debattenlage wurde durch die Einführung der Rechtsfigur der systemischen Schwächen durch neue Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2013 und deren Übernahme im gleichen Jahr in die Dublin-III-VO noch komplexer. Eine Überführung in Mitgliedstaaten, die die Anforderungen des GEAS für die Durchführung von Asylverfahren und die Unterbringung nicht erfüllen, ist danach unzulässig. Dies führte dazu, dass die Kritiker der großzügigen Flüchtlingsaufnahme neben der Kritik an den geltenden Vorschriften eine Institutionenkritik vor allem in Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nachschoben. Die nach ihrer Ansicht zu menschenrechtsfreundliche Rechtsprechung beider Gerichte wurde als eine zentrale Ursache für die unzureichenden Möglichkeiten der Zurückweisung vor allem von Geflüchteten aus sicheren Herkunftsländern an den Außengrenzen und damit der Steuerung von Fluchtmigration ausgemacht. Neben einer Korrektur der zu großzügigen Rechtsprechung wird inzwischen sogar eine Änderung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), vor allem eine Abschaffung des Verbots von Kollektivausweisungen, und vereinzelt auch die Kündigung der Genfer Flüchtlingskonvention verlangt, deren Non-Refoulement-Prinzip ebenfalls Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen erschwert. Ausgehend von einer evidenten Rechtsanwendungskrise kam es somit zu einem Streit über die richtige Interpretation von Recht, die schließlich nach „unerwünschten“ Interpretationsergebnissen durch die zuständigen Gerichte in eine Institutionenkritik mündete. Ebenso wurden Forderungen laut nach einer Reduktion menschenrechtlicher Gewährleistungen durch die Änderung oder Kündigung von Menschenrechtspakten. Man kann deshalb von einer ins Grundsätzliche hineinreichenden Rechtskritik sprechen, die auch von Vertretern dezidiert demokratisch-rechtsstaatlicher Grundüberzeugungen vorgetragen wird.

EMRK
Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention wurden erstmals in Europa ein völkerrechtlich verbindlicher Grundrechteschutz geschaffen, der von jederman einklagbar ist. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist damit das wichtigste Menschenrechtsübereinkommen in Europa.

Non-Refoulement-Prinzip
Das Prinzip verbietet die Ausweisung, Auslieferung oder Rückschiebung von Personen, wenn die Annahme besteht, dass ihnen im Zielland Folter, unmenschliche Behandlung bzw. schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Es handelt sich um einen völkerrechtlichen Grundsatz, der u. a. Bestandteil der Genfer Flüchtlingskonvention ist.

