Der Autor

Prof. Dr. Gunther Hirschfelder lehrt Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg.

Tier – Fleisch – Politik

Strukturen eines komplizierten Verhältnisses

Ob Tiere als Lebensmittel verwendet werden dürfen, ist heute höchst umstritten. Ein wachsender Teil der Bevölkerung entscheidet sich für eine vegetarische oder vegane Ernährungsweise. Historisch betrachtet war Fleisch die Basis der vorindustriellen Ernährung und zentral für die Entwicklung des Menschen.

Tier und Fleisch stehen seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts im Zentrum eines komplizierten Kräftefeldes, und wenig deutet darauf hin, dass sich daran rasch etwas ändern wird. Die Positionen sind extrem. Während die Stimmen aus Umwelt- und Tierschutz vehement freiwillige Beschränkungen beim Fleischkonsum fordern, macht sich anderorts eine entgegengesetzte Sorge breit, dass Fleisch nämlich teurer wird. So schlug das Nachrichtenportal FOCUS online am 4. Januar 2024 Alarm: „Döner-Schock droht: Weniger Fleisch, bis zu 10 Euro“. Neben den gestiegenen Einkaufspreisen wirke sich vor allem die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes für Gastronomieprodukte von 7 auf 19 Prozent negativ aus. Von Umwelt oder Gesundheit ist in dem paradigmatischen Bericht keine Rede. Vielmehr wird eine ganz andere Logik ins Feld geführt: „Die Döner-Mahlzeit vom Imbiss ist in Deutschland sehr beliebt. Denn die Preise lagen in der Vergangenheit konstant bei gut fünf Euro. Den Schüler-Döner gab es wiederum für unter vier Euro. Im Gegenzug erhielten die Kunden eine sättigende und erschwingliche Mahlzeit. Von diesen Preisen sind die Betriebe heute weit entfernt“ (FOCUS online 2024). Die Bewertung des Fleisches ist also zumindest von der Verbraucherseite her ambivalent. Doch während eine schweigende Mehrheit gerne und viel möglichst billiges Fleisch kauft, sich dazu aber nur ungern öffentlich äußert, ist in öffentlichen Ernährungsdiskursen wie auch den Leitlinien europäischer Politik eine deutliche Tendenz zur kritischen Sichtweise zu beobachten, denn Fleisch ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Metapher für Wohlstand, Gesundheit und Fortschritt zum Synonym für Krise geworden. 

 Symbolik und kulturelle Wertigkeiten

Zwar sind Tier und Fleisch zunächst dinglich, aber ihnen wohnen zugleich tradierte Wertigkeiten und Symboliken inne. Wie in allen Kulturen essen auch die Menschen in Europa ihr ganzes Leben über. Die Ernährung wird daher auch als soziales Totalphänomen bezeichnet. Dabei sind mit dem Essen ganz unterschiedliche kulturelle und gesellschaftliche Wertigkeiten verbunden. Wie wir essen, ist in ein kulturelles Bedeutungsgewebe eingebunden und immer auch Ergebnis eines tradierten historischen Prozesses. Die Lebensmittel haben nicht allein die Funktion zu sättigen, sondern sie sind auch Symbol: für Weltanschauungen und eben für die Positionierung des Selbst. Wir decken den Tisch als Bühne, auf der wir zeigen, wer wir sind oder wer wir sein wollen. Vor allem in der Vergangenheit galt das für das proteinreiche, energiedichte und damit exponierte Fleisch ganz besonderes. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte erlernten wir Menschen die Jagd, später domestizierten und züchteten wir Tiere, veränderten sie also, um sie besser nutzen – oder wie viele heute sagen: ausbeuten zu können. Viehhaltung diente stets der Milch- und Fleischgewinnung; auch Fell, Leder und Knochen waren und sind wertvolle tierische Produkte. Die Tierproduktion spiegelt landwirtschaftliches Wissen der jeweiligen Epoche, technologische Innovationen und gesellschaftliche Diskurse wider. Ob Großställe und Käfighaltung als Fortschritt begrüßt oder als Tierquälerei verboten werden, ist also abhängig von der Bewertung der Konsument*innen wie auch der Politik, die auf der historischen Schiene Effizienz und Tierwohl unterschiedlich priorisiert hat. 

