Im Interview

Dr. Yvonne Ott ist seit November 2016 Richterin des Ersten Senats am Bundesverfassungsgericht und dort für Mietrechtsangelegenheiten, Polizei- und Datenschutzrecht der Länder sowie für strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen zuständig. Zuvor war sie Mitglied des Zweiten Strafsenats des Bundes­gerichtshofs.

Das Interview für POLITIKUM führte Sabine Achour.

Rechtsruck, Vertrauensverluste, KI, Klimakrise: Was bringt uns Recht in aktuellen Zeiten?

Warum ist es wichtig, dass die Menschen in Deutschland Recht und Rechtsstaat in ihren Grundzügen verstehen und Vertrauen darin haben? Wie fit ist das Grundgesetz gegen rechte Angriffe und wo liegen (supranationale) Baustellen, aber auch Stärken des deutschen Rechtsstaats? 

POLITIKUM: Sie sind Richterin des Bundesverfassungsgerichts und Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Forum Recht. Die Stiftung verfolgt das Ziel, die Themen Recht und Rechtsstaat für die Menschen in Deutschland greifbarer zu machen. Warum ist das wichtig?

Yvonne Ott: Recht bestimmt unser Leben und Handeln – und das ganz alltäglich. Rechtliche Grundsätze wie die Rechtsstaatlichkeit prägen uns als Gesellschaft. Dies erkennbar und erlebbar zu machen, in ganz unterschiedlichen medialen Formen, insbesondere digital, hat sich das Forum Recht zur Aufgabe gemacht. Es ist in der heutigen Zeit, in der Rechtsstaatlichkeit auf so vielen Ebenen in Frage gestellt wird, wichtiger denn je. Wer zum Beispiel mehr über die Geschichte von Rechtsstaatlichkeit erfährt, wird diese nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen (vgl. den Beitrag von Schwabe zum DDR-Unrecht) und kann so den heutigen wie auch künftigen Herausforderungen bei der Bewahrung und Entwicklung des Rechtsstaats besser begegnen. Dabei müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern sowohl die Grenzen als auch die Spannungsfelder von Rechtsstaatlichkeit verdeutlichen. Entscheidend ist es, begreifbar zu machen, dass Recht im demokratischen Prozess für jede Bürgerin und jeden Bürger beeinflussbar ist und mitgestaltet werden kann.

POLITIKUM: Gesamtgesellschaftlich lassen sich Vertrauensverluste in Politik, Politiker*innen und auch Demokratie empirisch in der Einstellungs- und Wahlforschung beobachten. Die politische Bildung geht davon aus, dass die Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auch von den Teilhabe-, Mitbestimmungs- und Handlungsmöglichkeiten für die Bürger*innen abhängt. Wieviel Mitgestaltung ermöglicht der Rechtsstaat in Deutschland und wie können Menschen die rechtlichen Bedingungen beeinflussen, in denen sie leben? Was funktioniert aus Ihrer Perspektive gut und wo sehen Sie Luft nach oben?

Yvonne Ott: Mitgestaltung beruht auf der Prämisse der Beeinflussbarkeit politischer Entscheidungen. Diese wird von unserem Grundgesetz geschützt, das in Art. 20 Abs. 2 GG allen wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern das allgemeine Wahlrecht garantiert. Das Grundgesetz sieht ein System repräsentativer Demokratie vor, in dem der Akt der Wahl das zentrale Instrument zur Bindung der Rechtsetzenden an die Wahlberechtigten darstellt. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG überträgt dieses Prinzip auch auf die Ebene der Länder und Kommunen. Die Möglichkeiten der Mitgestaltung erschöpfen sich aber bei weitem nicht im Wahlrecht. Dieses ist ja ohnehin auf die Wahlberechtigten beschränkt, was zum…

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