Ein Blick auf die Details

Um besser zu verstehen, worum es im Einzelnen geht, ist ein Blick auf die im Zentrum der Kritik stehenden Gerichtsurteile sowie die dabei relevanten Normen erforderlich, da so die sachliche Trageweite der rechtlichen Problematik besser sichtbar wird. Ausgangspunkt ist die Rechtsprechung sowohl des EuGH als auch des EGMR zur territorialen Reichweite der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die nicht auf das Staatsgebiet beschränkt ist, sondern auch Maßnahmen der Zurückweisung auf Hoher See einschließt. Damit waren und sind erhebliche Restriktionen u. a. hinsichtlich der sog. Pushbacks im Mittelmeer verbunden. Es muss u. a. sichergestellt werden, dass durch die Maßnahmen keine schweren Menschenrechtsverletzungen direkt oder indirekt in den oder durch die Zielstaaten verursacht werden. Das ist für Zurückweisungen in Richtung Libyen und andere nordafrikanische Staaten und die Auseinandersetzung mit Schleusern von erheblicher Bedeutung. Der zweite Themenbereich betrifft die Zurückweisung an den Landgrenzen und das Verbot der Kollektivzurückweisung. Nach dem Schengener Grenzkodex ist eine Einreise zu ermöglichen, wenn an der Grenze um internationalen Schutz nachgesucht wird. Es besteht dann ein Anspruch auf eine Individualprüfung eines möglichen Schutzanspruchs. Dieser Anspruch wird im Wege der Auslegung auch aus dem Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 33 GFK) abgeleitet. Er ist zusätzlich durch das Verbot der Kollektivausweisung im Zusatzprotokoll zur EMRK sowie in Art. 19 Absatz 1 der EU-Grundrechte-Charta gewährleistet. Drittens wird die Rechtsprechung des EuGH zu den Dublin-Fristen kritisiert, die auch die Interessen der Geflüchteten schützen sollen mit dem Ergebnis, dass nach Ablauf dieser Fristen auch Überführungen nicht mehr möglich sind und es zum „lock in“, also der Zuständigkeit des aktuellen Aufenthaltsstaates kommt, auch wenn dieser eigentlich nicht für das Verfahren zuständig ist. Da wegen der hohen Belastung der Behörden die Fristen oft nicht eingehalten werden, hat auch diese Rechtsprechung vor allem für Deutschland eine große praktische Bedeutung. Schließlich hat der EuGH festgestellt, dass die Höchstdauer für Kontrollen an den Binnengrenzen strikt einzuhalten ist und bei neuen Gefahrenlagen ein neuer Antrag auf die Einführung von Grenzkontrollen nach dem Schengener Grenzkodex zu stellen ist. Danach sind die meisten Grenzkontrollen rechtswidrig. Allerdings hat die EU-Kommission bislang nicht den Versuch unternommen, diese Rechtsprechung durchzusetzen, und die Grenzkontrollen weitgehend geduldet. Übergeordnetes Ziel der meisten Kritikpunkte an der Rechtsprechung ist es, jedenfalls bei Personen aus sicheren Drittstaaten einfache Zurückweisungen ohne Individualprüfungsverfahren an den Außengrenzen zuzulassen und so eine deutliche Reduktion der Grenzübertritte zu erreichen.

Menschenrechte und Steuerung von Massenmigration: ein Spannungsverhältnis

Man kann die skizzierte Kritik auf die Kernaussage zurückführen, dass Menschenrechte, jedenfalls das menschenrechtliche Verbot einer Zurückweisung ohne Einzelfallprüfung, eine wirksame Steuerung von Massenmigration, verstanden als Beschränkung von Migration, unmöglich machen. Daraus wird abgeleitet, dass entweder die Interpretation des Zurückweisungsverbots der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. des Verbots von Kollektivausweisungen dahingehend verändert werden muss, dass eine Einreiseverweigerung damit vereinbar ist, oder – weitergehend – die entsprechenden Rechtsakte aufgehoben oder geändert werden müssen. Während die erste Forderung schon deshalb schwer durchsetzbar ist, weil in die Unabhängigkeit der Gerichte eingegriffen werden müsste, die für die Auslegung der maßgeblichen Normen zuständig sind, begegnet die zweite Forderung vor allem hohen politischen Hürden, da eine Änderung des Primärrechts der Europäischen Union notwendig wäre. Angesichts der aktuellen politischen Dynamik im Bereich der Migrationspolitik in den Mitgliedstaaten ist es aber auch nicht völlig ausgeschlossen, dass es im Rahmen von politischen „Kompromissen“ früher oder später auch zu einem solchen Ergebnis kommen kann. Aktuell und auf absehbare Zeit stehen solchen Forderungen aber klare rechtliche Vorgaben entgegen, und zwar auf der Ebene des Völker- und Unionsrechts. Das bedeutet zugleich, dass die Versuchungen sehr groß bleiben werden, den Umgang mit diesen Vorgaben großzügig zu gestalten. Das betrifft vor allem den Bereich der Grenzkontrollen und der Maßnahmen der Grenzsicherung, um Grenzübertritte außerhalb der offiziellen Grenzkontrollstellen zu verhindern. Auch die an den EU-Außengrenzen im Rahmen der GEAS-Reform geplanten beschleunigten Verfahren für Personen mit einer geringen Bleibeperspektive aus sicheren Herkunfts- und Drittstaaten sind eine Reaktion im Rahmen des geltenden Menschenrechtsregimes, mit der jedenfalls die Verweildauer verkürzt und eine Rückführung beschleunigt werden soll.