Fleisch hat in allen Kulturen enorme gesellschaftliche Bedeutung, denn es war meist unverzichtbare Proteinquelle und hatte daher große soziale und religiöse Symbolkraft. Deswegen hatte sein Konsum Prestige- und Statusfunktionen. Stets galt es als Kraftquelle und war daher meist männlich konnotiert. Um zu verstehen, welche Bedeutung Fleisch in unserer Gesellschaft hat und wie künftige Politiken ausgestaltet sein müssen, um die erforderlichen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen und gleichwohl mehrheitsfähig zu sein, soll zunächst ein kursorischer Blick in die Geschichte geworfen werden.

Zivilisationsgeschichte als Fleischgeschichte

Heute wird oft diskutiert, ob Fleisch überhaupt zur menschlichen Ernährung gehört. Die historische Betrachtung beantwortet diese Frage klar. Der Zugang zu amino- und fettsäurehaltigen Nahrungsmitteln war gerade für die Entwicklung der frühen Hominiden hochrelevant. Ihre Ernährung war zwar überwiegend pflanzlich, aber sie bevorzugten das Fleisch aller jag- und fangbaren Tiere – inklusive Reptilien und Insekten sowie Fisch, Schalenweich- und Krustentieren. Erst im Laufe der Zeit erschlossen sich unsere Vorfahren weitere Proteinquellen; was dazu beitrug, dass ihr Hirnvolumen von etwa 500 auf 1.300 cm3 wuchs. Vor etwa 50.000 Jahren erreichten der Homo sapiens neanderthalensis und der zeitgleich auftretende moderne Mensch Homo sapiens sapiens im Mesolithikum das heutige Niveau. Jetzt hatte man gelernt, nicht nur Kleintiere zu sammeln, sondern konnte auch große Säuger erlegen; Höhlenbär, Wollnashorn und vor allem Mammut standen auf dem Speiseplan ganz oben und konnten jetzt auch mit Hilfe künstlich erzeugten Feuers gegart werden. Erst jetzt war das Überleben der Gattung Mensch stabiler. Gesichert aber war es erst mit einer weiteren revolutionären Änderung; als die letzte Eiszeit sich ihrem Ende zuneigte und die Kälte wich, entwickelten sich im Zuge der Neolithischen Revolution vor gut 12.000 Jahren in Vorderasien und mit zeitlichem Abstand auch in Europa Ackerbau und Sesshaftwerdung. Zudem begann man, Wildtiere zu domestizieren. Das machte die Nahrungsaufnahme deutlich stabiler. Tiere rückten in den Nahbereich des Menschen. Ziege, Schaf, Rind, Schwein und Geflügel wurden vor Raubtieren geschützt, ihr Dung war entscheidend für das Gelingen des frühen Ackerbaus, Leder und Wolle bzw. Fell brachten einen deutlichen Gewinn an Lebensqualität – ein Verhältnis zum beiderseitigen Nutzen. 

Nutztiere wurden in den neolithischen Kulturen und gerade auch in den frühen Hochkulturen der Sumerer, der Assyrer und im klassischen Ägypten zur wichtigen Kriegsbeute und zu Statussymbolen. Zudem waren sie in den Kosmos der Gottheiten integriert. Vor allem nachdem das Pferd um 3.500 v. Chr. in den Steppen Asiens domestiziert worden war, entstand ein Kräftedreieck zwischen Tier, Versorgung und Machtpolitik bzw. Krieg – denn gerade das Pferd war ein Mehrnutzungstier, das Milch, Fleisch, Leder und Dung lieferte, zugleich aber auch Kriegsgerät war. Die Nutzbarmachung des Tiers und die politische Inwertsetzung von Fleisch erreichte im Römischen Reich seit dem Ende des ersten vorchristlichen Jahrtausends eine neue Dimension. Diese Ökonomisierung betraf das gesamte Herrschaftsgebiet und wurde für den europäischen, den nordafrikanischen und den vorderasiatischen Raum prägend. Bezeichnend für die gesamte Vormoderne ist, dass es selbst im straff organisierten Römerreich kaum durchgängig eine ausreichende Kalorienversorgung für die Mehrheitsbevölkerung gab. Im Mittelmeerraum gab es immerhin einen Fleischdurchschnittskonsum von circa 20 kg Fleisch pro Kopf und Jahr; dies war nur möglich, weil das Tier endgültig zum Nutztier geworden war. In Nord- und Mitteleuropa sah die Situation anders aus. Wegen einer günstigeren Boden-Mensch-Relation gab es für die keltische und germanische Bevölkerung viel Fleisch.

Fleisch – Basis und Achillesferse vormoderner Ernährung

Hatte es im römischen Reich strategische Landwirtschaft und Fleischpolitik gegeben, fiel das Mittelalter in Anarchie zurück. Die Völkerwanderung läutete um 400 n. Chr. das Ende der Antike ein. Nördlich der Alpen verfielen staatliche Strukturen, und im Klimapessimum des nasskalten Frühmittelalters gab es in guten Jahren zumindest für einen Teil der Bevölkerung Fleisch im Überfluss, möglicherweise bis zu 100 kg pro Kopf und Jahr. Viel zu essen galt insbesondere beim Adel als Zeichen von hohem gesellschaftlichen Rang. Die Mahlzeiten waren gekennzeichnet von enormen Mengen – vor allem an einfach zubereite­tem Fleisch. Was die Qualität der Produkte betraf, so gab es im frühen Mittelalter kaum soziale Unterschiede. Das Fehlen einer geregelten Vorratswirtschaft und die Abwesenheit von gestaltender Politik in Fragen der Landwirtschaft ließen Lebensstandard und -erwartung stark sinken. Das änderte sich nach einem langen halben Jahrtausend, denn im 10. Jahrhundert erfuhren Wirtschaft und Fleischkonsum tiefgreifenden Wandel. Das hochmittelalterliche Klimaoptimum ermöglichte eine Expansion der Getreidewirtschaft. Damit war eine entscheidende Grundlage für die Städtegründungen geschaffen, die seit dem 11. Jahrhundert wellenartig einsetzten. Zwar kümmerten sich die Territorien kaum um das Thema Tierhaltung – lediglich im Bereich der Abgaben traten die Staaten auf den Plan –, aber auf dem Gebiet der lokalen Verwaltungen geschah Revolutionäres. Der Umgang mit dem Tier wurde geregelt und professionalisiert. 

Zahlreiche Handwerksberufe, die sich mit der Verwertung von Tieren befassten, entstanden. Orte und Zeiten des Schlachtens wurden genau festgelegt, Ordnungen regelten das Wirken von Schlachtern und Metzgern, legten die Art der Wurstzubereitungen fest und regelten die Ausbildung. Vor allem die städtische Fleischbeschau führte zu einem Rückgang des Parasitenbefalls beim Menschen, Hygiene trat auf den Plan. Unter den Nutztieren erlangte das Hausschwein eine Spitzenposition. Mit Abstand folgten Hausrind, Schaf und Ziege, während Wild nur beim Adel eine Rolle spielte, der das Jagdprivileg hatte. In ordnungspolitischer Hinsicht war inzwischen ein anderer Spieler auf den Plan getreten: die katholische Kirche. Vielerorts hatte sie Anspruch auf Sachleistungen, die von der Bevölkerung zu entrichten waren. Vor allem aber regelten kirchliche Ordnungen die Zeiten, in denen Fleisch gegessen wurde oder auch nicht. Die verbindlichen Fastenzeiten vor Weihnachten und Ostern zählten zu den gravierendsten Einschnitten in die Autonomie der Nahrungsfreiheit. Um die Wende zum 16. Jahrhundert markierten die Entdeckung Amerikas 1492 und die Reformation 1517 einen tiefen Einschnitt in alle Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft. Die Neuzeit begann. Die Strukturen des Fleischverzehrs änderten sich kaum, aber die Mengen schwankten erheblich. Zwischen 1500 und 1800 ging der Fleischverbrauch von knapp 100 auf rund 16 kg pro Kopf und Jahr zurück. Es kam zu einem weit verbreiteten Proteinmangel. Die faktisch konsumierten Mengen waren nun vor allem von sozialen Zugehörigkeiten (z. B. Stand) sowie räumlicher (z. B. Stadt/Land) und zeitlicher Verortung (z. B. Konjunkturen) abhängig. 