Warum ist das derzeitige Steuerungsmodell überfordert?

Betrachtet man die Thematik grundlegender, so ist auch der Frage nachzugehen, warum das derzeitige Steuerungsmodell nur unzureichend funktioniert. Die Antwort darauf ist natürlich vielschichtig, dürfte aber vor allem in der inzwischen permanent hohen Zahl der Schutzsuchenden zu sehen sein. Wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt, konnten zeitlich befristete große Zahlen von Geflüchteten durch die Mitgliedstaaten aufgenommen werden, wenn der Zeitraum und damit auch die Gesamtzahl begrenzt waren. Deshalb war man auch nach dem Rückgang der Antragszahlen im Jahr 2017 von einer Normalisierung der Lage ausgegangen, was sich jedoch als Irrtum erwiesen hat. Sowohl der russische Angriffskrieg auf die Ukraine als auch der anhaltende Zustrom aus dem Nahen Osten und Afrika sowie aus Südosteuropa führen zu der Annahme, dass in den nächsten Jahren dauerhaft mit einer hohen Zahl von Schutzsuchenden zu rechnen ist, die oberhalb der vorhanden und realistischerweise zu schaffenden Aufnahmekapazitäten liegt. Dabei darf nicht alleine auf die Finanzierbarkeit abgestellt werden. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die personellen und infrastrukturellen Ressourcen (z. B. fehlende Schulplätze aufgrund des bundesweiten Lehrer*innenmangels) für die angemessene Aufnahme von Geflüchteten bereits heute vielerorts erschöpft sind. Das ist im Übrigen auch keine Überraschung, denn das geltende Recht weiß um die Problematik und die Begrenzung der verfügbaren Ressourcen. Bereits die Genfer Flüchtlingskonvention weist auf diesen Aspekt in ihrem Vorspruch hin und appelliert an die Solidarität der Staatengemeinschaft. Das Unionsrecht hat dies in Art. 80 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) mit seinem Bekenntnis zur Solidarität im Asylbereich aufgenommen.
Diese Einsicht hat aber – mit Ausnahme von einigen freiwilligen Maßnahmen im Bereich des Resettle­ments – als Rechtsfolge bislang den Status eines Appells nicht überschritten. Der im Juni modifizierte Vorschlag für eine Asyl- und Migrationsmanagementverordnung sieht nun erstmals einen differenzierten Solidaritätsmechanismus vor, der aber noch endgültig beraten und beschlossen werden muss. Auch dieser Mechanismus hat aber den Nachteil, dass er das Entstehen von Überlastung nicht verhindert, sondern nur für nachträglichen Ausgleich sorgen will. Deshalb muss weiterhin nach einem Steuerungsmodell gesucht werden, das eine solche Überlastung von vorneherein verhindert oder dazu jedenfalls besser beiträgt.

Dublin-Verordnung
Die Dublin-III-Verordnung aus dem Jahr 2013 regelt die unionsinterne Zuständigkeit für die Umsetzung des Anspruchs auf die Durchführung eines Anerkennungsverfahrens, nachdem ein Antrag auf internationalen Schutz auf dem Teritorium eines Mitgliedstaats der Europäischen Union gestellt wurde. Dadurch wird das von der Genfer Flüchtlingskonvention erzeugte Problem des Refugee in orbit, das durch die fehlende Bestimmung der Zuständigkeit eines konkreten Staates für die Schutzgewährung ausgelöst wird, gelöst. Zuständig ist grundsätzlich der Mitgliedstaat, in dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, und damit der Staat, dessen Gebiet zuerst betreten wurde. Davon abweichend sind andere Staaten zuständig, wenn sich dort bereits Mitglieder der Familie aufhalten (Grundsatz der Familieneinheit). Verlässt der Geflüchtete den zuständigen Mitgliedstaat und sucht einen anderen Mitgliedstaat auf, so darf dieser die Einreise nicht verweigern, sondern muss ein komplexes Verfahren der Überführung betreiben, das in vielen Fällen nicht funktioniert, weil die eigentlich zuständigen Mitgliedstaaten nicht mitwirken. In diesen Fällen wird der Mitgliedstaat des tatsächlichen Aufenthalts zuständig. Das ist einer der Hauptkritikpunkte an der Verordnung. Die Hauptankunftsstaaten machen allerdings geltend, dass ihre hauptsächliche Zuständigkeit gegen den Grundsatz der Solidarität verstößt, und rechtfertigen damit ihre mangelnde Mitwirkungsbereitschaft.