Zwei politische Faktoren wirkten besonders stark auf den Fleischkonsum. Zum einem warf der Dreißigjährige Krieg Deutschland auf den Stand eines Entwicklungslands zurück; Politik hatte zu Hunger und Erosion gewachsener Strukturen geführt. Zudem führte die politisch durchgesetzte Zementierung einer hierarchischen Ständegesellschaft zur gesellschaftlichen Erstarrung, schnürte Dynamiken in den Bereichen Agrarentwicklung und Dynamisierung der Fleischkultur ab.

Tier und Fleisch im Industriezeitalter 

Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts machte Fleisch zum Alltagsgut breiter Massen – allerdings erst langfristig und mit steigendem Wohlstand. Die Frühphase bis 1850 markierten noch Mangel und periodischer Hunger. Bald stieg der Verbrauch aber und erreichte um 1900 circa 50 kg pro Kopf und Jahr. Die Auflösung des Zunftzwangs und die Gewerbefreiheit hatten neue Dynamiken in Gang gesetzt. Steigender Fleischkonsum galt nun in weiten Kreisen von Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft als Zeichen von Wohlstand und Gesundheit und wurde daher massiv gefördert. Schweinefleisch wurde Marktführer. Rind, Geflügel und Wild blieben teuer und landeten eher auf den Tischen der Ober- und Mittelschichten. Die bürgerlichen Kochbücher des 19. Jahrhunderts zeigen, wie stark die Ernährung auf Fleisch ausgelegt war. Außer freitags, wenn in katholisch geprägten Gebieten Fisch gegessen wurde, war für jeden Tag Fleisch vorgesehen. Speck, Schinken und Würste aus Schweinefleisch bildeten die Basis. Vor allem als Festtagsspeise waren Rind- und Kalbfleisch beliebt, zunehmend auch Huhn. 

Die Kochbücher zeigen, dass Menschen, die ihre eigene Nahrung vorher selbst angebaut hatten, jetzt vieles zukaufen mussten und sich von der Lebensmittelerzeugung entfremdeten. Fleisch wurde vermehrt als ein vom Tier losgelöstes Produkt wahrgenommen. Im 20. Jahrhundert rückte die Fleischproduktion stärker in den Fokus der Politik. Während der Tierschutz noch lange nicht auf der politischen Agenda stand, ging es um die Versorgung der breiten Bevölkerung mit möglichst preiswertem Fleisch. Die Weltkriege, aber auch die Inflation und die Wirtschaftskrise der Weimarer Zeit sowie das NS-Regime verkomplizierten das Verhältnis zwischen Politik, Tier und Fleisch massiv. Die Krisen führten zu Mangelernährung, Verteilung rückte in den Vordergrund, und das Wohl des Tiers blieb auf der Strecke. Gleichzeitig suchte man im Nationalsozialismus Tierzucht auf eine zunehmend wissenschaftliche Basis zu stellen und zu optimieren, während sich die vom Regime Verfolgten, vor allem Menschen jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens, gezielt mit Nahrungs- und Fleischentzug konfrontiert sahen. Die Bevölkerungen der überfallenen Länder Osteuropas wurden ebenso wie Kriegsgefangene zu Millionen dem Hungertod preisgegeben, die Nutztiere der unterworfenen Gebiete wurden getötet oder exklusiv Deutschen zugänglich gemacht – die wahrscheinlich folgenschwerste Fleischpolitik der Geschichte. Die Wirtschaftswunderzeit der beginnenden zweiten Jahrhunderthälfte war dann wieder durch deutliche und bald extreme Konsumsteigerungen gekennzeichnet. Von anfangs ca. 35 kg pro Kopf/Jahr konnte der Verzehr in den 1960er Jahren auf über 60 kg fast verdoppelt werden und hielt sich lange auf einem hohen Konsumplateau. Dieses Muster traf auch auf die DDR zu, in der die staatliche Planung die hohe Wertigkeit des Fleischs erkannte und eine mit der BRD vergleichbare Versorgung sicherstellte.

Fleisch – vom Wohlstandssymbol zum Problemfall

Fleischpolitik ist heute weniger Versorgungs- denn Rechtfertigungs- und Vermeidungspolitik. Die Fleischproduktion steht nämlich weniger für Ernährungssicherheit denn für Tierqual, Profitorientierung und Intransparenz. Die Bereitstellung von Fleisch entlang primär ökonomischer Gesichtspunkte löst Unbehagen und Misstrauen aus. An der Wende zum 21. Jahrhundert verstärken periodisch auftretende Lebensmittelskandale Skepsis und Vorbehalte: Kälber-„Hormonfleisch“ (1980er), die sogenannte BSE-Krise (1990er), durch Industriefette und Unkrautvernichter mit Dioxin bzw. Nitrofen belastetes Futtermittel (2000er), mit antibiotikaresistenten Keimen, Salmonellen und Listerien verunreinigte Geflügel-, Fleisch- und Wurstprodukte (2010er) – und immer wieder Schlagzeilen zu sogenanntem „Ekel-“ oder „Gammelfleisch“ oder zu Tierqual. Tierhaltung und Fleischproduktion gestalten sich grenzüberschreitend und komplex, erfordern auf vielfältigen Ebenen Spezialwissen und entziehen sich zudem weitgehend der persönlichen Erfahrung von Bevölkerungsmehrheiten. Verbraucher betreten kaum einmal einen modernen Schweinestall – und wollen es in der Regel auch nicht. Sie leben einerseits mit idealisierten Vorstellungen, die sich aus Bauernhofromantik und Werbebildern speisen, welche aber andererseits auch durch medial vermittelte Skandale und mediale Skandalisierung konterkariert werden. Wunsch und (vermittelte) Wirklichkeit lassen sich vermeintlich immer seltener in Einklang bringen. Die Landwirtschaft ist zum Feindbild mutiert, nicht zuletzt, weil die Branche über Jahrzehnte eher defensiv agierte, intransparent und kommunikationsverschleiernd erschien. Von Tierhaltung wird heute gefordert, was diese kaum leisten kann; die Forderung, zu einer idyllischen Vormoderne zurückzukehren, ist ahistorisch, denn die Haltungsbedingungen waren nach heutigen Maßstäben in der Vergangenheit meist schlechter als gegenwärtig, zumal ökonomisch möglichst effiziente Verwertung von Tier und Fleisch der Normalfall war, die Fleischqualität häufig bedenklich und er­näh­rungs­bedingte Erkrankungen und Todesfälle auf der Tagesordnung standen. Inzwischen sind nicht nur Tierhaltung und Fleischproduktion in der Kritik, sondern auch Konsum und Essgewohnheiten. Zwar diskutierten bereits antike Diätetik oder die Lebensreformbewegung der Kaiserzeit einen sensiblen Umgang mit Ernährung und Tier, aber erst auf dem Höhepunkt des Fleischkonsums in den westlichen Ländern wurde im Angesicht sich zuspitzender Umweltproblematik massiv Kritik laut. 