EU-Asylsystem
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem, das ab Mitte der 1990er Jahre entwickelt wurde, bietet weltweit einen der höchsten Schutzstandards. Es geht über den Anwendungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention, die den Nachweis einer individuellen Verfolgung (auch als Teil einer sozialen Gruppe) voraussetzt, hinaus und gewährt subsidiären Schutz auch bei sonstigen schweren Menschenrechtsverletzungen und Bürgerkriegsgefahren. Zudem werden ein Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren bei Betreten des Territoriums eines Mitgliedstaats nach hohen Standards, eine angemessene Unterbringung und Versorgung sowie ein angemessener Rechtsschutz garantiert. Auch das Rückführungsverfahren wird auf der Grundlage der Wahrung von hohen Standards normiert (Rückführungsrichtlinie).

Bewahrung von Recht durch seine Weiterentwicklung

Eine solche Weiterentwicklung des Rechts ist Aufgabe der Politik und anschließender Gesetzgebung. Durch den jahrelangen Stillstand der GEAS-Reform ist das geltende Recht nicht nur zunehmend unter Druck geraten, weil es den Anforderungen der veränderten Realität nicht mehr genügt. Es hat sich auch eine davon abweichende Rechtspraxis entwickelt, für die es sogar gute Gründe aus dem Blickwinkel übergeordneter rechtlicher Wertungen gibt. Die Aufnahme des systemischen Versagens in die Dublin-III-VO ist ein Beispiel für eine nachträgliche Legitimation einer Selbstkorrektur eines unzureichenden Rechts durch die Praxis. Will man den anspruchsvollen humanitären Schutzanspruch des europäischen Rechtssystems auf Dauer erhalten und sicherstellen, so erweist sich eine schnelle und wirksame Weiterentwicklung sowohl des Solidaritätsmechanismus als darüber hinaus auch eines Mechanismus zur Begrenzung der Aufnahmezahlen pro Jahr und damit einer Kontigentierung als zweites wichtiges Ziel. Nur so wird es auf Dauer möglich sein, umfangreiche Aufnahmen zu ermöglichen, ohne eine grundlegende Ablehnung des Schutzsystems durch die Politik zu provozieren, wie sie bereits heute in einigen Mitgliedstaaten propagiert wird. Das Recht muss sich also ändern bzw. weiterentwickeln, um sich selbst zu erhalten. Die deutsche Rechtswissenschaft leistet dazu bislang keinen allzu großen Beitrag. Das ist weniger eine Folge von Desinteresse oder mangelnder Qualität. Vielmehr zeigt sich daran die zu geringe Ausrichtung des Fachs an kreativen steuerungswissenschaftlichen Konzepten. Die Fähigkeit zur dogmatischen Ausdifferenzierung und hermeneutischen Feinsinnigkeit muss aber auch durch die Förderung von steuerungswissenschaftlicher Kreativität ergänzt werden, damit auch die Rechtswissenschaft einen stärkeren Beitrag zur Erhaltung eines für gut befundenen Rechts leisten kann.


Literatur

Berlit, Uwe Dietmar 2017: Flüchtlingsrecht in Zeiten der Krise. Baden-Baden.

Depenheuer, Otto/Grabenwarter, Christoph 2016: Der Staat in der Flüchtlingskrise. Paderborn. 

Kluth, Winfried 2018: Migration und ihre Folgen: Wie kann das Recht Zuwanderung und Integration in Gesellschaft, Arbeitsmarkt und Sozialordnung steuern. Gutachten D zum 72. Deutschen Juristentag. München. 

Thym, Daniel 2022: Reforming the Common European Asylum System. Baden-Baden.
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