Mit breitenwirksamen Publikationen wie Silent Spring (1962) und den Limits to Growth (1972) oder der Fernsehserie Ein Platz für Tiere (1956–1987) schufen die Biologin Rachel Carson und der Club of Rome oder auch der Frankfurter Zoodirektor Bernhard Grzimek ein neues Bewusstsein für ein fragiles globales Ökosystem und eine offenbar notwendige Abkehr von dominanten Produktions- und Konsumweisen von Fleisch. Ernährungsstile, die den Fleischverzicht zum zentralen und identitätsstiftenden Baustein erhoben, rückten seit den 1980er Jahren in die gesellschaftliche Mitte. Seit der Wende zum 21. Jahrhundert ist aus dem Trend zum Fleischverzicht eine scharfe Klage gegen die Fleischproduktion geworden. Die 2001 als Reaktion auf die BSE-Krise von der ersten rot-grünen Bundesregierung (1998–2005) ausgerufene Agrarwende hat diesen Trend verstärkt. In der Dritten Dekade des 21. Jahrhunderts ist Fleisch in weiten Teilen der (medialen) Öffentlichkeit und der Politik zum Skandalon geworden, während der Konsum global steigt und in Deutschland nur schwach auf gut 52 kg pro Kopf und Jahr gesunken ist. Galt Fleischkonsum über die gesamte Zivilisations­geschichte hinweg grundsätzlich als Ausdruck von Macht und Wohlstand oder Vitalität und Stärke, ist er seit der Wende zum 21. Jahrhundert zur Chiffre für Fehlernährung, Umweltzerstörung und Tierleid geworden. In globaler Perspektive ist klar, dass Tierhaltung in den gegenwärtigen quantitativen Dimensionen und in Anbetracht der Tatsache, dass die Zahl der auf der Erde lebenden und damit potenziell Fleisch konsumierenden Menschen von etwa drei Milliarden 1960 auf über acht Milliarden 2023 und wohl auf zehn Milliarden 2050 gewachsen ist bzw. wachsen wird, problematisch bis apokalyptisch ist. Flächenfraß, Landgrabbing, Wasserverbrauch, Emissionen und Artensterben sind real. Zwar sind etwa zwei Drittel der global landwirtschaftlich nutzbaren Fläche nur als Grasland verwertbar, nicht jedoch für weitere Ackerfrüchte, aber fast ein Drittel des gesamten Ackerlands dient weltweit dem Futtermittelanbau. Zudem werden der Viehhaltung bis zu 30 % des Biodiversitätsverlustes zugeschrieben. Insbesondere CO2, Methan, Lachgas, Ammoniak und Nitrate gelten als ökologische Belastungen. Aktuell werden nicht nur die Klimabilanz von Tierhaltung und Fleischproduktion kontrovers diskutiert, sondern auch die Tiere selbst und ihre artgerechte Haltung, jüngst auch die Berufsgruppe der Tiererzeuger. Die Politik sieht sich einem unauflösbaren Dilemma ausgesetzt, denn in der Öffentlichkeit fordern Verbraucher eine Abkehr vom Tier, während sie im Discounter massenhaft Billigfleisch kaufen. In Anbetracht dessen fühlen sich Landwirte von der Gesellschaft unverstanden, in politischen Grabenkämpfen aufgerieben, schon jetzt bürokratisch überfordert und mit Blick auf die europäische und auch die deutsche Agrarpolitik in ihrer Existenz vollends bedroht, während im Jahr 2023 Rekordgewinne erzielt wurden. 

Zukunft ohne Tiere?

Medial wird die Zukunft von Landwirtschaft und Tierhaltung vor allem in Deutschland moralisch-ethisch aufgeladen diskutiert. Mehr Tierwohl, weniger Fleischkonsum und mehr gesundheitliche wie auch ökologische Verantwortung und Vernunft scheinen alternativarm, zumal ernährungspolitische wie auch mediale Imperative zum Maßhalten die Debatte permanent befeuern. Nun bleibt ein Blick in die Zukunft vage, gerade aus der Perspektive der Wissenschaft, denn diese operiert auf der Basis von Daten – und aus der Zukunft liegen eben keine Daten vor. Gleichwohl sei an dieser Stelle eine Prognose gewagt. Auf der einen Seite haben die letzten drei bis fünf Jahrzehnte gezeigt, dass sich zumindest in Teilen der Gesellschaft eine Sensibilisierung für die Nebenfolgen dominanter Wirtschafts- und Konsumweisen ausprägt und allmählich verstetigt hat. Dies legt eine fortschreitende Ausdifferenzierung des Produktangebots analog zu bestimmten Ernährungsstilen und -trends nahe – vielleicht auch mit einer wachsenden Orientierung der konventionellen an biologisch-ökologischer Landwirtschaft. Ob im Zuge sich verstärkender Klimafolgen mittelfristig neben „Flugscham“ auch „Fleischscham“ populärer wird, ist zwar ungewiss, aber im Hinblick auf eine kulturhistorisch tiefgreifende Verwurzelung unserer Essgewohnheiten doch eher unwahrscheinlich. Immerhin künden Visionen wie „In-vitro-Fleisch“ und konkrete Angebote wie „beyond meat“ von einer Post-Fleisch-Ära. Noch sind solcherlei Produkte offenkundig tradierten Mustern verhaftet und adressieren unser Bedürfnis nach tierischer Kost. Sie schlagen aber vielleicht auch Brücken in eine Zeit, in der unsere Proteinversorgung ganz ohne Viehhaltung gedacht und realisiert wird. 

Angesichts wachsender Weltbevölkerung, sich verschärfender Ressourcenkonflikte und einer weltweiten Bedrohung durch klimabedingte Extremwetterereignisse dürften Fragen nach globaler wie lokaler Ernährungssicherheit zumindest weiter an Bedeutung gewinnen. Schon jetzt wird fieberhaft nach Antworten gesucht, etwa in Verbindung mit bioökonomischen Innovationen. Diese könnten vielleicht schon mittelfristig Problemlagen entspannen, etwa wenn Algen oder Insekten die Basis von Viehfutter bilden. Ein Blick in die Vergangenheit mit ihrem permanenten Mangel an Nahrung und der Hochschätzung tierischer Lebensmittel zeigt aber auch, dass sich aktuelle Debatten um Tierwohl oder Veganismus auch als Luxusphänomen lesen lassen, als Ausdruck einer vorübergehenden Phase von Wohlstand und Überfluss. Noch sind wir daran gewöhnt, dass Fleisch und andere Lebensmittel in großer Menge und hoher Qualität (fast) ständig verfügbar sind. Mit Blick auf die Geschichte des Menschen und seine Ernährung fallen die letzten 150 Jahre aber kaum ins Gewicht. 

Die Folgen des Klimawandels, die Fragilität des Friedens in der westlichen Welt, die Ausbreitung neuer Seuchen und drohende Antibiotikaresistenzen mahnen indes neue Phasen der Unsicherheit und des Mangels an. Verzicht hätte dann weniger mit Identität denn Verfügbarkeit zu tun. Die Chancen, dass der Konsum in Anbetracht sinkender Ressourcen, Klimaerwärmung und krisenhafter Entwicklungen kostenintensiver und damit weniger demokratisch wird, sind groß. Aber die Geschichte der Prognostik bleibt eben auch die Geschichte ihres Nichteintreffens. Die Zukunft der Erde könnte daher auch eine Geschichte eines neuen Verhältnisses zwischen Mensch, Tier und Umwelt sein. Gelingt es, die ozeanische Aquakultur von der terrestrischen Landwirtschaft zu emanzipieren? Werden wir im 22. Jahrhundert die Wiederkäuer der Meere entwickeln? Oder wird sich Fleisch, das im Bioreaktor gezüchtet ist – bislang nur in den USA und in Singapur zugelassen – in der EU durchsetzen und auch zu marktfähigen Preisen produziert werden? Wir wissen es nicht. Immerhin haben die Vereinten Nationen das Jahr 2024 zum „Jahr der Kamele“ erklärt: Die Tiere seien für Millionen Familien in mehr als 90 Ländern der Welt der Schlüssel, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Sie liefern Wolle und Milch, sind Last- und Tragetiere und ihr Dung ist wertvoller Dünger. Ohne Tier, glaube ich, werden wir es in Zukunft nicht schaffen, gut zu leben.


Literatur

FOCUS online 4.1.2024: https://www.focus.de/finanzen/news/wegen-mehrwertsteuer-doener-schock-droht-weniger-fleisch-bis-zu-10-euro_id_259545294.html [zuletzt aufgerufen am 4.1.2024].

Weiterführende Literatur

Grossarth, Jan (Hg.) 2019: Future Food – Die Zukunft der Welternährung. Darmstadt. 

Hirschfelder, Gunther u. a. (Hg.) 2024: „Fleischwissen“. Zur Verdinglichung des Lebendigen in globalisierten Märkten. Göttingen. 

Hirschfelder, Gunther (Hg.) 2022: Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral. Stuttgart. 

Joy, Melanie 2019: Why We Love Dogs, Eat Pigs and Wear Cows: An Introduction to Carnism. San Francisco.

Kassung, Christian 2020: Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung. Paderborn.
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